Bibeltexte: Johannes 13,26–31, Markus 14,26–31; Markus 14,66–72
Von Jesu Jüngern macht in der Passionsgeschichte keiner eine gute Figur. Elf von ihnen werden später dennoch zu Aposteln, einer (Petrus) sogar zum ‘Fels’. Judas aber wird als Verräter abgestempelt und erlebt Ostern schon gar nicht mehr. — Ich habe das immer als ein wenig unfair empfunden. War die Verleugnung durch Petrus wirklich so viel weniger schlimm als der Verrat des Judas?
In der Passionsgeschichte spiegelt sich Etliches meines eigenen Lebens und Verhaltens. Wenn ich ehrlich bin, entdecke ich nicht nur Petrus-Anteile in mir, sondern auch solche von Judas. — Beides ist gelinde gesagt nicht gerade erfreulich.
Nehmen wir zuerst Judas: Er hatte sich in Jesu engsten Jüngerkreis. Überzeugt, den Richtigen gefunden zu haben, engagierte er sich beherzt für das Reich Gottes. Er liebte Jesus genauso wie die anderen Elf. — Was war passiert, dass er Jesus an diesem Abend im Garten Gethsemane an seine Häscher auslieferte?
Die Evangelien erklären Judas‘ Verhalten als Verführung durch den Satan (so z.B. Jh 13,2). — Natürlich. Aus frommer Sicht ist das im ersten Moment logisch. Aber es bedeutet auch eine eine Dämonisierung des Judas. Und die ist nicht nur lieblos. Sie hilft vor allem nicht weiter, wenn ich vermeiden will, selbst in die gleiche Falle zu tappen.
Darum: Was könnten rationale Gründe für Judas‘ Verhalten gewesen sein? — Blosse Geldgier halte ich für unwahrscheinlich. Wäre Judas auf Geld aus gewesen, hätte er Jesus lange vor der Passionswoche wieder verlassen. Eher standen am Anfang enttäuschte Träume. Judas realisierte, dass Jesus das Reich Gottes nicht so durchsetzen würde, wie er es hoffte. Jesus verweigerte sich der Idee, die politischen Verhältnisse in Jerusalem auf den Kopf zu stellen und als neuer König David Israel zu alter Grösse zu führen. Das aber musste der Messias doch. Davon war Judas überzeugt. Er war ja vor der Begegnung mit Jesus ein Anhänger der Zeloten gewesen, einer rebellischen Gruppe im Untergrund. Sie verfolgten genau dieses politische Ziel. Jesus aber wollte dies nicht. Machtpolitik und Gewalt waren seine Sache nicht. — Wenn es aber nun, wie Judas wohl überzeugt war, nicht anders ging? In seinen Augen verfolgte Jesus die falsche Strategie beim Bau des Reichs Gottes. Jesus musste in den Kampf gezwungen werden, dann würde er es schon merken. Das könnte Judas’ Kalkül gewesen sein: Wenn die Römer Gewalt übten, so müsste das doch in Jesus den Verteidigungsreflex auslösen. Dann würde er endlich doch noch zum Widerstand aufrufen. Und dann würden viele bereit sein zu kämpfen, sogar die Jünger. Das zeigt übrigens das bei Jesus einem Waffenknecht abgeschlagene Ohr. Ebenfalls ein Zeichen für die Widerstandsbereitschaft vieler ist: Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich das Volk für den Untergrundkämpfer Barrabas und nicht für Jesus.
Judas’ Kalkül war gar nicht so unvernünftig. Aber es war eben nicht Jesu Weg. Das war sein Fehler. Er rechnete nicht damit, dass Jesus sich widerstandslos in sein Schicksal ergeben würde. Darum lief es dann überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt (und gehofft) hatte. Judas wollte doch nicht Jesu Untergang. Er wollte nur, dass er endlich aktiv würde, d.h. für das Reich Gottes und das Volk Israel, notfalls auch mit Gewalt, kämpfte. — Doch das funktionierte nicht. Und so entwickelte sich die Geschichte für Judas zum GAU. Darum stürzte er ins Bodenlose, geriet in tiefste Depression und nahm sich das Leben, kaum dass Jesus gestorben war. Ostern erlebte Judas nicht mehr.
Wenn ich mit meinen Überlegungen recht habe, versuchte Judas Jesus zum Handeln nach seinen Vorstellungen zu zwingen. Und dann beginnt sich etwas von ihm in mir zu spiegeln: Was von Judas steckt in mir? Wo bin ich gefährdet, statt auf Gott zu hören, ihn in mein Schema, meine Vorstellung zu pressen? Bin ich womöglich auch fähig und bereit, um eines höheren Zweckes willen (sogenannte Sachzwänge) Nachteile für andere bewusst in Kauf zu nehmen, Beziehungen und gar Freundschaften aufs Spiel zu setzen?
