Bibeltext: 1. Korinther 13,4–7
Die Regeln rund um die Corona-Pandemie schränken uns ein. Viele davon bleiben uns trotz Lockerungen noch lange erhalten. Versammlungen, auch kleine, bleiben verboten. Wenn man jemandem begegnet, soll man auf Distanz bleiben, sicher nicht die Hände schütteln oder sich gar um den Hals fallen. Und auch wenn wir den Sinn nachvollziehen können: Es fällt zunehmend schwerer, sich ganz daran zu halten. Umso mehr ärgert es einen, wenn man andere beobachtet, die sich nicht (ganz) an alle Regeln halten. Schliesslich: “Wenn ich schon schweren Herzens verzichte, sollen die anderen das gefälligst auch tun …!”
Schon nach Ostern konnte man lesen, dass viele Polizei-Corps häufig wegen angeblicher Regelverstösse alarmiert wurden, dann vor Ort aber nichts (mehr?) vorfanden. Als hätten sich viele Leute in selbsternannte und unerbittliche Hilfs-Sheriffs verwandelt und die Polizei müsse diese Entgleisung nun auslöffeln.
Die Nervosität nimmt zu, die Geduld miteinander ab. Wir erleben tagtäglich auf Spazierwegen und in Einkaufsläden Situationen, die das veranschaulichen. Und wenn ich dann im Interview mit der Co-Präsidentin des Schweizerischen Seniorenrats noch lese, dass Senioren immer öfter angefeindet werden, wenn sie mal ausnahmsweise unterwegs und nicht zu Hause sind, dann komme ich zurück auf das, was ich vor einigen Wochen schon einmal geschrieben habe: Wir müssen Sorge tragen zueinander und zur Stimmung im Land.
Der Umgang mit der Pandemie wird uns noch lange alle herausfordern. Wir werden das besser bewältigen, wenn wir einander nicht denunzieren, stressen oder verurteilen, sondern unterstützen und motivieren. Und da kommt dann eben der Abschnitt aus dem sogenannten Hohelied der Liebe ins Spiel, 1.Korinther 13,4–7: “Die Liebe ist geduldig. Gütig ist sie, die Liebe. Die Liebe ereifert sich nicht. Sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf. Sie ist nicht taktlos. Sie sucht nicht den eigenen Vorteil. Sie ist nicht reizbar. Sie trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht. Aber sie freut sich, wenn die Wahrheit siegt. Sie erträgt alles. Sie glaubt alles. Sie hofft alles. Sie hält allem stand.“
Das ist natürlich sehr viel verlangt. Aber darin liegt schon ein Schlüssel zu gutem Miteinander, gerade unter erhöhtem Druck wie z.B. jetzt während der Corona-Pandemie. Mir sind vor allem die letzten Sätze ein wichtiger Wegweiser: “Die Liebe glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.” — Im konkreten Zusammenhang heisst das für mich: Wenn ich jemanden treffe, der sich nicht an die Regeln hält, gehe ich grundsätzlich davon aus, dass er gute Gründe dafür hat oder es jedenfalls gut meint. Und falls nicht, gestehe ich ihm zu, dass es jedem auch einmal für den Moment zuviel werden kann und er schon bald wieder in die Spur findet.
Gerade als Christen, in deren Herz Gottes Liebe ausgegossen ist (wie John Wesley,der Begründer des Methodismus, Röm 5,5 zitierend, immer wieder betonte), haben wir hier eine Verantwortung und Vorbildfunktion: Grosszügig, respektvoll und liebevoll mit unseren Mitmenschen umgehen. Das Miteinander stärken. — Das führt weiter, als vermeintliche oder tatsächliche Regelbrecher anzuschwärzen.
Das böse Biest (Coronavirus) hat auch hierzulande die wohlgeordneten Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Ein Beispiel: Bevor das böse Biest die Schweiz überfallen hat, galt es als unhöflich, wenn eine Person einer andern Person die Hand zum Gruss hinstreckte und die zweite Person den Handschlag verweigerte. Wer heute einer Person die Hand zum Gruss hinstreckt, begeht mindestens einen unfreundlichen oder sogar bösartigen Akt.
Die Beschränkungen, welche zu den Verhaltensänderungen führten, die wir zur Zeit ertragen müssen, dienen zum Schutz von uns allen. Sie strikte zu befolgen, hat einer grossen Zahl von Menschen das Leben gerettet oder sie nicht nur vor COVID-19, sondern sie teilweise auch vor bleibenden durch COVID-19 verursachten Schäden bewahrt.
Diese Beschränkungen und damit die Verhaltensänderungen haben verschiedene Grundlagen. Teilweise beruhen sie auf unserem Recht bzw. dem zur Zeit geltenden Notrecht. Namentlich Notrecht verpflichtet jedermann zu seiner Einhaltung. Da nicht alle Rechtsunterworfenen aus eigener Einsicht gesetzestreu sind, sind Strafandrohungen für den Fall von Zuwiderhandlungen unvermeidlich. Es ist im Interesse von uns allen, dass bei Zuwiderhandlungen die angedrohten Strafen verhängt werden. Immerhin könnte eine Vielzahl von Zuwiderhandlungen zu neuen Seuchenherden führen.
Ein anderer Teil der Beschränkungen beruht auf Empfehlungen, welche uns die Bundesbehörden wiederholt mit allem Nachdruck ans Herz gelegt haben. Da selbst noch so berechtigte Empfehlungen kein bindendes Recht sind, bleibt ein Verstoss gegen sie straflos. Aber auch die Missachtung der Empfehlungen kann böse Folgen haben.
