
von Pfr. Christoph Schluep, Regenbogenkirche EMK Zürich 2
Bibeltext: Markus-Evangelium, Kapitel 2
Gehen wir zum zweiten Kapitel des Markusevangeliums. Nach den Anfän-gen am Jordan (Taufe) und den ersten Wundern und Predigten in Galiläa weitet sich die Bewegung Jesu aus. Er erreicht immer mehr Leute, vor allem als Wundertäter, aber auch als Prediger. Und nicht zuletzt durch die Art, wie er lebt. Ich habe vom dynamischen Charakter des Reiches Gottes erzählt und wie es in der Bewegung, die Jesus auslöst, seine praktische Ausgestal-tung findet. Auch das zweite Kapitel ist von dieser Dynamik geprägt, nun aber in sozialer Hinsicht. In 2,13ff wird die Berufung des Zöllners Levi be-schrieben:
2,13: Jesus … ging den See entlang, und alles Volk kam zu ihm, und er lehrte sie. 14 Und im Vorübergehen sah er Levi, den Sohn des Alfäus, am Zoll sitzen. Und er sagt zu ihm: Folge mir! Und der stand auf und folgte ihm. 15 Und es geschieht, dass er in dessen Haus bei Tisch sitzt. Und viele Zöllner und Sünder sassen mit Jesus und seinen Jüngern bei Tisch. Es waren nämlich viele, und sie folgten ihm. 16 Und als die Schriftgelehrten unter den Pharisäern sahen, dass er mit den Sün-dern und Zöllnern ass, sagten sie zu seinen Jüngern: Mit den Zöllnern und Sün-dern isst er! 17 Und als Jesus das hört, sagt er zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Zöllner galten als Sünder, weil sie mit den römischen Herren kollaborierten. Zolleinnahmen vor Brücken oder Stadtmauern waren das Äquivalent der Mehrwertsteuer von heute und bescherten dem Staat einen Anteil an allem Handel. Es ist nicht so, dass in Zeiten der jüdischen Selbstverwaltung keine solchen Steuern eingetrieben worden wären, aber jetzt fliessen sie fast voll-ständig in die Kassen der Besatzer, und das macht alle, die sich daran betei-ligen, zu Volksverrätern. Dazu kommt, dass Zöllner ihre Stationen für einen fixen Jahresbetrag pachten. Da sie nie wissen, wie das Zolljahr ausfällt, sind sie bemüht, von Anfang des Jahres an genug zu einzuziehen für den Fall, dass die zweite Jahreshälfte schlechter ausfällt und sie ins Minus rutschen. Entsprechend verlangen sie gerne mehr als nötig, um sich abzusichern — und sich zu bereichern. Systematische Not und persönliche Gier fallen zu-sammen, entsprechen werden diese Beamten geächtet.
Ausgerechnet einen Zöllner beruft Jesus in seine Reihen: Levi (bei Matthäus heisst er Matthäus, und darum heisst wohl auch das Evangelium so). Jesus scheint ihn gar nicht zu kennen, sondern sieht ihn beim Durchmarsch und nimmt ihn als Jünger auf. Entsprechend kommt er in Kontakt mit dessen Freundeskreis, und das sind, logischerweise, lauter Zöllner. Sie sind in der Regel zwar nicht arm, aber isoliert, sie haben niemanden mehr ausser sich selbst, das typische Schicksal einer korrupten Pseudoelite. Aber es sind noch immer Juden, und es sind noch immer Menschen. Jesus durchbricht diese Isolation ganz bewusst und lässt sich nicht von den üblichen Urteilen und Vorurteilen leiten. Er weiss sich gesandt zu denen, deren Gemeinschaft sonst keiner geschenkt haben möchte. Und dies nicht, weil sie extrem Arme sind oder die Randständigen der Zeit. Sie sind weder das eine noch das an-dere. Sie sind vom Ganzen des Volkes abgeschlossen, gelten als moralisch anrüchig und haben kaum eine Chance, sich wieder einzugliedern.