Judas ist eine tragische Gestalt: Hin und her gerissen; von Angst geleitet; tatsächlich in der Lage, die eigene beschränkte Sicht auf die Welt für die ganze Wahrheit zu halten. So tut er das Falsche und verrät, ausgerechnet mit einem Kuss, seinen besten Freund. – Übrigens: Das griechische Wort für ‚Kuss‘, das hier in der Bibel steht, bringt betont echte gegenseitige Zuneigung zum Ausdruck. Das zeigt das ganze Dilemma: Judas liebt Jesus, aber er ist auch bereit, ihn zu verraten. Er liebt ihn, aber er ist auch enttäuscht von ihm. Er liebt ihn, aber er verkauft seinen Freund für 30 Silberstücke.
Und Petrus? Ganz ähnlich wie Judas stolpert er über einen Moment, in dem ihm eigene Gedanken und Gefühle wichtiger sind als die Worte Jesu. Auch seine Theorie funktionierte nicht. Es war nicht eine politische Strategie, sondern die Überschätzung des eigenen Mutes. Und auch er realisierte: Die Wahrheit kann wehmachen, sehr sogar … die Wahrheit über sich selbst, der man sich plötzlich nicht mehr entziehen kann. Petrus meinte es bestimmt ehrlich, als er versprach, Jesus bis in den Tod folgen zu wollen. Er liebte seinen Herrn. Er lebte für ihn – ganz und gar. Er war voller Leidenschaft, war Feuer und Flamme für Jesus. Doch in seiner Begeisterung nahm er den Mund zu voll: Sogar wenn ich mit dir sterben muss – ich werde nie abstreiten, dich zu kennen.
Wie viele grosse, ehrlich und echt gemeinte Worte halten der Wirklichkeit dann eben doch nicht stand! Theoretisch alles für Jesus tun und hingeben zu wollen ist das eine. Im heiklen Moment dann konkret zuzugeben: “Ja, ich gehöre zu diesem Jesus!” … das ist etwas ganz anderes. Petrus hatte sich zuviel vorgenommen, sich überfordert … und musste kapitulieren, als er von der Magd angemacht wurde. Die Angst vor den Konsequenzen war zu gross, war grösser als die besten und ehrlichsten Absichten. Und das Verrückte war: Er merkte es nicht einmal sofort. Erst als Jesus ihm in die Augen sah, fuhr es ihm in die Knochen: “Ich habe viel zu viel versprochen. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Und ich habe so den, der mir am wichtigsten und liebsten ist, im Stich gelassen.” Jesu Blick ist an dieser Stelle wie ein Spiegel, in dem Petrus voll Schrecken erkennt: “Was! So einer bin ich! Untreu. Ein Angsthase. Ein Wortbrüchiger …. Ich bin (wie er schon bei der ersten Begegnung zu Jesus sagte, vgl. Lk 5,8) ein sündiger Mensch.”
Petrus wurde später zum ‘Fels der Gemeinde’, dank Christi Gnade. Wäre diese Gnade nicht auch Judas offen gestanden? Manche Ausleger sagen, wenn Christi Gnade unendlich sei, müsse er auch Judas schliesslich vergeben haben. Judas gehöre in den Himmel und das sei das ultimative Zeichen der Gnade Gottes. Andere Stimmen widersprechen dieser Sicht und wollen Judas für immer in der Hölle schmoren sehen. — Letztlich führt diese Debatte aber am Ziel vorbei. Biblische Texte wollen mich nicht über ihre Figuren urteilen lassen, sondern mir helfen, mich und Gott besser zu verstehen. An Judas’ Beispiel zeigen sie mir: Er hatte ein vielleicht vernünftiges Ziel verfolgt … doch dabei war das denkbar Schlechteste herausgekommen. Es ist unendlich tragisch, aber so verdreht kann menschliche Sichtweise sein. Gut gemeint ist noch lange nicht gut, manchmal sogar gerade das Gegenteil davon.
Die Figur des Judas kommt mir vor wie ein Warnschild, das mir sagt: “Pass auf, wenn Du den Eindruck hast, Jesus auf die Sprünge helfen zu müssen. Er muss die Richtung bestimmen, nicht du! Er muss Dich korrigieren, nicht umgekehrt. Lass Dir von Jesus den Weg zeigen und geh seinen Weg mit. Es ist nicht der Nachfolger, der die Richtung angibt.”
Auch der Petrus in der Passionsgeschichte ist so ein Warnschild, das mich mahnt: “Versprich nicht mehr als du halten kannst. Bleib Dir Deiner Grenzen bewusst und lass Dir helfen!” - Doch die Passionsgeschichte ist nicht nur Warnschild und ihre Figuren nicht bloss Spiegel meiner Schwächen. Sie ist vor allem Verkündigung der Gnade Christi und sagt mir zu: Wo und wie Du auch immer an Deinen Grenzen scheiterst, Christus hilft Dir, das Scheitern zu überwinden und wieder auf die Beine zu kommen. Er hat die Folgen unseres Scheiterns erlitten, ertragen und überwunden.