Predigt am 04.09.2022 in der EMK Adliswil
was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei? – Die sprichwörtlich gewordene Frage ist unbeantwortbar. Denn es kommt jedes Huhn aus einem Ei und jedes Ei aus einem Huhn.
Und wie ist es beim Hören und Reden? Was war zuerst? Was ist wichtiger? Gibt es darauf eine Antwort? – Viele Menschen heute verhalten sich, als wäre das Reden wichtiger. Man muss sich ja ausdrücken können, sich zu verkaufen wissen. Wer nicht präzis und elegant formulieren kann, erreicht nichts. Wer aber über gute sprachliche Fähigkeiten verfügt, diese noch mit entsprechender Mimik, Gestik, Klangfarbe unterstützen kann, kommt vorwärts. Und wer die Kunst der Kommunikation in verschiedenen Sprachen beherrscht, dem sind kaum Grenzen gesetzt. Also: Das Reden ist wichtiger, kommt zuerst! – Oder vielleicht doch nicht?
Tatsache ist doch, dass nur Reden lernt, wer Zuhören kann. Kleinkinder lernen über Nachahmung reden. Dabei spielt das Zuhören eine entscheidende Rolle: Ein Baby kann sich zunächst durch Rufen oder Schreien bemerkbar machen. Aber schon bald beginnt es, die Menschen um sich herum zu beobachten. Es hört genau hin, zuerst auf den Klang der Stimme, dann auf Laute, dann auf Worte. Und so lernt es. Sein Schreien bekommt verschiedene ‚Tonarten‘. Es beginnt, mit seiner Stimme, seiner Zunge, seinem Mund zu experimentieren. Gesten, Blickkontakte, Mimik unterstützen mehr und mehr. Und so entwickelt das Kind seine Sprache. Was zunächst oft noch sehr originell klingt, wird immer verständlicher. Und schon bald kann man mit dem Kind reden, ihm Geschichten erzählen, Anweisungen geben, seine Fragen beantworten.
Demnach kommt das Hören vor dem Reden. Wer nicht hören kann, hat es schwer, verständlich zu reden. Darum ist es z.B. für Gehörlose sehr schwierig, die Sprache der Hörenden klar und verständlich zu artikulieren. Selbst für Menschen mit eigentlich funktionstüchtigen Ohren gilt: Wer nicht zuhört, wer nicht auf sein Gegenüber eingeht, redet an seinen Mitmenschen vorbei, beantwortet Fragen, die keiner gestellt hat oder referiert über Themen, die niemanden interessieren… wird also wenig Erfolg haben beim Reden.
Das Hören kommt also zuerst, ist wichtiger. Genauer: Das Zuhören. Es geht um mehr als ‚technische‘ Hörfähigkeit. Es geht darum, das Gesagte aufzunehmen, auf das Gegenüber einzugehen. Im Deutschen kann Hören beides bedeuten. Viele Sprachen aber unterscheiden: ascoltare – sentire (ital.); écouter – entendre (frz.); listen – hear (engl.), genauso übrigens der CH-Dialekt: lose – ghöre. Also: Zuerst Reden oder zuerst Hören? Ganz klar: Zuhören.
Vorhin haben wir gesungen: Herr, gib uns Mut zum Hören. – Braucht Zuhören Mut? Wenn ja, warum? – Jedenfalls ist Zuhören, Hinhören, keine Selbstverständlichkeit. Es bedeutet Aufwand, braucht Energie, kostet etwas.
- Wer zuhören und auf seine Mitmenschen eingehen will, muss aus dem eigenen ‚Tramp‘ ausbrechen. Den Rhythmus, den eigene Ziele vorgeben, verlassen und die Hektik des eigenen Alltags hinter sich lassen. Dazu braucht es Zeit. Allein schon, diese einzusetzen, bedeutet einen Aufwand.
