Predigt am 28.08.2022 in der EMK Adliswil
Nacherzählung von Lukas 7,36–50
Irgendwo am See Genezareth in Galiläa findet ein Empfang statt. Die wichtigen Leute des Dorfes sind eingeladen, ‚natürlich‘ damals ausschliesslich Männer. Dabei ist auch Jesus, der vom Volk so gefeierte Wanderprediger. Man will die Gelegenheit nutzen, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Gastgeber ist Simon, ein Pharisäer. Er ist ein wohlhabender und angesehener Mann. Man sagt ihm echte Frömmigkeit nach.
Plötzlich — der Hauptgang wurde gerade serviert — betritt eine Frau den Festsaal. Sie sucht Jesus und tritt von hinten an ihn heran. Er liegt, wie die anderen auch, auf die Ellbogen gestützt am Tisch. Die Füsse streckt er nach hinten aus.
Was will die Frau bloss hier? Merkt sie nicht, dass sie völlig fehl am Platz ist? Falls ja, ist es ihr egal. Jetzt hat sie ein Fläschchen in der Hand. Es sieht teuer aus. Wie Parfum. Was will sie damit? Ihre Hände zittern. Offenbar will ihr nicht gleich gelingen, was sie vor hat. Und das bringt sie aus der Fassung. Sie weint heftig. Ihre Tränen tropfen Jesus auf die Füsse …
Endlich hat sie sich wieder in der Gewalt. Und nun löst sie ihre Haare und beginnt, Jesus damit die Füsse zu trocknen. Die zuschauenden Männer sind fassungslos. Das gehört sich doch nicht. Ja, es ist auf empörende Art erotisch, was die Frau da tut. Zwar sagt keiner auch nur ein Wort. Doch sie spürt die Stiche ihrer Blicke im Rücken.
Aber egal! Mögen diese selbst ernannten Experten davon halten, was sie wollen. Jetzt ist ihr Moment. Sie will und muss Jesus danken für das, was er ihr tags zuvor geschenkt hat. Und sie macht es so, wie sie es am besten kann. Also beginnt sie, Jesu Füsse zu küssen. Sie weiss ganz genau, was sie damit tut. Und sie ist überzeugt: Dieser Mann aus Nazareth, nur er, hat eine solche Ehrung verdient. Jetzt kriegt sie das Fläschchen auf. Es enthält das teuerste Salböl, das zu finden war. Das ist gerade gut genug für Jesus, dem sie jetzt damit die Füsse zu salben beginnt.
Dabei kommt kein Wort über ihre Lippen. Aber ihre Haltung und Bewegungen, ihre Augen und Hände sagen alles. Er sieht ihr in die Augen und versteht sie. Ihre Dankbarkeit für die Befreiung. Die Freude, dass er sie nicht nur gesehen hat, sondern ihr liebevoll und wertschätzend begegnet ist. Die Hoffnung und die Liebe, die das in ihr geweckt hat. Und Jesus weiss: Sie wird einen neuen Anfang machen, ihr Leben umkrempeln und ordnen. Und sie wird stark genug sein, sich nie mehr in die Gosse werfen und auf sich herumtrampeln zu lassen.
Jesus beginnt nun zu reden. Nicht, noch nicht zu ihr. Sondern zu den Männern. “Seht den Glauben dieser Frau. So kann Glaube aussehen!” So sagt er. Viele denken ja beim Stichwort ‘Glaube’ an Dogmen, Lehre und Formeln, an Dinge, die im Kopf ablaufen. Doch Glaube kommt aus dem Herzen. Er entsteht in einer Beziehung. Er besteht aus Vertrauen. Glaube weckt die Schmetterlinge im Bauch, weckt Liebe. Kein Wunder, das Glaubende manchmal ein wenig verrückte Dinge tun. So wie diese Frau, die noch immer Jesu Füsse salbt.
Dabei hört sie zu, was nun geredet wird. Das Gesicht des Gastgebers Simon hatte einen immer besorgteren Ausdruck angenommen. Darum erzählt ihm Jesus nun ein Gleichnis: ‘Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?’ — Es dauert einen Moment, bis Simon merkt, dass von ihm eine Antwort erwartet wird. Und es klingt etwas gequält, als er sagt: ‘Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.’ Der Pharisäer merkt genau, dass er derjenige mit der lächerlichen Schuld von 50 Groschen ist. Die Frau aber ist die, der ein riesiger Schuldenberg erlassen ist. Heisst das, dass sie ihren Gott mehr liebt als er?
