Bibeltext: Matthäus 6,9–13
Ja, ich weiss: Über vorformulierte Gebete kann man streiten. Viele mögen es, sich die Worte anderer leihen, ja sich in sie hineinlegen zu können. Das hilft, wenn eigene Formulierungen nicht zu finden sind, vielleicht sogar, weil es einem im Moment schlicht die Sprache verschlagen hat. Andere bemängeln die fehlende Spontaneität beim Beten fester Formulierungen. Sie empfinden es als unecht, im Gebet anderen nachzuplappern. Ausserdem kennen alle die Schwierigkeiten, beim Rezitieren auswendig gelernter Gebete mit den Gedanken ganz bei der Sache zu bleiben. Ganz besonders treten diese beim Unservater auf, dem zweifellos am häufigsten gesprochenen christlichen Gebet.
Ich mag spontanes nicht gegen ‘liturgisches’ (wenn man es denn so nennen will) Beten ausspielen. Beides hat seine Berechtigung. Ja, beide Formen ergänzen sich sogar sehr gut. — Das Unservater ist mir im Lauf der Zeit immer wichtiger geworden. Ich möchte meine persönlichen Zugänge dazu aufzeigen. Es sind deren drei.
1. Ich erinnere mich, dass mein Grossvater das Unservater regelmässig nach dem Frühstück gebetet hat. Er war eigentlich kein emotionaler Typ. Gerade im Gottesdienst liebte er es, wenn es geordnet und sachlich zu und her ging. Aber wenn er zu Hause am Frühstückstisch das Unservater betete, klang seine Stimme in meinen Ohren ehrfürchtig, intensiv, ja inbrünstig. Mir hat sich dadurch früh eingeprägt, dass das Unservater etwas ganz Besonderes und ein grosses Geschenk sein müsse.
2. Als Theologiestudent lernte ich, dass im Unservater eigentlich alles enthalten ist, was einem Menschen im Gebet wichtig sein kann: Gott wird als liebender Vater angesprochen. Die Sehnsucht nach umfassendem Frieden kommt zum Ausdruck. Aber auch die Sorgen um das tägliche Leben und Überleben kann ich bei Gott deponieren. Die Überwindung der Schuld und Heilung zwischenmenschlicher Beziehungen wird erbeten. Ich stelle mich der Verantwortung, selbst meinen Teil dazu beizutragen. Und nach der Bitte um Erlösung mündet das Gebet in das Lob, die Verherrlichung Gottes. — Alles ist drin. Das Unservater ist tatsächlich ein Gefäss, in das ich alle meine Anliegen, Fragen und Sorgen legen und sie vor Gott bringen kann.
3. Das Unservater verbindet alle Christen. Die Unterschiede in Sachen Gottesdienstgestaltung, Frömmigkeitsstil und Lehrmeinung mögen noch so gross sein. Quer durch alle Konfessionen, Denominationen und Kulturen beten Christen immer wieder das Unservater und zeigen so ihre Verbundenheit miteinander. Das ist mir ganz wichtig. — Im auch als Weltgebetstagslied bekannten Abendlied von John F.Ellerton (Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen; Nr. 640 im EMK-Gesangbuch) heisst die dritte Strophe: “Denn unermüdlich, wie der Schimmer des Morgens um die Erde geht, ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das vor dir steht.” Wenn ich das singe, kommt mir meistens das Unservater in den Sinn.
Ich finde den Gedanken — gerade jetzt während dieser Corona-Pandemie — sehr tröstlich, dass es ein weltumspannendes Gebet gibt, mit dem buchstäblich jede Sekunde irgendwo auf der Welt jemand Gott in den Ohren liegt.
Der us-amerikanische Komponist Christopher Tin komponierte 2005 das Lied ‘Baba Yetu’ (ursprünglich als Titelsong für ein Computerspiel; das Lied gewann 2011 einen Grammy Award). Es ist eine Vertonung des Unservatertextes in der afrikanischen Sprache Swahili. Für mich ist das Lied ein schöner Ausdruck des weltumspannenden und kulturübergreifenden Charakter des Unservaters. Darum an dieser Stelle noch zwei Links zu, wie ich finde, tollen Versionen dieses Liedes auf YouTube:
- Ein Auftritt des Universitätschores der südafrikanischen Stellenbosch University; er gilt als einer der weltbesten Chöre.
- Musikvideo, das der amerikanische Sänger Alex Boyé zusammen mit dem Männer-Chor des Colleges Brigham Young University produziert hat
Lieber Daniel,
Dein Beitrag hat in mir eine Erinnerung hervorgerufen, die ich gerne mit euch allen teilen möchte! Lucian unser jüngster Sohn ging in eine heilpädagogische Schule. Eines Tages sollte er für ein Theaterstück 2 Sätze auswendig lernen. Eine Herkulesaufgabe für ihn, er schaffte es nicht und war verzweifelt! Der Lehrer besorgte ihm dann eine Statistenrolle. Am folgenden Sonntag gingen wir zusammen als Familie in den GD nach Wollishofen. Der damalige Pfarrer predigte und am Schluss setzte er zum Unservater an. Er kam nicht weit und verstummte plötzlich! Lucian sprach ganz, ganz laut und inbrünstig das Unservater und zwar in einem Tempo, das jedem Schnellzug Konkurrenz macht .Die “alten” Menschen entfernten ihre Hörgeräte!! (die laute Stimme hat er leider von mir geerbt)
Uwe, Stephan und ich sassen wie auf glühenden Kohlen und dachten, was kommt jetzt? Eine Rüge? Ein Verweis?? Nein der Pfarrer hat gelacht und die Leute haben geklatscht und zu Lucian gesagt, du wirst sicher einmal Pfarrer. Lucian hat sich so gefreut und war so stolz. Tags darauf hat mir sein Lehrer telefoniert und erzählt, Lucian habe ihm ganz stolz das gesamte Unservater aufgesagt und gesagt, sehen Sie ich kann doch etwas auswendig aufsagen. Was Kirche alles bewegen kann, wenn wir es zulassen!
Sehr dankbar bin ich auch meinem verstorbenen Mann Uwe, der täglich auch mit Inbrunst mit uns das Unservater gebetet hat. Es hat bei mir und unseren Söhnen Spuren hinterlassen!
Silvia Meyer
Vielen Dank für diese Gedanken zum UNSER VATER Gebet. Sie bereichern mich, denn wir denken im Hauskreis auch gerade über dieses Gebet nach, entdecken Neues und besprechen, was uns Mühe bereitet.
Die Musik vermag es, in mir noch weitere Emotionen zum Schwingen zu bringen. Vielen Dank für die Links zu den wunderbaren Aufnahmen des BABA YETU.
Für alle, die sich auch durch Musik angesprochen fühlen, hier ein Link zum “Unser Vater” mit Andrea Bocelli: https://gloria.tv/post/e43KLmR1DsMm1DCTibL3zfaeF