GELEBTE GNADE: Weiterführende Wege öffnen

Bildquelle: Fer­di­nand Lacour / pixelio.de

zu Lukas 1,5–25

Der von Man­fred Mar­quardt und Wal­ter Klaiber her­aus­gegebene Grun­driss ein­er The­olo­gie der EMK[1] trägt diesen Titel: Gelebte Gnade. Diese For­mulierung umschreibt in meinen Augen genau, was christlich­es Leben und Glauben prägt bzw. prä­gen sollte. Ein­er­seits leben wir aus der Gnade Gottes. Wir sind beg­nadigte Sün­der, die sich von Gott in Chris­tus bedin­gungs­los angenom­men wis­sen dür­fen. Ander­er­seits sind wir her­aus­ge­fordert, unseren Mit­men­schen mit genau der Gnade zu begeg­nen, die Gott uns gewährt.

The­ol­o­gisch kann man diese Zusam­men­hänge in wun­der­bare und erbauliche For­mulierun­gen giessen, denen alle gerne zus­tim­men. Schwieriger wird es in der Prax­is, wenn es gilt, sich in den Beziehun­gen zu den Mit­men­schen von der Gnade als höch­stem Wert leit­en zu lassen. Denn wir leben in ein­er Gesellschaft, die dem Wet­tbe­werb­s­gedanken huldigt und damit einen gnaden­losen zwis­chen­men­schlichen Umgang fördert. In unser­er Gesellschaft wird am meis­ten bewun­dert, wer sich durch­set­zen kann, not­falls auch auf Kosten ander­er. Im Reich Gottes aber gilt Durch­set­zungs­fähigkeit nichts, dafür die Fähigkeit zum Erbar­men, zur Barmherzigkeit, zur Grosszügigkeit umso mehr. Es ist wirk­lich ein Gege­nen­twurf zum gesellschaftlich üblichen, den wir als Nach­fol­ger und Nach­fol­gerin­nen Jesu zu leben aufge­fordert sind.

Ich denke in let­zter Zeit viel über solche Zusam­men­hänge nach und erlaube mir an dieser Stelle, einige mein­er Tage­buch­no­ti­zen aus den ver­gan­genen Wochen aufzulis­ten. Es sind wed­er abgeschlossene Gedankengänge noch fer­tig for­mulierte Lehrsätze. Son­dern es sind Fra­gen und Gedanken­split­ter, die zum Wei­t­er­denken, zur Ergänzung, vielle­icht auch zum Wider­spruch ein­laden wollen. Und sollte ich von diesem Wei­t­er­denken durch ein kurzes Feed­back (per Mail; mündlich …) etwas mit­bekom­men, wäre ich her­zlich dankbar dafür:

