Himmelfahrt: Abschied oder Aufbruch?

Ein etwas län­ger­er Text, der sich mit dem Sinn und Inhalt des Feiertags ‘Him­melfahrt’ beschäftigt. Er basiert auf ein­er Predigt, die ich am Him­melfahrt­stag 2019 am Spy­cher­fest in Nuss­bau­men bei Bülach gehal­ten habe.

Bibel­texte: Lukas 9,61f, Lukas 24,50–53, Apos­telgeschichte 1,4–14 und andere

Pho­to by David Watkis on Unsplash

Abschiede sind eigentlich kein Grund für ein Freuden­fest. Und doch haben wir heute einen Feiertag, der auf einen Abschied zurück­ge­ht. Jesu Him­melfahrt war doch ein Abschied. Die Jünger sahen Jesus zum let­zten Mal. Ihnen war bewusst, dass sie nie mehr so mit ihm wür­den unter­wegs sein kön­nen, wie sie es in den besten Jahren ihres Lebens genossen hat­ten. – Wie kon­nte aus der Erin­nerung an diesen Abschied ein Feiertag wer­den? War es vielle­icht gar kein Abschied?

Lukas, der einzige bib­lis­che Autor, der von Jesu Him­melfahrt berichtet, scheint sich da auch nicht ganz sich­er zu sein. Denn bei zwei Gele­gen­heit­en berichtet er auf ganz ver­schiedene Weise davon. Am Ende seines Evan­geli­ums (vgl. Lk 24,50–53) erwäh­nt er Jesu Wegge­hen fast beiläu­fig und betont die grosse Freude, mit der seine Jünger nach Jerusalem zurück­gekehrt seien. Als wäre es gar kein Abschied, son­dern der Anfang von etwas Neuem und Grossem gewe­sen. Zu Beginn der Apos­telgeschichte, seinem zweit­en Buch, kommt Lukas noch ein­mal auf die Szene zurück. Doch dies­mal gestal­tet er eine Abschiedsszene, die vielle­icht nicht ger­ade von Verzwei­flung, aber doch von Frageze­ichen und ein­er grossen Leere geprägt ist (vgl. Apg 1,4–14). Die Jünger star­ren ins Leere, da hin, wo sie Jesus eben noch gese­hen hat­ten. Engel müssen sie zurück auf den Boden und in die Gegen­wart holen. Und dann gehen die kün­fti­gen Apos­tel still – man hat den Ein­druck: resig­niert – zurück nach Jerusalem und ziehen sich zurück. In den näch­sten Tagen sieht und hört nie­mand etwas von ihnen. Erst 10 Tage später, an Pfin­g­sten, kriechen sie wieder aus ihrem Loch her­vor. Und dann begin­nt etwas Neues. Wenn man den Bericht der Apos­telgeschichte liest, fragt man sich: Waren die 10 Tage wom­öglich die nötige Trauer­phase nach dem Abschied? Oder dien­ten sie der Vor­bere­itung des Neuen, das mit Pfin­g­sten begann?

War Him­melfahrt ein Abschied oder ein Auf­bruch zu Neuem? Es hat wohl von bei­dem etwas. Grund­sät­zlich aber hat für bib­lis­ches Denken der Auf­bruch, d.h. der Neube­ginn das grössere Gewicht. Leben und Glauben funk­tion­ieren vor­wärts, nicht rück­wärts. Zurückschauen kann in diesem Zusam­men­hang sog­ar ganz falsch sein. Lange vor Ostern hat Jesus das seinen Jüngern ein­mal sehr deut­lich gesagt, in Lk 9,61f:

61) Wieder ein ander­er sagte zu Jesus: »Ich will dir fol­gen, Herr! Doch erlaube mir, zuerst von mein­er Fam­i­lie Abschied zu nehmen.« 62) Aber Jesus sagte zu ihm: »Wer die Hand an den Pflug legt und dabei zurückschaut: der eignet sich nicht für das Reich Gottes.«

