zu Hes 36,26 (Jahreslosung 2017), 1. Korinther 16,22, Offb 22,20
Advent (Ankunft von lat. ‘adventus’; gemeint ist die Ankunft Gottes) ist die Zeit des Wartens. Wir warten darauf, dass Gottes Wirklichkeit in unsere Welt einbricht, dass seine Versprechen aus der Bibel Wirklichkeit werden. Wirklich? Oder würde uns womöglich stören, wenn unsere vorweihnachtliche Geschäftigkeit, unsere geliebten Traditionen und Gewohnheiten, unser Festmenu etc. von Gott durchkreuzt würden?
Maranatha — komme bald?
In den allerersten Jahren war das in den christlichen Gemeinden häufig verwendeter Gebetsruf: «Komme bald, Herr Jesus!» Das neue Testament überliefert sogar das aramäische Wort dafür: «Maranatha!» Die Christen damals empfanden sich als Fremdkörper in ihrer Umgebung und sehnten sich danach, dass Christus bald kommen und diese böse Welt neu und gut machen werde.
Ein solches Kommen Christi lässt aber noch heute auf sich warten. Und die meisten Christen haben sich unterdessen sehr gut in dieser Welt eingerichtet. Der Gebetsruf «Maranatha!» ist längst aus der Mode gekommen. Wir warten nicht mehr so bewusst auf Gottes Kommen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Wiederkunft Christi in unserem Weltbild schwer vorstellbar geworden ist. Sie würde uns wohl auch stören. Wir lassen uns ja nicht so gerne dreinreden — ich jedenfalls nicht. Und darauf liefe es doch hinaus, wenn Gott kommen und alles neu machen würde. Vieles würde auf den Kopf gestellt, unsere Pläne durchkreuzt und nichts wäre mehr, wie es war. Konkret im Blick auf das Weihnachtsfest könnte das bedeuten: Statt mich in den trauten Familienkreis zurückzuziehen, sähe ich mich gezwungen, Menschen ohne Familienanschluss aufzusuchen. Vielleicht müsste ich auf eigene Wunschlisten verzichten und mehr für die Erfüllung der Bedürfnisse notleidender Menschen tun.
Sehnsucht nach einer heilen Welt
Es würde mich einiges kosten, wenn Gott käme und seinen Vorstellungen menschlichen Zusammenlebens nachdrücklich Geltung verschaffen würde. Andererseits könnte ja tatsächlich Vieles besser werden. Danach sehne ich mich sehr wohl. Die Worte der Jahreslosung 2017 aus Hesekiel 36,26 haben mir das neu bewusst gemacht: «Gott spricht: Ich schenke euch ein neus Herz und lege einen neuen Geist in euch.»
Wie willkommen und hilfreich wäre das doch, quasi als Weihnachtsgeschenk: Menschen mit erneuerten Herzen, ein neuer Geist, uns prägt. Das täte der Gesellschaft als Ganzes gut, aber auch den Kirchen, und jeder einzelnen Person! So, wie es jetzt ist, scheint doch Vieles nicht optimal zu laufen: Die Gesprächskultur kommt massiv unter die Räder in unserer Gesellschaft. Statt einander zuzuhören, aneinander Anteil zu nehmen und miteinander Lösungen zu suchen, betreiben wir einen Wettbewerb um die lautesten und schrillsten Töne: Lieber die eigene Meinung verteidigen als einen Schritt auf Andersdenkende zugehen; lieber vermeintlich Recht behalten als vom hohen Ross heruntersteigen; lieber andere anprangern als zugeben, dass man selbst manchmal falsch liegt. Läuft nicht etwas grundsätzlich schief in einer Gesellschaft, in der
- ‘Gutmensch’ zu einem Schimpfwort wird?
- Durchsetzungsvermögen stärker gewichtet wird als Teamgeist?
- die Fähigkeit zum Mitgefühl leicht als Charakterschwäche ausgelegt wird?
- die Bereitschaft zum Teilen oft dem Gewinnstreben geopfert wird?
Jedenfalls führt mir Hesekiel 36,26 vor Augen, dass ich sehr wohl auf Gottes Kommen bzw. auf die Verwirklichung seiner Versprechen warte. Wie willkommen wäre diese grundlegende Veränderung im menschlichen Miteinander. In dieser Hinsicht kann ich durchaus beten: «Maranatha, komme bald, Herr Jesus!», ja vielleicht sogar ungeduldig rufen: «Söll emol cho!»
