Predigt am 06.11.2022 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
Gratulation! Sie haben es geschafft. Das Ziel erreicht! – Jedenfalls, wenn man dem Beter des 84. Psalms glaubt. Wir haben es in der Schriftlesung gehört. Der Gottesdienst ist für ihn der Ort, wo sich alle Sehnsüchte und Hoffnungen erfüllen. Nicht weniger als das Paradies. Also: Gratulation, sie haben das Paradies erreicht!
Haben Sie damit gerechnet, als Sie heute Morgen hierher aufgebrochen sind? Vermutlich waren Ihre Erwartungen bescheidener. Sie sind gekommen, weil das eben zum Sonntag gehört. Oder weil Sie sich darauf freuten, die Bandlieder mitzusingen. Oder war es die Aussicht auf Kaffee, Zopf und Butter, die Sie aufbrechen liess? Der Wunsch nach Gesprächen?
Der Gottesdienst als Paradies? Als Ort der ungetrübten Begegnung mit Gott? – Sicher: Ich und alle anderen Beteiligten geben uns alle Mühe. Doch das Paradies können wir nicht erschaffen. Nicht einmal für einen flüchtigen Moment. Und doch, das glaube ich fest: Es kommt vor, nicht einmal selten, dass Gottes Gegenwart zu erahnen ist im Gottesdienst. Vielleicht sogar spürbar, fast greifbar wird. Aber das ist erstens ein Geschenk Gottes. Und zweitens ist es weniger vom Rahmen als von der Bereitschaft der TeilnehmerInnen abhängig, sich für die Begegnung mit Gott zu öffnen.
Natürlich. Beim Schreiben hatte der Dichter von Psalm 84 nicht einen methodistischen Gottesdienst vor Augen. Er dachte auch nicht an die Situation in einer CH-Agglomeration des 21. nachchristlichen Jahrhunderts. Er dachte an den Tempel in Jerusalem. Das Haus, in dem Gott wohnte. Das für Israel der Ort von Gottes Gegenwart war. Bis die Babylonier es 589 v.Chr. zerstörten.
Dieser Psalmist könnte ein verhinderter Festpilger sein. Er möchte in Jerusalem feiern. Mit vielen anderen und im Angesicht Gottes. Aber er konnte nicht hinreisen, warum auch immer. Jetzt verzehrt er sich vor Sehnsucht nach dem Tempel. Nirgends wäre er lieber. Aber es geht eben nicht: „Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.“ Ein verhinderter Festpilger. Er sitzt weit weg von Jerusalem zu Hause und hat doch Heimweh. Weil er empfindet, dass der Tempel der Ort sei, wo er wirklich hingehöre. Ganz bei Gott, ganz in Gottes Gegenwart. Da wäre er zu Hause. Geborgen. Da würde seine Seele aufatmen. Er wäre sicher wie ein Vogel in seinem Nest. Am Ort, wo, bildlich gesprochen, die Schwalbe ihre Jungen aufziehen kann ohne die Nachbarskatze zu fürchten. An dem Ort, an dem einfach alles stimmt.
Beim lebendigen Gottes wäre der Beter ganz er selber. Er würde finden, was ihm fehlt: Liebe, Anerkennung, Glück. In Der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer könnte er genauso Mensch sein, wie Gott ihn gemeint hat. Er glaubt: Bei Gott gibt es ein Leben, das nicht total von den tagtäglichen Sorgen bestimmt ist. Ein Leben unabhängig von Zwängen, Nöten, und Erwartungen. Das Leben, wie es von Gott geschaffen und gemeint ist.
So sitzt dieser verhinderte Festpilger — und deshalb: Beter — zu Hause. Die Sehnsucht nach Gott brennt in ihm. Er möchte im Tempel, im Gottesdienst sein. Und ist so in seinem Herzen tatsächlich auf dem Weg zum Haus Gottes. Darum singt er seinen Psalm, sein Lied. So ist er innerlich sehr wohl unterwegs. — „Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten, die Pilgerstrassen im Herzen haben.“ Die Pilgerreise ist eine Lebensreise, Pilgern nicht als Lifestyle, sondern als Lebensform.