- Darüber hinaus muss ich, wenn ich jemandem zuhören will, meine eigenen Gedanken und Ansichten zurückstellen. Ich muss relativieren, was ich schon über mein Gegenüber zu wissen meine. Vorurteile sind loszulassen. Vielleicht ist es ja ganz anders, will mein Mitmensch etwas ganz anderes sagen als ich erwarte. Und vielleicht versteht er etwas besser, weiss er mehr als ich. – Ich muss also Vorschussvertrauen in die Begegnung einbringen und bereit sein, mich korrigieren zu lassen. Das braucht u.U. tatsächlich auch etwas Mut.
- Ausserdem begebe ich mich damit auf unsicheren – freilich auch: verheissungsvollen – Boden. Ich kann nicht schon zum Voraus wissen, was bei einem Gespräch herauskommen wird. Ich kann auch meine Reaktion/Antwort nicht schon festlegen, bevor ich hingehört habe. Ich lasse mich vielleicht auf ganz Neues ein, wenn ich richtig, sorgfältig zuhöre. Auch deshalb braucht es Mut, zuzuhören.
Wurzeln in unserer Welt und Gesellschaft nicht viele Probleme u.a. darin, dass viel zu selten der Mut, die Zeit und die Sensibilität aufgebracht werden, um wirklich zuzuhören? Ich meine zu beobachten, dass der Mut zum Zuhören selten geworden ist. Dagegen ist die Tendenz dazu, viel und laut zu reden, oft übermächtig. Und so ertrinken wir fast in einer Flut von Wörtern. Wir leiden unter der damit einhergehenden Inflation (→ Entwertung) der Sprache. Da hilft es wenig, dass viele sich rhetorisch durchaus gekonnt verkaufen. Was nützt das, wenn niemand zuhört? Es gibt zu viele, die reden und zu wenige, die zuhören. Und so reden Menschen oft nicht miteinander. Sondern sie kämpfen gegeneinander um Aufmerksamkeit. So reden sie aneinander vorbei. Oder reden/schreien gegeneinander an. Hören nicht zu, sondern interpretieren einander aufgrund der eigenen Einschätzung.
Wir hören einander zu wenig zu (® ich rede von der ganzen Gesellschaft, nicht ‚nur‘ von uns Christen) Weil wir meinen, uns die Zeit dafür nicht leisten zu können. Weil die Angst um die eigene Bedeutung unsere Wertschätzung füreinander einschränkt. Weil der Takt unserer alltäglichen Hektik und die Leistungsziele, die wir uns setzen das Zuhören als Luxus erscheinen lassen, den wir uns nicht leisten zu können meinen.
Im Ergebnis tendieren wir zur Taubheit und sind vielleicht sogar – trotz geschliffenem Mundwerk – stumm. Wir sind wie einer, den man zu Jesus brachte, der …. so müsste man Mk 7,32 wörtlich übersetzen: „…nichts hörte und deshalb nur schlecht reden konnte.“ Stehen wir als ganze Gesellschaft wie er vor Jesus und bedürfen der Heilung unserer Kommunikation?
Ich lese aus Mk 7,31–37
Danach verließ Jesus die Gegend von Tyrus wieder. Er kam über Sidon zum See von Galiläa, mitten ins Gebiet der Zehn Städte. Da brachten Leute einen Taubstummen zu ihm. Sie baten Jesus: »Leg ihm deine Hand auf.« Und Jesus führte ihn ein Stück von der Volksmenge weg. Er legte seine Finger in die Ohren des Taubstummen und berührte dessen Zunge mit Speichel. Dann blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: »Effata!« Das heißt: »Öffne dich!«Und sofort öffneten sich seine Ohren, seine Zunge löste sich und er konnte normal sprechen. Und Jesus schärfte ihnen ein, nichts davon weiterzuerzählen.ber je mehr er darauf bestand, desto mehr machten sie es bekannt. Die Leute gerieten außer sich vor Staunen und sagten: »Wie gut ist alles, was er getan hat. Er macht, dass die Tauben hören und dass die Stummen reden können .«
I. Exegetisches
Das ist besondere Heilungsgeschichte. Mk berichtet ausnahmsweise detailliert über das ‚therapeutische‘ Vorgehen Jesu. Daraus lassen sich Ansätze für Heilung gestörter Kommunikation ableiten. – Mk zeigt, dass Jesus sehr konzentriert auf diesen ‚Taubstummen‘ eingeht. Und er macht deutlich, dass genau dieses Eingehen auf den Patienten diesen heilt. Dabei hat die Therapie/Heilung drei Schritte/Phasen:
- Herz: Jesus nimmt den Kranken beiseite. Er konzentriert sich ganz auf ihn. Durch ungeteilte Zuwendung, durch Berührungen und Gesten spricht er sein vor Einsamkeit krankes Herz an. Der Taube merkt: Ich bin wahrgenommen. Ich bin Jesus wichtig. Er kümmert sich um mich. –Jesus kommuniziert in dieser ersten Phase ohne Worte, nur nonverbal – logisch: sein Gegenüber hört ja nichts. Und doch erlebt sich der Kranke so als wertgeschätzt, respektiert, ernst genommen. So wird er offen für Jesus und sein Tun.