Adventliches Warten heisst: selbst aktiv werden
Im Warten auf die Verwirklichung der Versprechen Gottes kann ich auch darum beten, z.B. mit den Worten aus Psalm 51,12: «Gott, schaffe mich neu: Gib mir ein Herz, das dir völlig gehört, und einen Geist, der beständig zu dir hält.» Das heisst: «Gott, fang doch bei mir an mit der Verwirklichung dessen, was du versprochen hast.» Und je länger ich so bete, desto deutlicher merke ich: Es wäre grundfalsch, passiv darauf zu warten, dass Gott endlich in Aktion tritt und höchstens genervt zu rufen: «Söll emol cho!»
Im Gegenteil: Ich kann und soll selbst aktiv werden, mit einem von Gottes Liebe berührten Herz auf Mitmenschen zu gehen und in seinem Sinn und Geist mich für eine Verbesserung des menschlichen Miteinanders engagieren. Gerade so wird erlebbare Wirklichkeit, was Jesus so versprochen hat: «Was ihr einem von diesen meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan» (vgl. Mt 25,40). Das heisst nichts anderes als: Gerade wo ich mich für Mitmenschen einsetze, kann ich dem Christus begegnen, auf den ich warte. Gerade im Engagement für ein gutes Miteinander findet das Warten ein Ende.
Fragen und Gedankenanstösse:
- Zur persönlichen Umsetzung: In welchen Zusammenhängen spüre ich Sehnsucht nach dem Kommen Gottes bzw. Christi? In welchem Menschen wird mir Christus wohl heute begegnen? — Und: Was kann ich heute dazu beitragen, dass Gott ein wenig näher kommt?
- Zur Diskussion: Die biblische Vorstellung von Christi Wiederkunft scheint schwer vereinbar mit dem, was wir heute über Welt und Universum wissen. Wie soll man sich Gottes Kommen heute vorstellen?
” ….. einen Schritt auf Andersdenkende zugehen … ” Auf welche Andersdenkenden? Müssen sie und ich nicht ein gemeinsames Fundament haben? Ich meine ganz konkret, Andersdenkende und ich müssen uns darüber einig sein, dass Menschenrechte, Grundrechte, Rechtsicherheit zu respektieren sind und jede Person, d.h. auch der Andersdenkende, darauf Anspruch hat, ungeachtet der Nationalität, Religionszugehörigkeit etc. Zu den Menschenrechten gehört unter anderem die Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Auf einen Angehörigen der Da’ash (ISIS) werde ich niemals einen Schritt zugehen, ebenso wie ich niemals auf ein Regierungsmitglied des kommunistischen, chinesischen Festlands zugehen würde, das gilt für alle totalitären und Unrechtsregimes, angefangen vom kommunistischen China bis hin zum “sozialistischen” Venezuela.
Die historische Erfahrung zeigt uns, dass wir hin und wieder genötigt sind, unsere Werte selbst mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Wo wäre Finnland geblieben, wenn seine Bürger sich nicht bis zum letzten gegen den Angriff der Sowjetunion verteidigt hätten? Entweder wäre Finnland zu einem Ostblockstaat geworden oder von Stalin okkupiert worden und zu einem Teil der Sowjetunion gemacht worden.
Gewaltloser Widerstand funktioniert nur, wenn der Gegner ebenfalls gewisse Grundwerte respektiert. Andernfalls werden die gewaltlos agierenden Widerstehenden vernichtet, wie die Studenten und Bürgerrechtler auf dem Tienanmen-Platz. Auch in Venezuela haben letztlich die Machthaber die Oberhand behalten.
Liebe Barbara, da hast Du ja einen alten Beitrag gefunden. Ich musste ihn erst wieder lesen, um meine Erinnerung aufzufrischen .…
Ich kann Deine Einwände nachvollziehen. Bei den von dir genannten Beispielen würde ich wohl auch eher mich in Sicherheit bringen … Beim ‘Schritte auf Andersdenkende zumachen’ habe ich beim Schreiben allerdings wohl an im Alltag näher liegende Beispiele gedacht, an Christen mit einem anderen Frömmigkeitsstil zum Beispiel oder an demokratisch gesinnte Menschen mit anderen politischen Präferenzen als der meinen.
Was das Verteidigen der Freiheit mit Waffen betrifft: Das Dilemma kann ich nicht auflösen. Jesus mutet uns in der Bergpredigt nicht weniger als totale Gewaltlosigkeit zu. Er selbst hat Gewalt überwunden, indem er sie erlitt und uns in seine Nachfolge gerufen. — Gemäss der Zwei-Reiche-Lehre gilt das nicht für den Bereich der Politik, aber ich habe Zweifel, ob man es sich damit nicht zu einfach macht.