Menschen, die so unterwegs sind, wissen, dass sie nicht einfach davonlaufen können aus ihrer Welt. Es geht nicht um Flucht aus der Wirklichkeit. Sondern um die Suche danach, was unsere Lebenswirklichkeit hält. Sie strecken sich aus nach der Kraft, dieses Leben gut zu gestalten. „Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen.“ Sie müssen durchs dürre Tal, wir alle müssen da durch. Aber die Pilger singen das Lied der Hoffnung, dass im dürren Tal der lebendige Gott entgegen kommt. Das Lied vom Vertrauen, dass Gott paradiesische Momente schenkt. Gerade da, wo niemand sie erwarten würde.
So drückt sich aus: Die Sehnsucht nach gelingendem und vollem Leben. Der Wunsch, glücklich zu sein. Das Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe. Die tiefe Sehnsucht, ganz zu Hause zu sein, bei Gott. – Der Glaube lässt uns hoffen, lässt uns vertrauen, dass es diesen paradiesischen Ort gibt. Dass die Sehnsucht sich erfüllen wird. Und sogar, dass ein Vorgeschmack jetzt schon spürbar ist.
Aber wir können über diesen Ort nicht verfügen. Werden seiner nicht habhaft. Behalten das Heimweh danach. Je mehr wir ihn erahnen, je stärker wir Gott spüren, desto mehr.
Es ist ja schon schwierig: Das Vertrauen auf Gott, der Traum von Ganzheit und Heilung, ist in unserer zerrissenen, kaputten, heillosen Welt akut bedroht: Alle sehnen sich nach Frieden, und doch siegt immer wieder die Gewalt. Einige sind unvorstellbar reich … und machen damit viele andere arm, zwingen sie, am Hungertuch zu nagen. Schockiert sehen wir ökologische Katastrophen sich entwickeln und schaffen es doch nicht, unser Verhalten zu ändern. Guter Wille allein reicht schon lange nicht mehr um zu verhindern, dass die Lebenschancen später Geborener gefährdet sind. – Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Fürchten, dass noch das Bestgemeinte total falsch sein könnte. Oder jedenfalls viel zu wenig, um einen Unterschied zu machen.
Dazu kommen Fragen zum persönlichen Leben und Glauben: Bin ich gut genug? Liebe ich genug? Glaube ich genug? Teile ich genug? Gönne ich mir genug? Tue ich, was meine Aufgabe ist? …
Was hält uns angesichts irdischer Unsicherheit auf den Beinen, wenn nicht die Sehnsucht nach Gottes Gegenwart? Wenn nicht das Heimweh nach dem Paradies? Wenn nicht das Vertrauen, dass Gott uns und der Welt zugewendet bleibt? – All das kultivieren wir im Gottesdienst. Davon spricht der Beter von Psalm 84. Wir brauchen unsere Gottesdienste. Nicht, weil sie uns Lösungen für die Probleme der Welt liefern. Nicht, weil sie uns das schnelle Glück versprechen. Sondern weil sie uns hoffen lehren und weil sie uns feiern lehren.