Mit seinem Beispiel hat Jesus abso­lut recht: Beim Pflü­gen kann nur der eine einiger­massen ger­ade Furche ziehen, wer sich nach vorne ori­en­tiert. Das stimmt bei der dama­li­gen Tech­nik mit Ochse und ein­fachem Holzpflug genau­so wie für einen mod­er­nen Trak­tor mit 6- oder gar 8‑fachem Pflug. Es stimmt auch noch, wenn man den Pflug weglässt. Wer im Vor­wärts­ge­hen zurückschaut, macht unwillkür­lich eine Kurve und kommt vom Weg ab. Das gilt also gemäss Jesus auch für das Leben und Glauben: In der Nach­folge Jesu geht und glaubt man vor­wärts. Darum muss der Auf­bruch, der Neuan­fang stärk­er gewichtet sein als die bedauernde Rückschau. – Dass das Zurückschauen ganz ver­boten sei, wie Jesu Wort ver­muten lassen kön­nte, glaube ich allerd­ings nicht. Wenn etwas zu Ende geht, brauchen wir eine angemessene Trauer­phase. Das ist nicht falsch. Aber es eine Phase und soll vorüberge­hend bleiben. Danach muss das Leben weit­erge­hen, und zwar nach vorne. Dann ist ein neuer Auf­bruch gefragt.

Ich will im Fol­gen­den mit eini­gen bib­lis­chen Beispie­len aufzeigen, wie sehr der christliche Glaube vom Denken nach vorne, in die Zukun­ft geprägt ist. Wie wichtig Neuan­fänge und Auf­brüche für ihn sind.