Jedoch widersprechen die uns auferlegten Beschränkungen zu einem grossen Teil ganz natürlichen menschlichen Bedürfnissen, die keineswegs Luxus sind. Wir Menschen benötigen ein Minimum an physischem Kontakt zu unseren Mitmenschen. Glücklich ist der Mensch, der einen Halt hat, welcher ihm soviel Kraft verleiht, dass er vor der Überforderung in der jetzigen Zeit bewahrt bleibt. Wievielen (jeder einer zuviel) Menschen zumindest meiner Generation bin ich begegnet, denen das Christentum als Drohbotschaft und nicht als Frohbotschaft vermittelt worden war! Dass Christentum und Liebe etwas miteinander zu tun haben könnten, wurde ihnen im Religionsunterricht nicht vermittelt. Woher soll dann die Kraft kommen, die diese Menschen vor der Überforderung bewahrt? Viele von ihnen überfordert es, die aktuellen Beschränkungen auf unabsehbare Zeit ertragen zu müssen. Wo soll die Liebe zu Mitmenschen Platz finden, wenn ein Mensch überfordert ist und die Hoffnung aufgegeben hat, die jetzige Zeit werde ein Ende haben? Die Überforderung eines Menschen kann je nach seiner Persönlichkeit die unterschiedlichsten Reaktionen auslösen (Kollateralschäden).
Die einen Menschen versinken in sich selbst, ein psychisches Leiden bricht aus. Die Überforderung verursacht bei andern Menschen Wut, die sich entweder gegen sie selber richtet oder für die sie einen andern Menschen oder mehrere Menschen als Blitzableiter missbrauchen. Wenn z.B. mehr als fünf junge Leute zusammensitzen, die dabei sind, sich zu betrinken und vielleicht erst noch Passanten belästigen, was liegt für einen Wutmenschen näher, als mit dem Gedanken, ‘denen zeige ich es’ die Polizei zu rufen? Mag sein, dass sich die Gruppe der mehr als fünf jungen, angeheiterten Männer entfernt hat, bevor die Polizei eintrifft, aber es ist die Pflicht der Polizei, Anzeigen von Straftaten nachzugehen.
Wenn auch das Motiv eines Wutmenschen, die Polizei zu rufen, beim geschilderten Vorfall oder einem ähnlichen Vorfall, falsch ist, muss doch bedacht werden, wenn sich jeden Tag überall grössere Gruppen versammeln würden, wie rasch würden sich eine Reihe von neuen Ansteckungsherden bilden, welche uns in das Elend schlittern lassen könnten, in welchem sich nicht wenige Staaten dieser Welt zur Zeit befinden. Selbst Anzeigen aus dem falschen Motiv, retten vielleicht doch das Leben oder die Gesundheit mancher Menschen. So kann der Anzeigende die Kraft sein, die Böses will und Gutes schafft.
Liebe Barbara,
Du bringst es mal wieder auf den Punkt, ich denke genauso!!Was mich aber auch ärgert sind so“larsche” Empfehlungen, die nicht viel bringen und verunsichern. Anfangs war es einfacher, wir hatten klare und verständliche Weisungen! Mittlerweile setzt man auf Eigenverantwortung und da gibt es viele Unklarheiten! Wieso kann die Regierung nicht klare Weisungen durchgeben für eine Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wie andere Länder das tun? Stattdessen muss man hinnehmen, dass einem im Tram von einigen “Blödmännern” die Maske vom Gesicht gerissen wird. Das ist passiert und zwar meiner äusserst liebenswürdigen Nachbarin, die keiner Fliege was zuleide tun könnte! Sicher, es passiert wahrscheinlich nicht alle Tage, aber auch ich wurde schon blöd angemacht, weil ich mit Maske einkaufen ging. Im Fernsehen konnte ein Mann offen sagen, alle die Masken tragen seien geistesgestört! Da hört bei mir die Toleranz auf. Eigenverantwortung hin oder her, ich würde mir mehr Politiker mit Zivilcourage wünschen, die nicht “kuschen” und sich einfach dem Druck der Masse beugen! Für mich gilt: Alles menschenmögliche tun um den Schwächsten in unserer Gesellschaft zu helfen.
Liebe Silvia, ich glaube, da kommt noch eine andere Dimension hinein, nämlich die des Respektes. Und den braucht es natürlich von allen Seiten. Jemandem die Maske vom Gesicht zu reissen, ist natürlich ein NoGo, ganz unabhängig davon, ob einer persönlich vom Sinn des Maskentragens überzeugt ist oder nicht. — Und dann bin ich doch wieder bei meinem Anliegen: Mein Wunsch und mein Gebet ist es, dass möglichst alle dazu beitragen, dass die Stimmung unter den Menschen gut ist und bleibt.
Liebe Barbara, aus juristischer Sicht hast Du ganz bestimmt Recht. Als Theologe kann ich nicht ausser Acht lassen, dass Jesus in der Bergpredigt (vor allem Mt 5,38–42) und Paulus im sogenannten Hohenlied der Liebe (1.Korinther 13) empfehlen, den Mitmenschen mehr Freiraum zu geben als das Recht verlangt (Ich weiss, es ist heiss umstritten, ob und wie man unter diesen Voraussetzung Politik machen oder eine Rechtsordnung aufbauen kann). Und als Mitmensch beobachte ich, dass dort, wo man einander zu sehr kontrolliert und denunziert, das tragfähige Miteinander akut gefährdet ist. — Es ist letztlich wohl eine Frage des Abwägens und der individuellen Verantwortung, wie man sich in der konkreten Situation entscheidet bzw. was man tut.
Danke Daniel für deine persönliche Antwort. Mit bittendem Herzen sage ich, dein, unser aller Wunsch in Gottes Ohr!