Predigt am 20.11.2022 in der EMK Adliswil
im November liegt der Gedanke an Vergänglichkeit und Tod näher als in anderen Monaten: Die meisten Bäume haben ihre Blätter abgeworfen. Wo sie noch an den Ästen hangen, ist die Leuchtkraft der herbstlichen Farben vorbei. Die Tage sind kurz geworden. Und oft bleibt es selbst mitten am Tag grau, neblig, düster. – Zwar lässt sich irgendwie auch ein Neuanfang schon ahnen. So mild, wie es bisher war, wächst das Gras noch immer etwas nach. Manche Knospen haben sich schon entwickelt. Und da oder dort blüht schon eine vorwitzige Frühlingsblume … um die man sich aber Sorgen machen muss. Noch ist der Neuanfang bedroht. Schliesslich: Die Kälte wird schon noch kommen.
Die Lesungen an den letzten Sonntagen im Kirchenjahr nehmen diese Stimmung auf: Darin geht es oft um die Vergänglichkeit irdischen Lebens, um Sterben und Vergehen. Andere Texte aber setzen hoffnungsvolle Gegenpole: Darin wird z.B. ein neuer Himmel und eine neue Erde versprochen. Es geht dann um die ewige Herrlichkeit in Gottes Nähe. In diesen Zusammenhang z.B. der Psalm 126. Ein Gebet, das den Blick über irdische Vergänglichkeit hinaus auf Gottes unzerstörbare Zukunft lenkt. – Hören Sie auf diesen Psalm in der neuen Übersetzung der Basis Bibel. Nachher werde ich in der Predigt dann auch noch etliche Zeilen im Luther-Deutsch zitieren:
Ein Lied für die Pilgerreise
1) Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete:
2) Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
3) Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.
4) Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
5) Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
6) Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt. Psalm 126 (Basis Bibel)
Das ist ein Lied für die Pilgerreise, bzw. wie Luther es nannte: ein Wallfahrtslied. In älteren Bibelausgaben steht über diesem Psalm manchmal auch: „Ein Lied im höhern Chor“. Das hebräische Wort im Urtext lässt sich nur schwer in die deutsche Sprache überführen. Aber es ist sicher richtig, dass der Psalm in den Zusammenhang von Pilgerreisen nach Jerusalem gehört. Und dass etwas von den ‚Liedtexten‘ in der Vollendung anklingt, ist auch offensichtlich.
Vermutlich wurde Psalm 126 also ursprünglich von Menschen gebetet/gesungen, die unterwegs waren zum Tempel in Jerusalem. Dorthin reise man, um in der Gegenwart Gottes Kraft und Sicherheit zu tanken. Man feierte mit vielen anderen Menschen grossartige Gottesdienste. Die Freude am Gott Israels wurde zelebriert und ausgekostet. Das war so eindrücklich, dass in den Psalmen zahlreiche Stellen den Wunsch ausdrücken, nahe bei Gott nicht nur zu sein, sondern zu bleiben. Für immer im Tempel wohnen zu können, das wäre das Allerbeste. Diese Sehnsucht verband die Gläubigen Israels.
Darüber hinaus werden die Formulierungen von Psalm 126 transparent für die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. So jedenfalls wurde es in der christlichen Tradition immer wieder aufgefasst. Dann wäre dieser Psalm auch zu verstehen als ein Wallfahrtslied auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem. – Folgen wir nun auch mit dieser Perspektive den Formulierungen dieses Gebets:
In der Lutherbibel beginnt Psalm 126 so: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ Solche Momente kennen wir wohl alle. Bei ausserordentlichen Erlebnissen, angesichts einer freudigen Überraschungen, fragt man sich manchmal schon: Ist das echt? Ist das Wirklichkeit? Oder habe ich es vielleicht bloss geträumt? – Wenn das schon hier und jetzt so sein kann, um wieviel mehr werden wir das empfinden, wenn Gottes Liebe und Herrlichkeit offensichtlich werden? Wenn wir in seiner Vollendung ankommen? Es wird uns vorkommen wie im besten Traum ever. Wir werden kaum für möglich halten, was wir erleben. Wir werden uns vorkommen wie Träumende. Wir werden zunächst gar nicht für möglich halten, was wir da sehen und hören. Unvorstellbar gut wird das sein. Wie es in einem Kirchenlied heisst: „Kein Aug’ hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört solche Freude. Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für!“ (® EMK-GB 668,3 („wachet auf“, ruft uns die Stimme)). Gottes Vollendung ist ja nicht wirklich vorstellbar. Wir werden sein wie Menschen, die frisch aus dem Gefängnis befreit und grenzenlos glücklich sind. Wie im Traum erleben sie das neue Glück. Die Gefangenschaft ist wirklich vorbei.