Simon spürt, wie er den Boden unter den Füssen verliert. Diese Frau hat ihn beschämt. Dabei war doch ihr katastrophaler Ruf stadtbekannt. Aber ihre Liebe stellt ihn und seine Gerechtigkeit in den Schatten. Und nun sagt Jesus sogar zu ihr: „Dir sind deine Sünden vergeben!“
Da geht ein Raunen durch den Raum. Woher nimmt dieser Galiläer das Recht, Vergebung zuzusprechen? Das kann doch nur Gott. Und er ist nicht einmal ein Prophet! Oder vielleicht doch? Jedenfalls ist er bei diesem Gastmahl an Gottes Stelle getreten. Die Frau hat ihn so weit gebracht, sie hat seine Vergebungsvollmacht herausgefordert: ‘Dir sind deine Sünden vergeben!’ – Erst noch war sie eine Bettlerin, eine Sünderin. Doch sie verlässt dieses Haus als Königin. Sie ist frei. ‘Geh hin im Frieden’, sagt Jesus zu ihr. ‚Dein Glaube, d.h. Dein Vertrauen und Deine Liebe, hat dich gerettet.‘
Liebe Gemeinde,
ich staune immer wieder, wie leicht und selbstverständlich Menschen im Zusammenhang mit Sportereignissen Flagge zeigen: Fahnen des eigenen Landes am fahrenden Auto während der Fussball-WM (® werden wir ja im Nov (!) wieder erleben), im Gesicht aufgemalte Wappen, Kleider und Frisuren in den Landesfarben, inbrünstiges Mitsingen der Nationalhymne …. Wenn es um sportlichen Ruhm und Ehre geht, outet man/frau sich gerne und zeigt, wohin bzw. zu wem man gehört.
Sollte es nicht möglich sein, genauso selbstverständlich und begeistert zu zeigen, dass man/frau zu Christus gehört? Wäre nicht das der Sinn hinter dem sog. Missionsauftrag? Zeugnis geben! Flagge zeigen! — Nicht andere unter Druck setzen oder überreden. Nicht argumentieren und debattieren. Nicht streiten über wahr oder falsch, über den ‚richtigen‘ Glauben! – Nur zeigen: Ich gehöre zu Christus. Das freut mich, begeistert mich. Vielleicht sogar: Darauf bin ich stolz.
Die Frau aus dem Lk-Ev, von der ich eben erzählt, ist in dieser Hinsicht ein leuchtendes Vorbild. Genau deswegen erzählt Lukas wohl von ihr. Nicht wegen dem Skandal, den ihr Auftritt vermutlich auslöste. Auch nicht, um über die selbstgerechten Zuschauer herzuziehen. Und schon gar nicht, um darüber zu streiten, wer mehr und wer weniger Vergebung nötig habe.
Nein! Diese Frau gibt einfach ein sehr lebendiges Beispiel dafür, wie man seine Liebe zu Christus zeigen kann. Lukas, durch und durch Evangelist, erzählt von ihr, um seine ZuhörerInnen bzw. LeserInnen zur Stellungnahme herauszufordern. Mit all seinen Geschichten von Jesus fragt Lk ja immer wieder: “Und was ist mit dir, lieber Leser, liebe Hörerin, liebe Gemeinde? Was ist mit dir?” — Was hältst Du von Jesus? Wie zeigst Du Deine Liebe zu ihm? Wie bekennst Du Farbe bzw. zeigst du Flagge?
I. Zugegeben, in Verbindung mit dieser Geschichte liegt mir die Frage etwas quer. Denn: Auftritte, die peinlich werden könnten, pflege ich doch möglichst zu vermeiden. Ich stelle mich überhaupt nicht gerne bloss. Darum ist mir zunächst der Pharisäer Simon sympathischer: Wie er würde ich Jesus sofort als Gast an meinen Tisch oder auch zu einem öffentlichen Podium einladen. Wie gerne würde ich ihm so zuhören können, mit ihm über Gott und Welt diskutieren und von ihm lernen. Das stelle ich mir sehr spannend, anregend, inspirierend vor. Dafür gäbe ich viel und ich bin sicher: Ich wäre ein guter Gastgeber. Gerne würde ich meine Sympathie für Jesus so zeigen wollen, wie es dieser Pharisäer tut.