Das Reich Gottes aber ist für alle Menschen da, die sich auf seinen König einlassen. Es sprengt Barrieren und überwindet Urteile, die seit Genera-tionen bestehen. Die Pharisäer, das sind etwa die Ultrafrommen und Fun-damentalisten der Zeit, grenzen sich von solchen Gestalten ab, weil sie sie für moralisch nicht integer halten (was tatsächlich zutreffen mag) und vor allem für kultisch unrein. Unreinheit ist ansteckend, darum kein Kontakt. Für Jesus aber ist die Freude ansteckend und die innere Reinheit und die Heiligkeit. Heilig ist, wer sich von Gottes Dynamik bewegen lässt, und nicht, wer alle Gebote perfekt erfüllt hat. Jesus definiert ganz neu, was rein ist und unrein, und ebenso das, was ansteckend ist.
Beides ist typisch für die Dynamik des Reiches Gottes: Die Bewegung hin zum Rand der Gesellschaft, und das selbst dann, wenn es moralisch in der Tat anrüchig ist. Eine Bewegung, die andere in Bewegung versetzt, hinaus aus der Isolation. Und die Neudefinition, was und wer recht ist für Gott. Gott sitzt nicht mehr im Tempel in Jerusalem und wartet, bis der Mensch sich mit vorschriftsgemässen Opfern entsühnt. Gott läuft dem See entlang und fordert gerade die auf, die nie zum Tempel gehen würden, sich von seiner Dynamik anstecken zu lassen. Das führt zum Widerspruch derer, die sich erhaben wissen und die situiert sind. Aber wie immer in solchen Situationen ist die Zeit der Situierten abgelaufen: Wer sich jetzt nicht zum Besseren be-wegen lässt, bleibt der Ewig-Gestrige. Nicht mehr die Überzeugten haben Recht, sondern die, die sich neu überzeugen lassen, nicht mehr die Mäch-tigen, die sich an ihre Macht klammern, sondern die Ohnmächtigen, die der Macht der neuen Königsherrschaft vertrauen. Nicht mehr die Kranken sind krank, sondern die Gesunden, die ihre innere Fäulnis nicht wahrhaben wol-len.
In einer Zeit der Krise, in der allen klar ist, wer krank ist und wer gesund, gilt es, den Blick wach zu behalten für das, was in Gottes Reich gilt. Ist es krank, nicht mehr weiter zu wissen, von anderen abhängig zu sein, immer mal wieder an sein Ende zu kommen? Ist es krank, nicht alleine für sein Leben sorgen und keine letzte Verantwortung wahrnehmen zu können? Ist wirklich gesund, wer behauptet, für alles eine Lösung zu wissen, unabhän-gig und autonom sein Leben zu gestalten, Krisen nicht als solche, sondern als Herausforderungen zu verstehen und letztlich der Meinung zu sein, alles und immer selbst zu entscheiden? Können wir — würde uns Jesus fragen — unserem Leben auch nur einen einzigen Tag hinzufügen? Ist es nicht eine Illusion, wenn wir uns für unentbehrlich, autark und autonom, unabhängig und selbständig halten? Ist es nicht geradezu lächerlich, wenn wir auf all das schauen, wofür wir meinen, Verantwortung tragen zu können?
Ein kleiner, äusserst primitiver Virus zeigt uns, wie eingebunden wir sind, fragil und unfähig, uns schnell und effektiv zu wehren. Wie wenig es braucht, bis völlig überdotierte Dow-Jones-Kurse in sich zusammenbre-chen, Lieferketten zerfallen und Optionen für das immer noch Billigere in sich zusammenstürzen. Wer ist wirklich gesund? Was ist wirklich krank? Die Coronakrise wirft ein sehr kritisches Licht auf unsere Lebensweise. Vielleicht fällt es uns jetzt leichter, zu verstehen, was Jesus meint, wenn er sagt, dass er zum Kranken und Sündigen gesandt ist.
Das wären dann nämlich wir.