Predigtreihe EVANGELIUM IV
Bibeltexte: Psalm 23,4; Matthäus 28,18–20
jeder dritte Haushalt in der Schweiz ist ein Einpersonenhaushalt. D.h. Ende 2020 lebte ein guter Sechstel (→ 17%) der CH-Bevölkerung allein. Ist das nun ein Zeichen, dass Individualismus und Egoismus überhand nehmen? Nicht wenige leben doch freiwillig allein. Oder werden dahinter andere Zusammenhänge sichtbar? Sehr viele wollen nämlich gar nicht allein wohnen. Sondern die Umstände haben sie in diese Situation gezwungen. Weil der Partner bzw. die Partnerin gestorben ist oder zu krank/schwach ist. Weil eine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Weil die berufliche Situation nur eine Fernbeziehung oder Wochenendehe erlaubt. Weil man niemanden gefunden hat, mit dem oder der man zusammenleben kann und will …
Und sicher ist: Sogar Menschen, die freiwillig und gerne allein wohnen, wollen nicht einsam sein. Ein soziales Netz brauchen und suchen alle. Doch längst nicht immer finden sie das auch. Und dann leiden sie unter Einsamkeit. Die ist schon länger zu einem Massenphänomen geworden. Die Pandemie hat dies noch verstärkt. Aktuell gibt etwa ein Drittel der Menschen, die in der CH wohnen, an, dass sie unter Einsamkeitsgefühlen leiden (Notabene: Das sind fast doppelt so viele wie Alleinlebende!). Besonders gefährdet sind offenbar Jugendliche und SeniorInnen, dazu MigrantInnen. – Einsamkeit oder die Angst davor kennen die meisten Leute. Dennoch ist es ein Tabuthema. Schliesslich: Nur VerliererInnen fühlen sich einsam. Das ist die unausgesprochene, aber weithin dominierende Meinung. – So ist Einsamkeit – auch wegen der Tabuisierung — ein grosses Problem. Man kann sogar von einer Volkskrankheit reden.
Einsamkeit macht nämlich krank. Eine Studie kam zum Ergebnis, dass Einsamkeit etwa so gesundheitsschädigend sei wie das Rauchen von 15 Zigaretten täglich. Einsamkeit führt zu depressiven Verstimmungen. Sie kann körperliche Symptome wie Rückenschmerzen auslösen. Auch ist sie für viele Schlafstörungen verantwortlich. Man sollte das Problem also nicht auf die leichte Schulter nehmen. In Grossbritannien z.B. hat sich unterdessen der Staat der Problematik angenommen hat. Es gibt dort seit 2018 ein ‚Ministerium für Sport, Zivilgesellschaft und Einsamkeit‘.
In der Predigtreihe über das Evangelium/die gute Nachricht stellt sich mir die Frage: Was kann aus christlicher Sicht zum Thema Einsamkeit gesagt werden? — Das ist zunächst ziemlich einfach! Die gute Nachricht für alle Einsamen heisst:: „Du bist nicht allein. Gott ist bei dir und mit dir. Er lässt dich nicht im Stich!“ Das lässt sich, wie in den Lesungen gehört, biblisch belegen. Im sehr bekannten 23. Psalm betet einer u.a.: „Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich!“ (Ps 23,4; Luther 2017). Und der letzte Satz des Mt-Ev besteht in der Zusage Christi an seine JüngerInnen: „Seid gewiss: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20; Basis Bibel) – Die gute Nachricht/das Evangelium für alle heisst: „Du bist nicht allein!“
Allerdings: Dies zu sagen oder aufzuschreiben, reicht nicht aus. Unter Einsamkeit leidende Menschen müssen erleben, dass sie nicht allein sind. Sie müssen sich wahr- und angenommen fühlen können. Respektiert. Geliebt. Sonst hören sie die gute Nachricht vielleicht gar nicht. Oder sie können ihr jedenfalls nicht trauen. – Genau deswegen ist uns als Kirche/Bezirk/Gemeinde die Pflege von Beziehungen und Gemeinschaft so wichtig. Darum fragen wir nach, telefonieren, schreiben Karten …. Und wir tun sehr gut daran, damit nicht nachzulassen!