Dagegen ist ein Auftritt wie der dieser Frau gar nicht mein Ding. Nur schon die Vorstellung, ich würde so ähnlich auf Jesus zugehen, lässt mich innerlich zusammenzucken. Das wäre so was von peinlich. — Zwar sehe ich, dass Jesus sich nicht gegen diese Liebesbezeugung wehrt. Ich lese zwischen den Zeilen, dass der Evangelist Lk das Beispiel der Frau sogar nachahmenswert findet. Und bin doch so froh, dass Jesus am Schluss nicht etwa zu den Jüngern oder zum Pharisäer sagt: „Gehe hin und tue desgleichen!“
Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mir zu sehr überlege, was andere von mir halten bzw. über mich denken könnten. Und zu wenig darüber nachdenke, wie ich meine Liebe zu Christus zeigen könnte. Dazu ist mir hemmungsloses Ausleben von Gefühlen eher suspekt. Theatralik und grosse Gesten sind auch nicht unbedingt mein Ding. Ausserdem überlege ich: Wie missverständlich ist eine solche Szene! Wie leicht liesse sie sich medial ausschlachten. Was hätte denn – das Gedankenspiel sei erlaubt — der galiläischer ‘Blick’ über die von Lk berichtete Szene geschrieben? Die Schlagzeile hätte lauten können: ‘Hat Jesus eine Geliebte?’ Oder: ‘Wunderheiler zappelt im Netz einer Prostituierten!‘ Nicht gerade gute Publicity, die man an den Kiosken rund um den See Genezareth hätte lesen können. – Und so ertappe ich mich beim Gedanken: “Ich will doch nicht Opfer einer medialen Schlammschlacht werden, nur weil mir Jesus wichtig ist!”
Ja, ich habe Vorbehalte, dem Beispiel dieser Frau zu folgen. Der Preis scheint mir zu hoch. Ich kann und will meine Liebe zu Christus anders, unauffälliger leben!
Andererseits: Vielleicht zeigen meine Vorbehalte ja nur, dass meine Liebe kleiner ist bzw. dass ich sie kleiner halte. Sie halten mich auf sicherem Abstand zu Jesus. Dafür behalte ich die Kontrolle. Die Vorbehalte dämpfen meine Hingabe an Jesus. Die Rücksicht auf (bzw. Angst vor) die Meinung der anderen und der Wunsch, selbst alles im Griff zu behalten — verhindern sie nicht sogar ein Wachsen meiner Liebe zu Christus? Es könnte sein, dass ich mir da selber im Weg stehe und dafür verantwortlich bin, dass mein Glaubensfeuer manchmal schwächelt.
Aber: Wenn es stimmt, was wir Christen fast pausenlos wiederholen, dass die Beziehung zu Christus das Entscheidende im Leben ist, wenn wirklich nichts wichtiger ist als der Glaube — dann sind solche Vorbehalte, Sorgen und Ängste denkbar dumm und falsch. Dann hat Lk völlig recht, wenn er uns empfiehlt, das Beispiel dieser Frau nachzuahmen. Dann zählen weder das Stirnrunzeln der Beobachter noch die Proteste der Wächter über Anstand, Moral und Ordnung. Dann zählt nur, dass ich Christus liebe und dass dies zum Ausdruck kommt.
Wie, d.h. in welcher Form dies geschieht, ist weniger wichtig. Die Frau hat ihr schon vorher vertraute Ausdrucksformen genutzt, um ihre Liebe zu Christus zu zeigen. Ich muss ihren Auftritt nicht kopieren. Ich darf meine Liebe zu Christus so zeigen, wie ich es am besten kann. Dabei darf ich auf die mir vertrauten und von mir geübten Formen zurückgreifen. Ich könnte versuchen, eine Geschichte für Jesus zu schreiben, ich könnte ihm ein Lied (vielleicht gar ein selbstgemachtes) singen. Jemand anders mag es z.B. lieber mit Blumen sagen und den Raum, in dem Jesus zu Gast ist, schmücken.
Was immer Du kannst. Zeige Jesus Deine Liebe mit dem, was Du am besten kannst. ‘Give God your best!’ (® Motto der Willow-Creek-Gemeinde), wie die Amerikaner sagen. Tu, was immer Du tust, so gut wie nur möglich, um Deiner Liebe zu Christus Ausdruck zu verleihen. Ob es Deinen Mitmenschen auch gefällt, ist weniger wichtig. Zum Nachdenken bringen wird es den einen oder die andere! Und Jesus wird Deine Liebe verstehen und Deine Hingabe zu schätzen und zu würdigen wissen.
II. Was mich bei dieser Geschichte darüber hinaus nicht ganz loslässt, ist das Gleichnis von den beiden Schuldnern, das Jesus dem Pharisäer Simon erzählt. Vor allem die Schlussfolgerung hallt nach: “Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig!”
