zu Lukas 1,5–25
Der von Manfred Marquardt und Walter Klaiber herausgegebene Grundriss einer Theologie der EMK[1] trägt diesen Titel: Gelebte Gnade. Diese Formulierung umschreibt in meinen Augen genau, was christliches Leben und Glauben prägt bzw. prägen sollte. Einerseits leben wir aus der Gnade Gottes. Wir sind begnadigte Sünder, die sich von Gott in Christus bedingungslos angenommen wissen dürfen. Andererseits sind wir herausgefordert, unseren Mitmenschen mit genau der Gnade zu begegnen, die Gott uns gewährt.
Theologisch kann man diese Zusammenhänge in wunderbare und erbauliche Formulierungen giessen, denen alle gerne zustimmen. Schwieriger wird es in der Praxis, wenn es gilt, sich in den Beziehungen zu den Mitmenschen von der Gnade als höchstem Wert leiten zu lassen. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die dem Wettbewerbsgedanken huldigt und damit einen gnadenlosen zwischenmenschlichen Umgang fördert. In unserer Gesellschaft wird am meisten bewundert, wer sich durchsetzen kann, notfalls auch auf Kosten anderer. Im Reich Gottes aber gilt Durchsetzungsfähigkeit nichts, dafür die Fähigkeit zum Erbarmen, zur Barmherzigkeit, zur Grosszügigkeit umso mehr. Es ist wirklich ein Gegenentwurf zum gesellschaftlich üblichen, den wir als Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu zu leben aufgefordert sind.
Ich denke in letzter Zeit viel über solche Zusammenhänge nach und erlaube mir an dieser Stelle, einige meiner Tagebuchnotizen aus den vergangenen Wochen aufzulisten. Es sind weder abgeschlossene Gedankengänge noch fertig formulierte Lehrsätze. Sondern es sind Fragen und Gedankensplitter, die zum Weiterdenken, zur Ergänzung, vielleicht auch zum Widerspruch einladen wollen. Und sollte ich von diesem Weiterdenken durch ein kurzes Feedback (per Mail; mündlich …) etwas mitbekommen, wäre ich herzlich dankbar dafür:
- Als sich vor Weihnachten 2016 in Berlin dieser Terroranschlag ereignete, las ich gerade vom verstummten Zacharias (Lk 1,5–25). Ich las die sich überschlagenden Posts zum Geschehen in Berlin und dachte dabei: Vielleicht wäre Verstummen manchmal gar keine Strafe, sondern eine Gnade. Es braucht doch Zeit, bis sich der Staub wieder etwas gelegt hat, bis das gerade Geschehene erfasst und durchdacht ist. In dieser Zeit nicht schon zu reden oder zu ‚posten‘, wäre eine Gnade und in vielen Fällen für die Hörer oder Leser von Unausgegorenem eine echte Wohltat.
- In welcher Haltung höre ich die christliche Verkündigung? Als Kritiker oder als einer, der bereit ist, sich hinterfragen zu lassen? Lieber wäre einem ja die Bestätigung, dass man schon gut und richtig unterwegs ist. Wenn einen etwas stört, ist es einfacher, ungnädig über den Redner zu urteilen als sich auf vielleicht nötige Veränderungen einzulassen. – Wie leicht bewerten und beurteilen wir doch andere ziemlich unbarmherzig. Offenbar neigen Menschen dazu, die eigene Meinung als gesetzt und richtig, ihr widersprechende Haltungen aber als potenziell falsch anzusehen. Das fördert das Miteinander nicht gerade. Ich möchte lernen, nicht im Selbstverteidigungsmodus auf andere Menschen zuzugehen, sondern in der Hoffnung und im Vertrauen, dass die Begegnung mich weiterbringt, gerade auch dann, wenn sie mich verändert und nicht in Ruhe sein lässt, wie ich bisher war.
- Mich stört der gnadenlose Kommunikationsstil, der aus dem Bereich der Politik mehr und mehr in alle Lebensbereiche überschwappt. Statt den anderen zuzuhören, wird die eigene Position proklamiert und verfestigt. Man setzt sich nicht mit Argumenten auseinander, sondern verlegt sich auf Diffamierungen und Unterstellungen. Drohungen und Erpressungen sind in der Kommunikation salonfähig geworden. In der Politik droht man von vornherein mit Initiativen und Referenden, statt aufeinander zu hören, die Extrempositionen aufeinander zu zu bewegen und eine für alle tragbare Lösung zu finden. Und ein allenfalls gefunder Kompromiss wird gleich wieder unterhöhlt, indem man die Drohung dann wahr macht. Auch ausserhalb der Politik im engeren Sinn nimmt die Neigung zur Gesprächsverweigerung zu. Viele arbeiten lieber mit Drohungen von Austritt oder Beitragskürzung. Der Wunsch, den anderen zu besiegen ist oft stärker als die Bereitschaft, miteinander eine Lösung zu erarbeiten.– Ich mache mir manchmal Sorgen, dass dieses Gesprächsverhalten auch in die Kirche überschwappen könnte und frage mich dann: Wie sollen bei schwierigen und komplizierten Problemen denn noch Fortschritte möglich sein, wenn wir nicht mehr die Gnade haben, einander zuzuhören, wenn wir nicht grundsätzlich bereit sind, die eigene Haltung zu revidieren?
- Gnade als höchster Wert setzt so Vieles ausser Kraft, was in der Leistungsgesellschaft stillschweigend geglaubt und gelebt wird. Aber wäre nicht viel zu gewinnen, wenn Barmherzigkeit wichtiger wäre als Recht haben, wenn man sich nicht für alles und jedes qualifizieren müsste, sondern grundsätzlich einfach mal dazu gehörte? – Andererseits – das ist eine wichtige Anfrage an Gnade als höchsten Wert – kann ja nicht das Ziel sein, dass gilt: Es ist alles ok und recht. Das wäre dann Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit. – Wie motiviert man einander zu Wachstum, zur Veränderung, wenn Gnade der höchste Wert ist und jeder davon ausgehen können muss: Ich bin grundsätzlich angenommen und gerechtfertigt, so wie ich im Moment gerade bin?
Der einzige verbindende Element dieser Gedankensplitter ist wohl, dass immer wieder der Begriff der Gnade dazwischen funkt. In fast allen Zusammenhänge frage ich mich zur Zeit neu: Was bedeutet denn gelebte Gnade konkret? Und: Wie können und sollen wir anderen im Geiste Christi begegnen? – Eine grosse Herausforderung bedeutet es immer wieder, seinem Beispiel nachzufolgen. Immerhin umarmte Jesus ‚Unberührbare‘, feierte Fest mit ‚Sündern‘, begnadigte Menschen, die sich offensichtlich strafbar gemacht hatten und wehrte sich nicht gegen unfaire Unterstellungen und Anschuldigungen. – Gnade zu leben in der Nachfolge Jesu, das ist eine echte Challenge. Gebe Gott uns immer wieder die nötige Kraft, Phantasie, Liebe und das Gelingen, gebe Gott uns immer wieder die Gnade dazu.
Fragen und Gedankenanstösse:
- Zur persönlichen Umsetzung: Wo müsste ich mit anderen genauso gnädig sein wie ich es mir selber gegenüber bin?
- Zur Diskussion: Gnade ist aus meiner Sicht der zentrale christliche Wert, scheint in unserer Gesellschaft aber ziemlich weltfremd. Dennoch: Wie kann, ja muss Gnade heute zur Geltung gebracht werden?
[1] Walter Klaiber / Manfred Marquardt, Gelebte Gnade – Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Christliches Verlagshaus, Stuttgart, 1993