- Ohren: Dann wendet sich Jesus dem vordergründigen Hauptproblem, den Ohren, zu. Er berührt die verschlossenen Organe. Sein Seufzen ist als Äusserung des Mitgefühls zu verstehen, aber auch als Gebet. Und die Aufforderung ‚öffne dich‘ ist nicht nur das heilende Wort für die kranken Ohren. Es ist zugleich die Einladung: Öffne dich in ganzheitlichem Sinn für Gottes Wirken und für deine Mitmenschen. – Es geschieht also zweierlei: Jesus entfaltet seine heilende Kraft. Und der Patient wird eingeladen, sich auf diese Kraft Gottes einzulassen, sich ihr zu öffnen. Es geht nicht nur um Reden und Hören, sondern insgesamt um die Beziehung zu Gott.
- Zunge: Zum dritten Schritt hält Mk fest, dass sich die ‚Fessel seiner Zunge‘ löst. Das bewirkt vordergründig die für unser Empfinden sonderbaren Therapie: Jesus berührt die Zunge des Kranken mit seinem Speichel. Eigentlich ist es vor allem Folge des geheilten Gehörs. Weil er nun gut hören kann, wird der Patient auch fähig, klar und verständlich zu reden. – Man darf aber durchaus auch im weiteren Sinne interpretieren: Dank der intensiven Zuwendung durch Jesus lösen sich Blockaden, Krämpfe und Verkrustungen im Patienten und er wird kommunikationsfähig.
Zusammengefasst: Indem ihm Hörfähigkeit geschenkt, wird der vormals Taubstumme kommunikationsfähig. Das deckt sich mit unserer Erfahrung: Als RednerInnen beeindrucken uns Menschen, die uns das Gefühl geben, verstanden zu sein. Wenn ich jemandem anmerke/glauben kann, dass er meine Situation, meine Bedürfnisse versteht, dann werde ich bereit und fähig, mich ihm zu öffnen, d.h. ihm zuzuhören. Gute Kommunikatoren machen – wie man dem in der Predigtlehre sagt – eine Hörerbesinnung … und wecken damit die Bereitschaft zum Zuhören. Sie hören denen, zu denen sie sprechen, zu oder überlegen sich wenigstens: Wo und wie sind meine ZuhörerInnen von dem, was ich sagen will, betroffen? Welche Fragen und Gefühle könnten sie im Blick auf mein Thema haben? … etc. – Zuhören ist eine wesentliche Voraussetzung für gelingendes Reden. Zur Heilung in unserer Geschichte trägt beides bei: Dass Jesus auf den Taubstummen hört/eingeht. Und dass der Taubstumme ganz auf Jesus hört/ausgerichtet ist.