  • Als sich vor Wei­h­nacht­en 2016 in Berlin dieser Ter­ro­ran­schlag ereignete, las ich ger­ade vom ver­s­tummten Zacharias (Lk 1,5–25). Ich las die sich über­schla­gen­den Posts zum Geschehen in Berlin und dachte dabei: Vielle­icht wäre Ver­s­tum­men manch­mal gar keine Strafe, son­dern eine Gnade. Es braucht doch Zeit, bis sich der Staub wieder etwas gelegt hat, bis das ger­ade Geschehene erfasst und durch­dacht ist. In dieser Zeit nicht schon zu reden oder zu ‚posten‘, wäre eine Gnade und in vie­len Fällen für die Hör­er oder Leser von Unaus­ge­goren­em eine echte Wohltat.
  • In welch­er Hal­tung höre ich die christliche Verkündi­gung? Als Kri­tik­er oder als ein­er, der bere­it ist, sich hin­ter­fra­gen zu lassen? Lieber wäre einem ja die Bestä­ti­gung, dass man schon gut und richtig unter­wegs ist. Wenn einen etwas stört, ist es ein­fach­er, ungnädig über den Red­ner zu urteilen als sich auf vielle­icht nötige Verän­derun­gen einzu­lassen. – Wie leicht bew­erten und beurteilen wir doch andere ziem­lich unbarmherzig. Offen­bar neigen Men­schen dazu, die eigene Mei­n­ung als geset­zt und richtig, ihr wider­sprechende Hal­tun­gen aber als poten­ziell falsch anzuse­hen. Das fördert das Miteinan­der nicht ger­ade. Ich möchte ler­nen, nicht im Selb­stvertei­di­gungsmodus auf andere Men­schen zuzuge­hen, son­dern in der Hoff­nung und im Ver­trauen, dass die Begeg­nung mich weit­er­bringt, ger­ade auch dann, wenn sie mich verän­dert und nicht in Ruhe sein lässt, wie ich bish­er war.
  • Mich stört der gnaden­lose Kom­mu­nika­tion­sstil, der aus dem Bere­ich der Poli­tik mehr und mehr in alle Lebens­bere­iche über­schwappt. Statt den anderen zuzuhören, wird die eigene Posi­tion proklamiert und ver­fes­tigt. Man set­zt sich nicht mit Argu­menten auseinan­der, son­dern ver­legt sich auf Dif­famierun­gen und Unter­stel­lun­gen. Dro­hun­gen und Erpres­sun­gen sind in der Kom­mu­nika­tion salon­fähig gewor­den. In der Poli­tik dro­ht man von vorn­here­in mit Ini­tia­tiv­en und Ref­er­en­den, statt aufeinan­der zu hören, die Extrem­po­si­tio­nen aufeinan­der zu zu bewe­gen und eine für alle trag­bare Lösung zu find­en. Und ein allen­falls gefun­der Kom­pro­miss wird gle­ich wieder unter­höhlt, indem man die Dro­hung dann wahr macht. Auch ausser­halb der Poli­tik im engeren Sinn nimmt die Nei­gung zur Gesprächsver­weigerung zu. Viele arbeit­en lieber mit Dro­hun­gen von Aus­tritt oder Beitragskürzung. Der Wun­sch, den anderen zu besiegen ist oft stärk­er als die Bere­itschaft, miteinan­der eine Lösung zu erar­beit­en.– Ich mache mir manch­mal Sor­gen, dass dieses Gesprächsver­hal­ten auch in die Kirche über­schwap­pen kön­nte und frage mich dann: Wie sollen bei schwieri­gen und kom­plizierten Prob­le­men denn noch Fortschritte möglich sein, wenn wir nicht mehr die Gnade haben, einan­der zuzuhören, wenn wir nicht grund­sät­zlich bere­it sind, die eigene Hal­tung zu revidieren?
  • Gnade als höch­ster Wert set­zt so Vieles auss­er Kraft, was in der Leis­tungs­ge­sellschaft stillschweigend geglaubt und gelebt wird. Aber wäre nicht viel zu gewin­nen, wenn Barmherzigkeit wichtiger wäre als Recht haben, wenn man sich nicht für alles und jedes qual­i­fizieren müsste, son­dern grund­sät­zlich ein­fach mal dazu gehörte? – Ander­er­seits – das ist eine wichtige Anfrage an Gnade als höch­sten Wert – kann ja nicht das Ziel sein, dass gilt: Es ist alles ok und recht. Das wäre dann Beliebigkeit oder Gle­ichgültigkeit. – Wie motiviert man einan­der zu Wach­s­tum, zur Verän­derung, wenn Gnade der höch­ste Wert ist und jed­er davon aus­ge­hen kön­nen muss: Ich bin grund­sät­zlich angenom­men und gerecht­fer­tigt, so wie ich im Moment ger­ade bin?

Der einzige verbindende Ele­ment dieser Gedanken­split­ter ist wohl, dass immer wieder der Begriff der Gnade dazwis­chen funkt. In fast allen Zusam­men­hänge frage ich mich zur Zeit neu: Was bedeutet denn gelebte Gnade konkret? Und: Wie kön­nen und sollen wir anderen im Geiste Christi begeg­nen? – Eine grosse Her­aus­forderung bedeutet es immer wieder, seinem Beispiel nachzu­fol­gen. Immer­hin umarmte Jesus ‚Unberührbare‘, feierte Fest mit ‚Sün­dern‘, beg­nadigte Men­schen, die sich offen­sichtlich straf­bar gemacht hat­ten und wehrte sich nicht gegen unfaire Unter­stel­lun­gen und Anschuldigun­gen. – Gnade zu leben in der Nach­folge Jesu, das ist eine echte Chal­lenge. Gebe Gott uns immer wieder die nötige Kraft, Phan­tasie, Liebe und das Gelin­gen, gebe Gott uns immer wieder die Gnade dazu.

Fragen und Gedankenanstösse:

  • Zur per­sön­lichen Umset­zung: Wo müsste ich mit anderen genau­so gnädig sein wie ich es mir sel­ber gegenüber bin?
  • Zur Diskus­sion: Gnade ist aus mein­er Sicht der zen­trale christliche Wert, scheint in unser­er Gesellschaft aber ziem­lich welt­fremd. Den­noch: Wie kann, ja muss Gnade heute zur Gel­tung gebracht werden?

[1] Wal­ter Klaiber / Man­fred Mar­quardt, Gelebte Gnade – Grun­driss ein­er The­olo­gie der Evan­ge­lisch-methodis­tis­chen Kirche, Christlich­es Ver­lagshaus, Stuttgart, 1993

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert