Predigt in der EMK Adliswil am Karfreitag, 15.04.2022
Bibeltexte: Johannes 19,26–30; Lk 23,34.43.46; Mk 15,34
‘
Die letzten Worte, die ein Mensch vor seinem Tod gesagt hat, erhalten in der Erinnerung der Angehörigen gerne ganz besonderes Gewicht. Im Rückblick erscheint bisweilen ein ganzes Lebenswerk darin zusammengefasst. Letzte Worte werden als Vermächtnis zitiert und prägen so die Erinnerung der Nachwelt. — Karfreitag ist der Gedenktag des Sterbens Jesu. Auch von ihm sind letzte Worte überliefert. Alle vier Evangelien zitieren, was er im Sterben zuletzt noch sagte. Sie berichten allerdings nicht das gleiche. Es sind insgesamt sieben letzte Sätze Jesu, die uns überliefert werden. Welcher davon nun tatsächlich der Letzte war, wissen wir nicht. Aber zusammen kann man sie als Vermächtnis Jesu verstehen. Es sind Sätze, die das Geschehen auf Golgatha deuten und dabei verschiedene Aspekte des Heilsgeschehens aufzeigen. Ich will heute diesen sieben letzten Worten Jesus am Kreuz entlanggehen und mich dabei an die Reihenfolge halten, die eine alte kirchliche Tradition vorgibt.
Für alle diese Sätze gilt: Sie sind am Kreuz gesprochen. Die Gefangennahme, das Hin und Her zwischen Herodes, Pilatus und den jüdischen Führern um die Verantwortung für die Verurteilung; Verhör und Prozess, die Auspeitschung und schliesslich der lange Weg durch die Stadt liegen hinter Jesus. Er hängt am Kreuz. Wieviel er um sich herum wahrnimmt, ist schwierig abzuschätzen. Vermutlich dominieren die Schmerzen stark und erlauben es ihm nur ab und zu einen Moment, klar mitzubekommen, was um ihn herum geschieht. Die römischen Soldaten würfeln zu seinen Füssen um sein Kleid. Die meisten Freunde sind längst geflüchtet. Ein paar Frauen und der Jünger Johannes sind als letzte noch in Jesu Nähe. Ausser ihnen und den Folterknechten sind auch noch ein paar sensationshungrige Gaffer da. — Zu denen, die ihn am Vorabend im Garten Gethsemane verhafteten, sagte Jesus: “Das ist eure Stunde, jetzt hat die Finsternis die Macht!” (Lk 22,53) Genau das ist die Situation. Es ist die Stunde der Finsternis. Das Böse triumphiert. Jesus ist verstummt. Vor dem Hohen Rat und vor Pilatus hatte er noch bestätigt, Gottes Sohn zu sein. Seither hat er nichts mehr gesagt. Jetzt am Kreuz, als die Niederlage perfekt scheint, da redet er noch einmal. Nur noch kurze Sätze zwar. Und doch: Was Jesus jetzt sagt, reisst den Himmel auf und zündet neue Lichter der Hoffnung an.
Von einem unschuldig Verurteilten im Todeskampf würde man am ehesten einen Wutausbruch erwarten. Einen Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit. Sogar Verwünschungen der Gegner könnte man nachvollziehen. Doch Jesu letzte Worte klingen ganz anders. Er hält sich selbst an das Gebot der Feindesliebe. Seinen Jüngern sagte er damals: “Bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel!” (Mt 5,45) Genau das tut Jesus am Kreuz. Jesus betet:
“Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun.” Lk 23,34
Darin erweist er sich als Sohn Gottes. “Auge um Auge, Zahn um Zahn!” gilt nicht mehr. Jesu Liebe ist so gross, dass sie auch jene einschliesst, die ihn quälen Das sind nicht nur die Folterknechte. Zu ihnen gehören genauso die Jünger, die geflüchtet sind, um sich selber zu retten. Schmerzlich muss für Jesus auch die Anwesenheit der Gaffer sein. Sie befriedigen ihre Sensationsgier und bleiben innerlich unbeteiligt.
“Sie wissen nicht, was sie tun!“ Menschen wissen oft nicht, was sie tun. Es kommt vor, dass sie mit aufrichtigem Engagement grösstes Unglück bewirken. Wir kennen das aus eigener Erfahrung: Man bemüht sich nach bestem Wissen und Gewissen gut zu leben und handeln – und realisiert erst im Nachhinein unvermutete, ungewollte und evtl. fatale Folgen (oder Nebenwirkungen) des eigenen Tuns. Im Moment glauben wir meistens genau zu wissen, was wir tun. Die Erfahrung aber zeigt, dass wir uns da nicht selten etwas vormachen.