  • Begin­nen wir mit Abra­ham: Er wird für die Bibel erst im Alter von 75 Jahren inter­es­sant. Zu einem Zeit­punkt, in dem die Lebens­gestal­tung und ‑pla­nung für einen Men­schen nor­maler­weise abgeschlossen ist, bricht Abra­ham in ein ganz neues Leben auf.
    In seinem Alter wür­den wir ihm nos­tal­gis­ches Zurückschauen nicht nur erlauben, son­dern es sog­ar als kon­sti­tu­tiv anschauen. Es gehört doch dazu. Ja, es würde etwas fehlen, wenn die Grossel­tern uns nicht von früher erzählen und dabei in ihren Erin­nerun­gen schwel­gen wür­den. Doch auch sie leben heute, nicht gestern oder vorgestern. Genau darauf fokussierte Abra­ham. Mit 75 bricht er auf in ein ganz neues Leben, ‚in ein Land, dass ihm der Herr zeigen werde.“ (vgl. Gen 12,1). Und wis­sen Sie was? Wenn er das nicht getan hätte, wüssten wir heute gar nichts von ihm. Wenn er – wie das ‚nor­mal‘ wäre – sich aufs Altenteil zurück­ge­zo­gen hätte oder in ein Alter­sheim gegan­gen wäre, dann wäre Abra­ham nie der ‚Vater des Glaubens‘ gewor­den. Der Vater des Glaubens aber bricht auf in die Zukun­ft, fängt noch ein­mal neu an … auch mit 75 Jahren. Für die Bibel ist das nicht nur nor­mal, son­dern vor­bildlich und beispiel­haft. So soll Glauben, so soll Gottver­trauen sein.
  • Nehmen wir ein anderes Beispiel, das Volk Israel in der Wüste: Die zukun­fts­gerichtete Hal­tung nach Abra­hams Vor­bild fiel den von Moses durch die Wüste geführten, befre­it­en Sklaven sehr schw­er. Sie waren, wie die Bibel erzählt, immer wieder hin- und herg­eris­sen zwis­chen der ‚Hoff­nung auf das gelobte Land‘ und der ‚Sehn­sucht nach den Fleis­chtöpfen Ägyptens‘. Ein ums andere Mal brem­ste sie ihre rück­wärts­ge­wandte Nos­tal­gie aus … und ver­längerte ihre Wüsten­wan­derung fast ins Unendliche. Dabei war die Nos­tal­gie sach­lich über­haupt nicht gerecht­fer­tigt. Natür­lich, als ägyp­tis­che Sklaven hat­ten sie ab und zu mal einen Bis­sen Fleisch zwis­chen die Zähne gekriegt. Aber sie waren vor allem unfrei gewe­sen, arm, aus­genutzt, abhängig, miss­braucht. Sie hat­ten gelit­ten als Sklaven. Wie kann es bloss sein, dass ihnen unter­wegs in der gefährlichen Wüste die ehe­ma­lige Sit­u­a­tion als Gefan­gene wieder erstrebenswert schien? In der unsicheren Sit­u­a­tion des Auf­bruchs sehnt man sich wieder danach, zu wis­sen, was man hat (selb­st wenn das nichts Gutes sein sollte). – Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, sagt man manch­mal. Doch bib­lis­ches Denken wider­spricht da ganz klar und macht deut­lich: Nein, nicht zurück zu den Fleis­chtöpfen Ägyptens, son­dern vor­wärts ins gelobte Land, Gott nach, der von ihm ver­sproch­enen Zukun­ft ent­ge­gen, geht der Weg des Glaubens.
  • Ein anderes bib­lis­ches Beispiel ist Nehemia: Er lebte viel später, als Israel kein Kön­i­gre­ich mehr war, die Stadt Jerusalem ein Trüm­mer­haufen und der Tem­pel zer­stört. Die übrig gebliebe­nen Gläu­bi­gen waren daran, sich selb­st zu ver­lieren. Wer sind wir noch ohne König, ohne Tem­pel? Und über­haupt, wo ist Gott? So fragten sie. Nos­tal­gie half ihnen gar nicht weit­er. Im Gegen­teil: Die Erin­nerung an ver­gan­gene grosse Zeit­en förderte nur Res­ig­na­tion, Erstar­rung und Ago­nie.
    Nehemia gelang es, Israels Blick in dieser Zeit wieder vor­wärts auf die Zukun­ft zu richt­en. Zuerst brauchte auch er selb­st, als er im fer­nen Per­sien von der des­o­lat­en Sit­u­a­tion seines Volkes hörte, eine Phase der Trauer. Dann aber, aus dem Gebet her­aus, set­zte er alle Hebel in Bewe­gung und erre­ichte, dass er zuerst die Stadt­mauer Jerusalems und dann auch den Tem­pel wieder auf­bauen kon­nte. Damit kon­nten die Israeliten wieder zu glauben begin­nen, dass Gott sie nicht vergessen hat­te. Es wurde wieder denkbar, dass das Volk eine Zukun­ft habe. Die Hoff­nung erwachte.
  • Kom­men wir zurück zu Jesu Jüngern an Him­melfahrt: Ähn­lich wie Nehemia mussten sie durch eine Trauer­phase gehen. Es würde nie mehr so sein wie vor Kar­fre­itag und Ostern. Sie wür­den sich unsicher­er fühlen. Sie mussten Ver­ant­wor­tung übernehmen. Doch nach der Trauer­phase waren sie darauf eingestellt. Und im Auf­bruch war unendlich viel zu gewin­nen.
    Mit Gottes Hil­fe haben sie das auch geschafft. Sie grün­de­ten an Pfin­g­sten keinen Nos­tal­giev­ere­in. Sie zogen nicht in Galiläa umher um mit Dia-Vorträ­gen die Erin­nerung an die gute alte Zeit zu beschwören. Son­dern sie brachen auf zu neuen Ufern. Im Ver­trauen auf die Kraft des Heili­gen Geistes began­nen sie, über­all auf der Welt den Men­schen davon zu erzählen, wie die Botschaft Jesu ihr Leben verän­dert hat­te. Dabei waren viele Verän­derun­gen und Anpas­sun­gen nötig. Sie waren Lan­deier aus Galiläa und wagten sich in die pulsieren­den, hel­lenis­tisch-römis­chen Stadtzen­tren. Sie kon­nten dort lan­den, hat­ten Erfolg mit ihrer Botschaft vom lieben­den Gott und Vater Jesu Christi. Sie macht­en neue Erfahrun­gen. Sie erlebten, dass Chris­tus – ganz anders als früher, aber immer noch ver­lässlich – an ihrer Seite war, sie begleit­et, ermutigte, begeis­terte. Sie erlebten, wie das Ver­trauen auf die Kraft des Heili­gen Geistes ihnen Mut und Kraft gab…. Und was aus diesem Neuauf­bruch gewor­den ist: Eine riesige, bunte Schar von Men­schen rund um den Globus, die auf die Kraft Gottes ver­trauen, sich an Jesu Worten ori­en­tieren und so immer wieder die Welt prä­gen und zum Guten verändern.

War Auf­fahrt ein Abschied oder ein Auf­bruch? So fragte ich zu Beginn. Ich bin sich­er: Him­melfahrt ist vor allem der Auf­bruch zum  neuen Anfang, der an Pfin­g­sten in einen wahren Begeis­terungssturm mün­det und ganz viel hoff­nung auf die von Gott ver­sproch­ene Zukun­ft macht.

Die Frage stellt sich den Kirchen auch heute immer wieder: Seid ihr ein Nos­tal­giev­ere­in, der ver­gan­gener Grösse nach­trauert? Oder seid ihr in der Lage, der Zukun­ft ent­ge­gen zu gehen und Gott neu zu begegnen?

