von Pfr. Robert Seitz; dieser Text stammt aus dem Buch ‘das Leben umarmen’
Da drüben, in unserer Nachbarschaft,
trottet in seinem Gehege ein graubrauner Esel herum.
Florian, heisst er.
Manchmal steht er einfach minutenlang da auf
seinen vier Beinen. Ist er ein Philosoph unter den
Tieren? Philosophiert er gar über uns zweibeinige
Wesen jenseits des Gitters?
Manchmal hebt er langsam seinen Kopf in
Richtung Himmel und lässt seinen berühmten
Eselsschrei los. Seine grossen dunklen Augen, seine
ganze Haltung erwecken den Eindruck, er sei traurig.
Aber die Kinder finden ihn lustig und herzig,
so wie eben viel Trauriges auf dieser Welt, weil es
seine äussere Gestalt hat, als lustig angesehen wird.
Auf jeden Fall hat der Esel in der Nachbarschaft
unsere Sympathie. Er ist uns sogar sympathischer
als gewisse Menschen. Einige der Vorübergehenden
versuchen ihn ans Gitter zu locken. Sie streicheln ihn
durch die Maschen. Andere bringen ihm hartes Brot.
Und sie reden mit ihm, wie sie schon lange mit
keinem Menschen mehr geredet haben.
Und kleinen Kindern wird er als liebenswürdige
Attraktion vorgeführt. Aber, wenn den gleichen
Menschen jemand sagt:
Du bist ein Esel, dann sind sie beleidigt,
dann finden sie das nicht herzig und liebenswürdig.
Jede und jeder von uns denkt offenbar, er oder sie
sei eben kein Esel. Es ist aber gerade zu eine
Beleidigung für einen wirklichen Esel, wenn
ein Mensch kein Esel sein will.
Und es ist eine noch grössere Beleidigung für ihn,
wenn wir von einem Menschen sagen, er sei ein Esel.
Gibt es doch Menschen, die benehmen sich viel
schlimmer als Esel. Menschen sind manchmal
Unmenschen, aber haben sie schon einmal einen
Un-esel gesehen? Wir sehen, unsere Beziehung zu
diesem struppig graubraunen, langohrigen Fellwesen
ist gespalten.
Das hängt mit seinen Eigenschaften zusammen.
In einem Lexikon wird der Esel so beschrieben:
Der palastinensische Esel ist kräftig gebaut, die Hitze
gewohnt und lebt von Disteln; die Form seiner Hufe gibt
ihm seine Trittsicherheit; schliesslich ist er äusserst Kosten
sparend im Unterhalt.
Seine einzigen Fehler sind Eigensinn und Trägheit.
In Wahrheit aber sind Eigensinn und Trägheit nicht
nur Fehler: Hätte man je Esel für Kriegszwecke
gebrauchen können?
Könnte man je auf einem Esel erhobenen Hauptes
daher reiten? Könnte man je auf einem Esel das
Tempo verherrlichen? oder Zigarettenreklamen,
diesen geistigen Sondermüll, machen?
Könnte man ihn einfach für alles, was der Mensch
will, dressieren, zu ihm sagen: sitz schön brav?
Nein, das kann man, dem lieben Gott und seinem
Esel sei Dank, nicht! Und wer von uns ist denn
äusserst Kosten sparend im Unterhalt?
Wir sehen, es ist eine Ehre für uns, wenn jemand
zu uns sagt:
Du bist ein Esel.
So herzerfrischend, herzlichen Dank.
Sollte ich jemals als blöde Kuh bezeichnet werden, mache ich darauf aufmerksam, dass ich lieber ein Esel, eine Eselin sein möchte! Eigensinnig, bockig, störrisch, diese Eigenschaften sind mir nicht ganz unbekannt!!!!!😜