„Du bist nicht allein!“, versichert Dir Gott. Lassen Sie mich nun diese Zusage biblisch noch besser untermauern. Sie zieht sich nämlich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel:
- Atl. Vätergeschichten: Die Geschichten um Abraham, Isaak, Jakob und Joseph zeigen als zentrale Wesenseigenschaft Gottes: Er geht mit. Er ist dabei. Er bleibt dabei. Er lässt seine Menschen nicht allein. – Stellvertretend für viele Stellen haben wir in der Schriftlesung Gen 28,15 gehört: „Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.“ – Das ist Gottes Versprechen an Jakob, einen intriganten Erbschleicher, der sich gerade aus eigenem Verschulden auf der Flucht und in der Fremde befindet.
- Wüstenwanderung: 40 Jahre lang wanderten die Israeliten durch die Wüste von Ägypten ins gelobte Land. Eine lange, entbehrungsreiche Zeit, die sich in Israels Erinnerung dennoch als besonders segensreich festgesetzt hat. Warum? Weil in der Wüstenzeit Gottes Nähe ausserordentlich gut erfahrbar war. In Ex 13,17ff werden sogar sichtbare Zeichen seines Dabeiseins genannt: Tagsüber in einer Wolkensäule, nachts als Feuersäule sei Gott selbst dem Volk vorangegangen. So zeigte er den Israeliten: „Ihr seid nicht allein!“– Das ist exakt, was er Mose am Dornbusch mit seinem Namen versprochen hatte: Jhwh – ich werde da sein.
- Landnahme: An der Schwelle zum gelobten Land muss Josua in die Fussstapfen des grossen Mose treten. Er soll die Israeliten in die neue Heimat führen. Eine gigantische Aufgabe! Kann er ihr gewachsen sein? – Ja, er kann! Weil ihn Gott ermutigt mit der Zusage: „Niemand kann sich dir entgegenstellen, solange du lebst. Ich werde mit dir sein, wie ich es mit Mose gewesen bin. Ich lasse dich nicht fallen und lasse dich nicht im Stich. Sei stark und mutig! (Josua 1,5.6a; ) – Oder eben: „Du bist nicht allein!“ • Psalmen: Immer wieder besingen die Beter Israels Gottes Treue und Nähe. Sein Begleiten. Sein Tragen durch alles hindurch. Wohl am bekanntesten ist die schon zitierte Stelle aus Ps 23,4: Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir!“
- Paulus: Die Zusage im Missionsauftrag (Mt 28,20) haben wir auch schon gehört: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt.“ – Paulus fasst diese Garantie Christi mehrfach in prägnante Sätzen. Am schönsten und bekanntesten ist wohl Röm 8,38f : „Ich bin zutiefst überzeugt: Nichts kann uns von der Liebe Gottes trennen –nicht der Tod und auch nicht das Leben, keine Engel und keine weltlichen Mächte, nichts Gegenwärtiges und nichts Zukünftiges und auch keine andere gottfeindliche Kraft. Nichts Über- oder Unterirdisches und auch nicht irgendetwas anderes, das Gott geschaffen hat –nichts von alledem kann uns von der Liebe Gottes trennen. In Christus Jesus, unserem Herrn, hat Gott uns diese Liebe geschenkt.
- 1. Johannes: Zuletzt weise ich auf den 1. Johannesbrief hin. Er beschreibt Gott und seine Liebe im Bild des Lichtes: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis!“ (1. Jh 1,5; Luther 2017). „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm!“ (1. Jh 4,16; Luther 2017). – Anders gesagt: Die Sonne scheint und spendet uns ihr Licht, ihre Energie, selbst wenn wir sie nicht sehen. Genauso ist es auch mit Gott und der Energie seiner Liebe. Er ist und bleibt da. Wir sind nicht allein. – Mit diesem Bild ‚arbeitet‘ übrigens das Lied, das wir später noch singen werden: ‚Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da!‘
Das ist also ein roter Faden durch die ganze Bibel hindurch. Ein wesentlicher Aspekt der guten Nachricht heisst: Du bist nicht allein. Gott verlässt dich nicht. ABER: Wenn es stimmt, dass Gott seine Menschen nicht im Stich lässt … warum betet, ja schreit dann ausgerechnet Jesus am Kreuz mit Psalm 22: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34) — Hat Gott ausgerechnet bei seinem Sohn nicht gehalten, was er allen versprochen hat? Das würde doch dem Evangelium das Fundament entziehen.
Mit Hilfe des Theologen Jürgen Moltmann komme ich zu folgender Erklärung: Die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse halten fest, dass im Menschen Jesus von Nazareth Gott ganz gegenwärtig war. Man brachte das auf die Formel: Jesus ist/war zugleich ganz Mensch und ganz Gott. – Wenn nun der Mensch Jesus von Nazareth am Kreuz sich von Gott verlassen fühlt und dennoch diesen Gott betend anredet, dann heisst das: Im Kreuzesgeschehen stösst Gott selbst als Mensch in die tiefste Tiefe der Gottverlassenheit vor. Er erleidet und trägt die höchstmögliche Stufe der Verlassenheit. Damit gibt es endgültig keinen Ort mehr, an dem Gott nicht ist. Noch in der grössten und tiefsten Einsamkeit, in der höchsten Not, sind wir von Gottes Gegenwart und Nähe umfangen, getragen … Wo immer wir auch sind oder hinkommen, ist Gott schon da und erwartet/empfängt uns mit offenen Armen. – DARUM: Du bist nicht allein. Niemals. Nirgends. Gott ist da. Er lässt dich nicht im Stich – Dabei bleibt es.
Dennoch – und das ist die Schwierigkeit – nehmen wir das nicht immer wahr. Wir können uns von Gott und Welt verlassen fühlen. Und solche Gefühle sind echt und ernst zu nehmen. Man kann zwar mit Bezug zur Bibel sagen, dass sie objektiv gesehen im Irrtum sind. Dennoch: Wenn wir einen lieben und wichtigen Menschen verlieren, wenn wir in einer Krankheitsphase mit offenem Ausgang stecken, wenn uns eine Pechsträhne verfolgt, wenn Gott nicht auf unsere Gebete zu reagieren scheint oder wenn sogar genau das passiert, wovor wir bewahrt zu bleiben hofften und flehten …. dann fühlen wir uns verlassen, auch von Gott. – Wichtig ist nun: Niemand, der oder die sich mit solchen Gefühlen plagt, muss sich deswegen Vorwürfe machen. Diese Erfahrungen gehören zum Leben in dieser Welt. Theologen sprechen dabei vom verborgenen Gott oder sogar von der dunklen Seite Gottes. Der Psalmbeter spricht von finsteren Tälern, die wir auf unserem Lebensweg durchschreiten. — Das ist so. Manch-mal nehmen wir Gottes Nähe nicht wahr. Wir fühlen nichts und drohen die Kraft zum Glauben zu verlieren. – Es ist vielleicht nur ein schwacher Trost und dennoch eine gute Nachricht, dass sich deswegen niemand Vorwürfe machen muss.
Dazu rückt die biblische Botschaft rückt nicht von der Zusage ab, dass Gott dennoch da ist und niemanden verloren gehen lässt. Bloss, wie lässt sich das im finsteren Tal wahrnehmen? Was kann man tun, wenn die eigenen Gefühle behaupten, Gott sei nicht da? Wenn es in der Seele dunkel bleibt, allen Versuchen, sich die gute Nachricht vorzubuchstabieren zum Trotz?
Ich habe das zu Beginn meiner ersten depressiven Episode, noch zu Bülacher Zeiten, heftig erlebt: Mich überwältigte eine kaum beschreibbare Trauer, eigentlich eine grosse Leere. Der Glaube kam mir wie eine hohle Fassade vor. Eine unsichtbare Mauer trennte mich von der Welt rundherum. Es drang kaum noch etwas zu mir durch. Und hinaus ging auch wenig. Meine Gebets-versuche blieben bei mir stecken, prallten an der unsichtbaren Mauer ab. So kam es mir jedenfalls vor. Und die gute Nachricht war gefühlt unendlich weit weg. Sie schien nichts mit mir zu tun zu haben. Gott fühlte sich an wie eine Illusion.
Was hat – nebst Medikamenten, die unverzichtbar waren – geholfen? Einerseits haben mir Begegnungen gut getan. Dafür musste ich den inneren Impuls, mich ins Schneckenhaus zurückzuziehen, überwinden. Aus eigener Kraft hätte ich es in den ersten Tagen und Wochen wohl nicht geschafft. Meine Frau und meine Tochter, die am nächsten dran waren, haben mir ge-holfen. Sie haben mich abwechselnd ermutigt, gelockt und manchmal auch gestossen. Sie liessen nicht zu, dass ich im Schne-ckenhaus die Tür hinter mir verriegelt. Das war wichtig. Ihr konkretes Dasein für mich, aber auch das Verständnis und die Geduld vieler anderer Menschen vor allem in Gemeinde und Kirche, halfen mir zu verstehen: Mein Eindruck, von allen verlassen und einsam zu sein, stimmt gar nicht! Immer wieder haben Leute mir versprochen, sie würden für mich beten. Manche haben angeboten, eine Weile für mich zu glauben, bis ich es wieder könne … Das alles war ein Geschenk, das man gar nicht hoch genug einschätzen kann. — Meine Erfahrung ist: Gegen Einsamkeit hilft es, Begegnungen zu suchen. In diesen Begegnungen nämlich lernte ich wieder zu ahnen und mit der Zeit zu glauben, dass Gott da ist und mich überhaupt nicht verlassen hat.
Andererseits haben mir verschiedene Übungen geholfen, den Zugang zum Glauben wieder zu finden. Manche habe ich selbst entwickelt. An andere hat mich Pia herangeführt. Fotografieren war so eine Übung. Wenn ich durch die Linse etwas fokussiere (ich fotografiere gerne Landschaften und Natur), hilft das, von mir wegzuschauen. Viel Schönes um mich herum konnte ich wahr-nehmen als Hinweis auf die Güte des Schöpfers. — Musik war eine andere Übung. Vor dem Klavier sitzen, die Tasten bearbeiten … so lange, bis es besser oder sogar gut zu klingen begann, bis aus einem Chaos von Tönen sich eine Melodie zu formen begann. Oder auch Musik zu hören. Vor allem Segenslieder hatten es mir angetan. Über die Musik drang zuerst wieder etwas zu mir durch ohne an der unsichtbaren Wand abzuprallen. Andere Übungen waren eher meditativ: In der Stille auf den eigenen Atem hören. Ihn wahrnehmen. Ihn in Zusammenhang bringen mit dem göttlichen Lebenshauch. Den Atem wahrnehmen als Bild für den Geist Gottes in mir. — Oder den Boden spüren, auf dem ich stehe. Wahrnehmen, dass und wie er mich trägt. Die Verknüp-fung machen, d.h. mir zusprechen: So stehe ich auf dem Boden der Liebe Gottes. Sie trägt mich. — Oder draussen die Sonne spüren. Ihr Licht und ihre Wärme aufnehmen. Und mich erinnern, mir vorsagen: Gottes Liebe ist wie die Sonne. Das waren Dinge, dank denen ich mit Gottes Hilfe die Depression nach und nach überwinden konnte. Ich lernte wieder, zu glauben: Du bist nicht allein. Nie. Gott ist da. Für dich. Jederzeit und überall.
Die Zusage Jesu wurde ganz neu wichtig für mich: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende der Welt!“ Dieser Satz hatte mich schön früher eine lange Zeit begleitet. Als ich im Gymnasium war, hatte ich ihn auf meinem Pult zu Hause aufgeklebt. Er fasst für mich am besten den Aspekt des Evangeliums zusammen, um den es heute geht. Vermutlich ist dieser Satz sogar der Hauptgrund, warum ich Feuer und Flamme bin für den Glauben, für die Kirche/Gemeinde, vor allem aber für Christus.
„Ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende der Welt!“ Wie schon erwähnt, steht dieser Satz im Zusammenhang des sogenannten Missionsbefehls. Und das macht dann deutlich: Die gute Nachricht ist nicht nur Evangelium, d.h. Zuspruch an uns persönlich. Sie stellt auch Ansprüche an uns bzw. bedeutet einen Auftrag. – In einer Zeit, in der Einsamkeit zum Massenphänomen und Massenproblem wird, sind wir beauftragt, den Einsamen zuzusprechen: Du bist nicht allein. – Und zum Auftrag gehört, dass wir nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, reden. Sondern einsame Menschen erleben lassen, dass sie nicht allein sind. D.h. sie integrieren.
In den verbleibenden zwei Predigten im Rahmen der Predigtreihe werde ich stärker auf unseren Auftrag zu sprechen kommen. Das scheint mir wichtig. Es geht es ja nicht um fromme Selbstbefriedigung.
Dennoch soll nicht vergessen gehen oder auch nur relativiert werden, was zuerst mir/dir ganz persönlich gilt. Wir können uns darauf verlassen, dass Gott uns zu zuspricht: Du bist geliebt und gewollt. — Du bist Gottes Bild. — Veränderungen sind möglich. — Und: Du bist nie allein. Wo immer du bist oder hinkommst, erwartet Dich Gott schon mit offenen Armen.
Amen