Ger­ade in der Kirche begeg­ne ich immer wieder der Mei­n­ung: Früher war alles bess­er! Doch das stimmt nicht. Früher war vieles anders. Manch­es war vielle­icht tat­säch­lich bess­er, sehr vieles aber nicht. Ausser­dem ist früher vor­bei. Heute ist heute. Wir haben uns heuti­gen Her­ausvorderun­gen zu stellen, im Ver­trauen auf Gott und in der Kraft des Geistes. Es gilt immer wieder aufzubrechen in die Zukun­ft, in die uns Gott voraus­ge­ht. So wie es Abra­ham tat. Und die Israeliten, welche die Sklaverei in Ägypten hin­ter sich gelassen hat. Wie Nehemia. Und wie Jesu Jünger.
Wir leben in ein­er Zeit, in der sich die Gesellschaft stark verän­dert. Heute wer­den neue, andere Fra­gen gestellt. Das ver­langt auch von uns Kirchen neue Antworten. Wir müssen immer wieder auf­brechen und Neues wagen. Bis zu einem gewis­sen Grad muss jede Gen­er­a­tion – bei aller Liebe und Wertschätzung der Tra­di­tion – Kirche wieder neu erfind­en. Neu ent­deck­en, wie sich unter verän­derten Umstän­den die Beziehung zu Gott leben lässt, wie man Chris­tus treu bleiben kann, wie nach seinem Vor­bild die Liebe zu allen (selb­st zu den Fein­den) konkret wer­den kann. Quer durch alle Kirchen und Denom­i­na­tio­nen gibt es eine Bewe­gung, die sich ‚Fresh Expres­sions‘ nen­nt. Es geht um neue Aus­drucks­for­men des Glaubens. Da wird viel exper­i­men­tiert. Manch­es gelingt. Vieles auch nicht auf Anhieb. Es gibt Men­schen, die den Glauben an Chris­tus erleben, ent­deck­en und entwick­eln im Boxs­tu­dio. Andere fahren voll aufs Pil­gern ab …. etc.
Was machen wir? Erzählen wir einan­der, wie toll und gut es früher war? Oder wagen wir es, neu aufzubrechen und in neuen Gefässen die Kraft des Aufer­stande­nen, seinen Geist, zu erleben, neue For­men auszuprobieren.

Jesus hat uns sein Mit­ge­hen, seine Unter­stützung ver­sprochen. Aber nicht für den Rück­zug aus unser­er Welt und Zeit. Son­dern wenn wir auf­brechen zu allen, die nach Chris­tus suchen, die im Ver­trauen auf ihn neue Kraft, neuen Mut, neue Hoff­nung schöpfen kön­nen. Geht in alle Welt! Dor­thin, wo noch kein­er war! Lebt im Ver­trauen auf Gott, in grosszügiger Liebe zu allen Men­schen … und steckt andere damit an. Dann bin ich, Jesus Chris­tus, bei Euch, bis ans Ende der Welt!“ (vgl. Mt 28,20).
Seit vie­len Jahren begleit­et mich ein Lied­text von Clemens Bit­tlinger: Schritte wagen im Ver­traun auf einen guten Weg. Schritte wagen im Ver­traun, dass let­ztlich Er mich trägt. Schritte wagen, weil im Auf­bruch ich nur sehen kann: für mein Leben gibt es einen Plan. Genau darum geht es. Das ist es, was Jesu Jünger nach Him­melfahrt gewagt haben. Darum wurde Him­melfahrt nicht der Schlusspunkt der Jesus-Geschichte, son­dern zum Dop­pelpunkt. Es ging weit­er zu Pfin­g­sten, wo etwas ganz Neues begann. — Schritte wagen im Ver­traun auf einen guten Weg. Schritte wagen im Ver­traun, dass let­ztlich Er mich trägt. Schritte wagen, weil im Auf­bruch ich nur sehen kann: für mein Leben gibt es einen Plan (hier noch ein Link zu ein­er Andacht von Clemens Bit­tlinger über das von ihm geschriebene Lied) – Ich wün­sche ihnen den Mut und die Hoff­nung, jeden Tag Schritte zu wagen im Ver­trauen auf Jesus Chris­tus, der wohl aufge­fahren ist in den Him­mel, der aber auch bei uns ist in der Kraft des Geistes.

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