Jesus bittet Gott um Vergebung: Für die Kriegs- und Folterknechte, für die Jünger, die nicht durchgehalten haben und für die unbeteiligten Gaffer. Er bittet um Vergebung auch für mich, auch für uns, die wir selbst oft nicht wissen, was wir eigentlich tun (bewirken). Er bleibt von Liebe bestimmt bis zuletzt. Er gibt niemanden auf, auch nicht seine Gegner – ganz egal, ob sie sich bewusst oder unbewusst gegen ihn stellen: “Vater, vergibt ihnen!”
Am Kreuz siegt zuletzt die Liebe. Das macht auch der zweite der Sätze Jesu am Kreuz deutlich. Noch im Sterben sorgt er für die Menschen. Noch im Abschiednehmen stiftet er neue Gemeinschaft:
Jesus sah seine Mutter dort stehen und neben ihr den Jünger, den er besonders lieb hatte. Da sagte er zu seiner Mutter: “Frau, er ist jetzt dein Sohn!“Und zu dem Jünger sagte er: “Sie ist jetzt deine Mutter!” Jh 19,26f
Damit tut Jesus zunächst, was das Gesetz von jedem Juden verlangt. Schliesslich lautet das 5.Gebot: “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!” (Ex 20,12). Das bedeutet nicht zuletzt die Verantwortung für die Altersversorgung der Eltern. Und als Erstgeborener war Jesus seiner Mutter in besonderer Weise verpflichtet, nachdem Josef wohl schon lange nicht mehr lebte. Diese Verantwortung nimmt er wahr, indem er ihr Johannes als Sohn schenkt.
Dennoch geschieht hier mehr als nur Erfüllung des Gesetzes. Im Sterben stiftet Jesus Gemeinschaft. Wenn der Tod bisher die Zerstörung jeglicher Gemeinschaft bedeutete, macht gerade diese kleine Episode deutlich: Mit Jesu Sterben ändert sich etwas. Der Tod verliert seine Macht, auf ewig zu trennen. Das Kreuz stiftet neue Gemeinschaft zwischen Menschen – und vor allem mit Gott.
Noch deutlicher kommt das im dritten Satz Jesu am Kreuz zum Ausdruck. Neben Jesus hängen ja noch zwei Verbrecher am Kreuz. Der Evangelist Lukas erzählt: “Einer der Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt worden waren, beschimpfte ihn: ‘Bist du denn nicht der versprochene Retter? Dann hilf dir selbst und uns!’ Aber der andere wies ihn zurecht und sagte: Nimmst du Gott immer noch nicht ernst? Du bist doch genauso zum Tod verurteilt wie er, aber du bist es mit Recht. Wir beide leiden hier die Strafe, die wir verdient haben. Aber der da hat nichts Unrechtes getan!Und zu Jesus sagte er: ‘Denk an mich, Jesus, wenn du deine Herrschaft antrittst!’ ” Und Jesus gibt ihm zur Antwort:
“Ich versichere dir, du wirst noch heute mit mir im Paradies sein.” Lk 23,43
Jesu Tod stiftet Gemeinschaft mit Gott! Sogar einer, der Gott wohl ganz los war und nach damaligem Gesetz zu Recht zum Tod verurteilt worden war, erhält die Chance: Jesus öffnet ihm die Tür ins Paradies, sofort. ‘Noch heute!’ sagt Jesus. Es ist keine Rede von Busse, von Läuterung im Fegefeuer etc. ‘Heute wirst du mit mir im Paradies sein!’
Radikaler könnte die Absage an jegliche Art von Leistungsdenken nicht sein. Man kann sich den Himmel im Leben nicht verdienen. Man kann ihn eigentlich auch nicht verspielen. Wie wir unser Leben geführt haben, das entscheidet nicht darüber, ob wir im Himmel ankommen werden. Vielmehr gilt: Jesus öffnet jedem die Tür zum Paradies. Und jeder, der sich das gefallen lässt, jede, die dieses Geschenk annimmt, kommt hinein. Jesus bietet jedem die vollkommene Gemeinschaft mit Gott an. Sein Kreuz stiftet Gemeinschaft mit Gott.