Zu feiern ist sehr wichtig, gerade für angefochtene Leute in einer unsicheren Welt. Zu feiern ist wichtig, gerade auch, wenn einem nicht danach ist. Denn das Feiern eines Gottesdienstes zeigt, was uns wichtig ist. Wir finden darin Befreiung von Resignation und Zweifel. Zu Feiern unterbricht den Alltag und erinnert daran, dass es mehr gibt. Wer auch mal feiert, hat mehr vom Leben. Wenn wir Gottesdienst feiern, feiern wir den Grund unseres Lebens: Den lebendigen Gott, der uns das Leben geschenkt hat und der es mit uns lebt. Diesen Gott zu loben ist so wichtig: „Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.“
Der Beter von Psalm 84 möchte nicht nur zum Tempel pilgern. Am liebsten bliebe er für immer dort. Das wäre das Beste, das ganze Leben bei Gott zu verbringen. Dann wäre jeder Tag ein Feiertag und das ganze Leben ein Gottesdienst. — Ist das realistisch? Für den Psalmbeter im Moment ja nicht. Er sitzt zu Hause und beneidet die, die im Tempel sein können. Aber wenigstens in Gedanken, in seinem Herzen ist er unterwegs. Er lebt in einer Haltung des Pilgerns. Darauf liegt ein Segen. Er ist sich bewusst, auf dem Weg zu sein. So kommt er Gott und Gott ihm näher.
Für die Beter der Psalmen war der Tempel in Jerusalem noch der Ort der Sehnsucht. Da wohnte Gott. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. mussten die Gläubigen lernen, ohne diesen Sehnsuchtsort auszukommen. Ohne diesen Ort, aber nicht ohne Gott. Wir Christen haben keinen solchen heiligen Ort. Aber das Jh-Ev redet davon, dass der auferstandene Christus selbst der neue Tempel ist (vgl Jh 2,18–22). Das ist eine ganze neue Sicht, geradezu revolutionär: Ort der Gegenwart Gottes ist nicht mehr ein Prachtbau, das die Macht und Herrlichkeit Gottes zeigt. Sondern ein Mensch, der ein einfaches Leben führte und gekreuzigt wurde wird zum der Ort, wo Gott ganz gegenwärtig ist. Gott zieht zu den heimatlosen Menschen.
Wir können (noch) nicht bei Gott wohnen. Wir bleiben im dürren Tal, unterwegs. Aber Gott geht mit uns. So bleibt das Leben in der Gegenwart Gottes kein unerfüllbarer Wunschtraum. Er erfüllt sich, wo wir miteinander unterwegs sind und Gott vertrauen: In unseren Wohnungen und da, wo wir arbeiten, in Begegnungen und Gemeinschaft, im Engagement für eine bessere Welt, im Beten und Feiern, in unserer Nachfolge Jesu Christi.
Wir leben noch nicht im Paradies. Oft braucht es viel Kraft, unsere Weg durchs Leben zu gehen. Und doch bleiben wir in dieser Welt nicht heimatlos oder heimwehkrank. Weil wir miteinander und mit Christus verbunden sind. Weil wir in ihm bei Gott zu Hause sind. Im Feiern und Arbeiten, im Empfangen und Krampfen geht er mit uns. Er nährt unsere Sehnsucht und lässt uns weiter gehen, Schritt um Schritt näher zum Ziel. – Auch dieser Gottesdienst ist wohl nicht das Paradies, aber hoffentlich doch ein kleiner und guter Vorgeschmack darauf.
Bei Gott zu Hause – das ist meine Themenformulierung für diesen Gottesdienst. Ich schliesse damit, was dieses Heimatgefühl bei Gott bewirkt: Wer sich bei Gott zu Hause weiss, kann wie Jesus auf diesem Bild, im grössten Sturm ein Schläfchen halten. Bleibt im Tohuwabohu, in Trubel und Chaos ruhig und entspannt, voller Vertrauen. – Dieses Bild von Kees de Kort ist mir gerade wieder, nicht zum ersten Mal in meinem Leben, sehr wichtig geworden.
Die Salbung, die wir im Anschluss anbieten, bedeutet nicht weniger als den Zuspruch: Egal, welche Wellen Dein Lebensschiff gerade herumwerfen: Du bist geborgen bei Gott. Du kannst Dich ganz auf ihn verlassen. Noch mitten im Sturm ist er ganz bei Dir. Du bist zu Hause bei Gott, darfst ruhig und entspannt sein. Amen