II. Zuhören lernen
So lese ich diese Heilungsgeschichte als eine herzliche Einladung und ernste Mahnung, dem Zuhören mehr Aufmerksamkeit zu geben. Üben, lernen zuzuhören. Das ist ein, wenn nicht der Schlüssel für eine verbesserte Verständigung, zwischen Menschen, aber auch zwischen Mensch und Gott. – Dazu nun abschliessend einige kurze biblische Gedankenanstösse als Motivation.
a) Der Glaube kommt aus dem Hören (Röm 10,17)
Hören, zuhören, ist die Voraussetzung zum Glauben. Luther übersetzte Röm 10,17 etwas tendenziös und pfarrerfreundlich mit: „Der Glaube kommt aus der Predigt!“ Die meisten anderen Bibelübersetzung haben das korrigiert zu: Der Glaube kommt aus dem Hören. – Nur schon deshalb ist die Entwicklung, Förderung, Heilung unserer Hörfähigkeit unglaublich wichtig. Wer nicht zuhören kann, kann nicht glauben, lernt nicht zu vertrauen.
b) Sich von Gott das Ohr wecken lassen (Jes 50,4.5a)
Zugleich ist diese Hörfähigkeit, die Glauben möglich macht, ein Geschenk. Mir können und müssen es nicht erleisten. Das zeigt die Passage aus dem 3. Gottesknechtslied, die wir ganz zu Beginn des Gottesdienstes gehört haben, sehr schön: „Gott, der Herr ….lässt mich jeden Morgen aufwachen mit dem Verlangen, ihn zu hören. Begierig horche ich auf das, was er mir zu sagen hat. Er hat mir das Ohr geöffnet und mich bereitgemacht, auf ihn zu hören.“
c) Liebe als Schlüssel zum Zuhören (Jh 13,34f; Mk 12,29f par)
Wer sich mitteilen, eine Botschaft an den Mann bzw. die Frau bringen will, muss wie Jesus in dieser Heilungsgeschichte intensiv auf sein Gegenüber eingehen. Den Mitmenschen mit seiner ganz eigenen Geschichte wahrnehmen. Empathie entwickeln für seine Gedanken, Fragen, Gefühle. Dem Gegenüber respektvoll, liebevoll, rücksichtsvoll begegnen.
So landen wir schliesslich beim Liebesgebot als Voraussetzung für gelingende Kommunikation, also z.B. bei Jh 13,34f: „Ich gebe euch jetzt ein neues Gebot: Ihr sollt einander lieben! Genauso wie ich euch geliebt habe, sollt ihr einander lieben.“ Wobei mir in diesem Zusammenhang die markinische Formulierung des Doppelgebotes noch lieber, weil vollständiger ist: „Liebe Gott von ganzem Herzen … und liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!“ (Mk 12,29f). Liebe ist ein Schlüssel zum Zuhören (und Verstehen). Wenn es stimmt mit meiner Beziehung zu Gott, zum Mitmenschen und zu mir selbst, dann kann sich auf dieser Basis eine gute Kommunikation entwickeln.
d) Pfingsten: Aus dem Hören heraus reden können
Die Schriftlesungen, die wir gehört haben, zeigen, was Verständigung verhindert und was sie fördert. Beim Turmbau zu Babel ging es um den Traum von Grösse und Unsterblichkeit. Menschen die diesem Traum frönen, fokussieren sich zu sehr auf sich. Dabei geht die Verständigung verloren.
Menschen, welche die grossen Taten Gottes verkündigen wollen (® wörtliches Zitat aus der Pfingstgeschichte) hingegen, werden verstanden, sogar über die Grenzen von Sprache und Kultur hinweg. Wobei wohl ausgesprochen wichtig ist, dass dem Pfingstwunder eine 50tägige Zeit des Schweigens, Betens, auf Gott Hörens vorausging. Damit ist Apg 2 ein sehr starker Hinweis darauf: Nur aus dem Hören heraus kann man so reden, dass auch Verständigung erzielt wird.
Also: Die Einladung/Aufforderung heute ist: Arbeitet mit Gottes Hilfe an eurer Hörfähigkeit – auf Gott und auf eure Mitmenschen. Es lohnt sich. Denn darin liegt der Schlüssel dafür, verstanden zu werden. Nur aus dem Hören heraus kann die gute Nachricht, das Evangelium, überzeugend und glaubwürdig kommuniziert werden. Amen