Ist das die Erklärung für die manchmal sehr gemässigte Temperatur unserer Leidenschaft? Wir alle sind anständige, gesittete und unbescholtene Bürgerinnen und Bürger. Wir haben uns weniger zuschulden kommen lassen als z.B. jemand, der im Milieu Karriere gemacht hat, der für Gewinn alle Regeln missachtete oder für Macht über Leichen ging. Jesus hat uns vielleicht tatsächlich weniger vergeben müssen als anderen. “Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig!” Ist das eine akzeptable Entschuldigung für lauwarme Frömmigkeit? Oder bedeutet es umgekehrt, dass bei Jesus gar keine Chance hat, wer nicht wenigstens einmal richtig unten durch musste im Leben?
Letzteres kann kaum gemeint sein. Es wäre ja das Gegenteil des gesamtbiblischen Cantus firmus: “Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen:” (1.Tim 2,4). Andererseits ist es gewiss auch nicht Jesu Absicht, eine Ausrede für halbherziges Engagement zur Verfügung zu stellen.
“Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig!” — Darin steckt eine Mahnung an langjährige Gläubige, die sich zu sehr an die Liebe Christi gewöhnt haben könnten. Und es ist eine Warnung vor Überheblichkeit: Simon kam sich — nachvollziehbar — besser vor als die Frau, die sein Gastmahl störte. Er engagierte sich seit langem für Glauben und Leben. Er hatte nicht nur keine Verbrechen begangen, sondern überhaupt ein untadeliges Leben geführt. Er war ein vorbildlicher Frommer, wie er im Buch stand. Darauf war er schon etwas stolz und das verleitete ihn sogar einen Moment lang dazu, über Jesus urteilen statt auf ihn zu hören und ihm zu vertrauen. Das war falsch! Mit seinem Gleichnis und mit seinem Verhalten der Frau gegenüber mahnt Jesus Simon, sich nicht über jene erhaben zu fühlen, die verpfuschte Jahre hinter sich haben. Die Frau steht gleichwertig und gleichberechtigt neben dem Pharisäer.
Darüber hinaus erinnert das Gleichnis Simon daran, dass auch er ganz auf die Gnade Gottes angewiesen ist und bleibt: + Selbst für vorbildliche Gläubige gilt Jesu Wort: „…ohne mich könnt ihr nichts tun!“ (Jh 15,5). Wir sind und bleiben ganz von Christus abhängig. Nur mit und dank ihm sind wir ganz.
Es ist deshalb müssig, über grössere oder kleinere Schuld zu spekulieren? Zu quantifizieren bringt nichts. Es verleitet höchstens dazu, sich selbst in ein zu gutes Licht zu stellen (z.B: „… so schlimm bin ich ja nicht. Und andere sind sicher viel schlimmer!“). Dabei geht leicht vergessen, wie unglaublich viel Christus für mich getan hat und tut. – Ich halte wenig davon, eigene Sünden wieder und wieder zu bejammern und sich klein, armselig und elend zu fühlen. Das müssen wir nicht. Weil Christus uns ganz und stark macht. Aber dieses Geschenk zu vergessen oder sich daran zu gewöhnen, wäre auch nicht ratsam. Christus ist unser Ein und Alles. Dank ihm leben wir, dank ihm sind wir frei. In der Frau, von der Lukas erzählt, ist dieses Bewusstsein übermächtig geworden. Deshalb tut sie, was andere irritiert oder sogar ärgert: Sie zeigt ihre Liebe und Dankbarkeit Jesus gegenüber auf ihre eigene, ganz originelle Weise. Dieses Bewusstsein, Christus alles zu verdanken, diese Freude an und Liebe zu ihm und die Fähigkeit, das anderen zu zeigen – davon wünschte ich mir mehr.
Dazu will Lk mit der Geschichte von den beiden Schuldnern uns helfen. Er erzählt sie nicht, um damit unser Gewissen zu belasten und uns traurig zu stimmen. Sondern um uns zu erinnern: Auch Dir hat Christus vergeben! Auch Du bist von ihm befreit! Vergiss das nicht. Dämpfe die Freude darüber nicht. — Lk wünscht sich nichts mehr, als dass alle seine LeserInnen Feuer und Flamme werden für diesen Jesus, der sie zum Leben befreit und befähigt. Und er wünscht uns die übermächtige Christusliebe der Frau, die das Gastmahl des Pharisäers Simon bereicherte. Amen