Coole Leute sind kontaktfreudig. Dank den sozialen Medien ist es heute möglich, mit viel mehr Leuten zugleich Beziehungen zu pflegen. Allerdings bewegt man sich dabei oft vor allem unter Seinesgleichen und damit in einer individuell abgestimmten Blase.
Hunderte oder gar tausende digitaler Freunde mögen Menschen unserer Zeit beeindrucken. Jesus dagegen würde solche Coolness wohl eher kri-tisch hinterfragen: “Was ist denn schon Besonderes daran, wenn ihr nur zu euresgleichen freundlich seid?” (Mt 5,47). Vor allem, wenn die Schar der digitalen Freunde mit Berührungsängsten in analogen Begegnungen einhergeht. Vielleicht meine ich ja nur, gerade keine Zeit zu haben. Vielleicht fürchte ich aber auch, in Probleme hineingezogen zu werden oder ich scheue die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, anderen Kulturen. Jedenfalls entwickle ich im Alltag bisweilen Berührungsängste, die mich Begegnungen vermeiden und viel verpassen lassen.
Jesus war da offensichtlich ganz anders. Er wich keinem aus, der ihm über den Weg lief. Wo gerade strenggläubige Leute lieber auf Distanz blieben aus Sorge, von einer Krankheit, von einer bösen Gesinnung oder von der Sünde angesteckt zu werden, da ging Jesus mit offenen Armen auf Menschen zu. Beim Zöllner Zachäus, der für seine Einsamkeit sicher mitverantwortlich war, lud er sich gleich selber ein und genoss die Gemeinschaft mit einem, den alle anderen mieden wie die Pest (vgl. Lk 19,1–10). Frauen mit zweifelhaftem Ruf behandelte er respektvoll und durchbrach ihre Ächtung durch die Gesellschaft (vgl. Lk 7,36–50). Vor Menschen, die von allen guten Geistern verlassen war, schreckte Jesus nicht zurück, nicht einmal, wenn sie zu gefährlichen Gewaltausbrüchen neigten (vgl. Mk 5,1–20). Nicht einmal von Aussätzigen, die damals aus gesundheitspolitischen Gründen dazu verurteilt waren, alle anderen von sich scheuchen, liess sich Jesus nicht auf Distanz halten. Sondern er umarmte sie (vgl. Markus 1,40–45).
Die Aussätzigen waren die Unberührbaren der damaligen Zeit. Mit ihnen durfte man eigentlich um des Selbstschutzes willen nichts zu tun haben. Doch Jesus setzte sich darüber hinweg. Er sah in ihnen die nach Nähe, nach Liebe, nach Gemeinschaft sich verzehrenden Menschen und gab ihnen, was sie mehr als alles andere brauchten.
Markus 1,40–45 schildert die Heilung eines Aussätzigen durch Jesus. Beim Lesen fällt mir im Kommentar von Bischof i.R. Walter Klaiber[1] zu Vers 41 zweierlei auf:
- Mk beschreibt Jesu Reaktion mit starken Worten. Eigentlich wäre angemessen zu formulieren: „Als Jesus den Aussätzigen sah, drehte sich im das Herz im Leibe um.“ – Ein Schlüssel zur gelebten Gnade Jesu war seine tief im Herzen verwurzelte Fähigkeit zum Erbarmen (wir würden heute vielleicht von ‚Empathie‘ reden). Er war fähig, in seinem Gegenüber zuerst und vor allem den nach Begegnung, Beziehung, nach Umarmung hungernden Mitmenschen zu sehen.
- Zur Berührung schreibt Klaiber: „Dem Ausgegrenzten streckt sich die Hand der Gemeinschaft entgegen, der Unberührbare wird von Jesus berührt. Nicht der Aussatz macht unrein, sondern Gottes heilige Gegenwart in Jesu Berührung macht rein … Jesus vollzieht stellvertretend Gottes Willen, dass Ausgestossene aufgenommen und Aussätzige rein werden.“ – Mich fasziniert, wie Jesus hier das aus menschlicher Sicht Normale auf den Kopf stellt. Statt sich vor Ansteckung durch etwas Negatives zu fürchten vertraut er darauf, dass die Gnade Gottes, die in ihm lebt, den Kranken ‚ansteckt‘ und heilt.
Wer immer die ‚Unberührbaren‘ unserer Zeit sein mögen, wir haben wohl nicht ständig mit ihnen zu tun. Aber es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn es uns gelänge, unseren Nächsten – das sind immer die Menschen, mit denen wir gerade zu tun haben – nach Jesu Vorbild zu begegnen. Das heisst, in ihnen zuerst und vor allem den Menschen zu sehen, der sich nach echter Beziehung, nach Respekt, nach Vertrauen, nach Angenommensein sehnt. Wir können Mitmenschen ohne Berührungsangst begegnen, im Vertrauen darauf, dass das grosse Herz Gottes, das dank Christus in uns lebt, ansteckend und heilsam wirkt. Dazu ermuntert uns Jesu Vorbild. Und ja, natürlich gilt das erst recht dann, wenn dieser Nächste gerade ein angeblich ‚Unberührbarer‘ sein sollte. Dazu sind wir eingeladen und herausgefordert, wenn wir die Gnade, von der wir selber leben, nach Jesu Vorbild für andere erlebbar machen wollen.
Fragen und Gedankenanstösse:
- Zur persönlichen Umsetzung: Wen sollte ich heute — tatsächlich oder im übertragenen Sinn — umarmen?
- Zur Diskussion: Ausgrenzung kann nie christlich sein. Wer sich an Jesus orientiert, muss lernen, ‘Unberührbare’ zu umarmen (vgl. dazu das Buch von Miroslav Volf, von der Ausgrenzung zur Umarmung — Versöhnung als Ausdruck christlicher Identität).
[1] Walter Klaiber, das Markusevangelium, Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn, 2010 (Reihe: Die Botschaft des Neuen Testaments), S.53