An dieser Bibelstelle entzünden manchmal Diskussionen. Jesu Worte klingen nach ‚Allversöhnung‘. Wenn sogar ein zu Recht Hingerichteter im Himmel ankommt, müssen dann nicht alle dort ankommen? – Ich bin fest überzeugt, dass Gott tatsächlich alle dabei haben will und dass er alles tut, um dieses Ziel zu erreichen. Schwer zu begreifen. Manchmal ein Stein des Anstosses, weil es ja schon Menschen gibt, von denen ich finde, dass sie im Himmel nichts zu suchen hätten. Andererseits ist es mir ein Grund zur Hoffnung, für mich selbst und für andere, die ich nicht vom Glauben überzeugen kann: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden, wirklich alle!
Das vierte Wort Jesu am Kreuz klingt ganz banal und zunächst überhaupt nicht nach Vermächtnis:
“Ich habe Durst!” Jh 19,28
Was hat das mit dem Heilsgeschehen zu tun? Durstig wird jeder Mensch nach kurzer Zeit. Und der Blutverlust am Kreuz beschleunigt das wohl noch. Logisch, dass Jesus nach einigen Stunden am Kreuz Durst hat.
Dieser Satz zeigt, dass Jesus tatsächlich gelitten hat. Die anderen Worte klingen so übermenschlich, dass die mit der Kreuzigung verbundenen Leiden fast vergessen gehen. Und es gab ja in der frühen Christenheit auch Leute, die sagten, Jesus habe nur scheinbar gelitten, denn als Gott könne er gar nicht leiden. Gegen solche Tendenzen hält der Evangelist Johannes fest: Jesus hatte Durst. Er hat wirklich gelitten. Die Kreuzigung war keine Insenzierung. Das war Reality. In Jesus hat Gott wirklich gelitten. Er ist tatsächlich gestorben. – Denn nur, wenn Gott in diesem gekreuzigten Jesus tatsächlich anwesend war, nur wenn er die Trennung von Gott als Folge der Sünde tatsächlich erlitten hat, nur dann kann dieses Sterben etwas bewirken. Nur dann kann Jesu Kreuz den Menschen die Brücke zurück zu Gott bauen. Nur wenn es real war.
Es war real. Jesus hat gelitten. Nicht nur körperlich. Er hat auch unter der Trennung von Gott, die der Tod bis dahin bedeutete, gelitten. Das wird deutlich im Ruf, den das Mk-Ev als Jesu letztes Wort überliefert:
“Eloï, eloï, lema sabachtani!” – das heisst übersetzt: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Mk 15,34
In Jesu Sterben bricht Gott in die Gottverlassenheit des Todes ein: Jesus selbst empfindet und erleidet das im Moment als Abwesenheit von Gott. Darum sein Ausruf, seine Klage mit Worten aus Psalm 22.
Es lohnt sich übrigens, diesen Psalm mal ganz zu lesen. Die Klage über das Fernsein von Gott wird darin sehr breit ausgeführt. Gute zwei Drittel des ganzen Psalms sind Klage. Doch dann gibt es einen Umschwung. Zum Schluss kommt neues Vertrauen zu Gott zum Ausdruck.
Und diesen Umschwung gibt es auch im Geschehen am Kreuz. Am Schluss bricht sich die Überzeugung Bahn (= 6. Wort Jesu am Kreuz):
“Jetzt ist alles vollendet!” Jh 19,30
Es ist geschafft. Der Auftrag ist durchgeführt. Die Macht der Sünde und des Todes ist gebrochen. Für die Menschen ist die Brücke zurück zu Gott gebaut. Die Voraussetzungen zur Rettung aller sind geschaffen.
Damit ist auch die Gottferne überwunden. Jesus weiss sich wieder in Gottes Hand. Die Verbindung, die abgebrochen war, ist wieder da. Und so endet die dramatische Geschichte versöhnlich, mit dem vertrauensvollen Gebet Jesu (= 7. Wort Jesu am Kreuz):
“Vater, ich gebe mein Leben in deine Hände!” Lk 23,46
Dieser Satz stammt aus dem Abendgebet frommer Juden und ist ein Zitat aus Psalm 31,6. Jetzt, nachdem alles vollbracht ist, kann Jesu die Last ablegen und sich in Gottes Hand fallen lassen.
Jesus hat am Kreuz errungen, dass der Tod nicht mehr in die Trennung von Gott führt, sondern das Tor ist zur uneingeschränkten Gemeinschaft mit Gott, das Tor ins Paradies. Er hat unsere Sünde getragen und ihre Folgen überwunden. Wer sich auf ihn verlässt, wird erleben, dass die Brücke zu Gott, die Beziehung zu ihm hält, auch im Sterben und darüber hinaus.
Wer Jesus vertraut, ihm sein Herz schenkt und sich auf das was er am Kreuz für uns getan hat, verlässt, der ist und bleibt aufgehoben in Gottes Hand. Amen