Doch: Von welcher Gefangenschaft redet der Psalmist? Was ist gemeint? – Es liegt nahe, dass er vordergründig an die Gefangenschaft der Israeliten im Exil dachte: Ihre Heimat lag unerreichbar weit weg. Längst waren in der Fremde die nächsten Generationen herangewachsen. Sie kannten die Heimat nicht mehr aus eigener Erfahrung. Sie konnten sich ein Leben in Freiheit gar nicht mehr vorstellen. Die fremden Gebieter gehörten für sie zum Leben dazu. Zu leben ohne Unterdrückung und Gewalt, ohne Armut und Diskriminierung — sie hatten keine Ahnung, wie das wäre. Sie hatten keine Vorstellung vom Gottesdienst im Tempel. Die im Exil Geborenen kannten nur den Alltag in der Gefangenschaft voller Angst und Unfreiheit. Wie hätten sie sich unter diesen Verhältnissen vorstellen sollen, was es bedeutet, nicht mehr gefangen und frei zu sein?
Solches Erleben der verschleppten Israeliten berührt im übertragenen Sinne ein Lebensgefühl aller, die glauben und hoffen: Den neuen Himmel und die neue Erde, eine Situation, in der alles gut ist und Gott bei den Menschen wohnt, können wir uns nicht wirklich vorstellen. Wir kennen ja nur das begrenzte Leben und das gefährdete, flüchtige Glück auf dieser Welt: So viele schlechte Nachrichten jeden Tag. Krieg und Gewalt scheinen auf dem Vormarsch. Für jedes gelöste Problem tauchen zehn neue auf. Wünsche und Wirklichkeit klaffen auseinander. Unsere Möglichkeiten, grosse Veränderungen/Verbesserungen zu bewirken, sind sehr beschränkt. Und dann stehen wir uns manchmal auch noch selbst im Weg. Mit Ungeschicklichkeit. Mit mangelnder Bereitschaft, sich für das Miteinander und Füreinander zu engagieren. Und manchmal mit dem egoistischen Wunsch, nur für uns selbst zu schauen … So sind wir gefangen in einer Welt und einem Leben voller Probleme, Herausforderungen, Grenzen und Schlimmerem.
Doch aus dieser Gefangenschaft will und wird uns Gott befreien. Es ist wichtig, das gerade am Ewigkeitssonntag nicht zu vergessen. Er wird eine Welt schaffen, in der sein Wille und unsere besten Träume uneingeschränkt Wirklichkeit werden. Es wird die schönsten Phantasien übertreffen: „Unser Mund wird voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.“ Wir werden sagen: Der HERR hat Grosses an uns getan; wir sind fröhlich!“ So wird es sein, das Glück der Menschen, die von Gott befreit, erlöst sind. Gott selbst wird ihre Gefangenschaft Gott wenden, zum Guten wenden. Aus der Gefangenschaft wird die Freiheit der Kinder Gottes werden. Das ist Gottes Ziel mit uns bzw. für uns. Am Schluss stehen unbeschreibliche Herrlichkeit und unzerstörbare Freude, für immer.
Nun folgt in Psalm 126 in Vers 4 eine kurze Fürbitte. Zusammengefasst könnte man formulieren: ‚Gott, bringe uns an Dein Ziel!“ Wörtlich formuliert der Beter, konkret fokussiert auf die damalige Situation des Exils: „Herr, bringe zurück unsere Gefangenen — wie du die Bäche wiederbringst im Südland.“ Das heisst nichts anderes als: „Lass die grosse Erlösung Wirklichkeit werden. Errette uns aus der Gefangenschaft. Schenke uns unaufhörliche Freude. Führe uns in die Herrlichkeit!“
Etwas rätselhaft ist möglicherweise der Nachsatz: „wie du die Bäche wiederbringst im Südland.“ — Für ‚Südland‘ steht im Hebräischen das Wort ‚Negev‘. Das ist bis heute der Name der im südlichen Israel gelegenen Wüste. Eine unwirtliche, lebensfeindliche Gegend. Die meiste Zeit des Jahres fliessen im heissen, trockenen Negev keine Bäche. Nur wenn im Winter am Rande der Wüste Regen fällt und dadurch Quellen ‚wiederbelebt‘ werden, fliessen bis in den Negev hinein Bäche. Ein Wunder Gottes. Er hat es in der Hand, im dürren Land Ströme fliessen zu lassen. Er bewirkt Wunder.
Wasser in der Wüste ist meistens nur ein Trugbild, eine Fata Morgana. Ausser Gott wirkt. Darum an dieser Stelle die Bitte: „Gott, lass Wirklichkeit werden, was Menschen wie eine Fata Morgana scheinen muss: Wende unsere Gefangenschaft, erlöse uns zum Leben!“
Und dann mündet der Psalm in Aussagen, die noch einmal das Leben hier für die Vollendung durchsichtig machen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ – Im Hintergrund dieser Formulierungen stehen damalige Vorstellungen über Saat und Ernte. Die Saatzeit galt als Trauerzeit. Man legte den Samen in die Erde, begrub ihn dort, wo er sterben musste. Auch Jesus redet in Jh 12.24 davon, dass das Weizenkorn in der Erde sterbe. Doch dann: Aus dem gestorbenen Samen wächst eine neue Pflanze heraus; es entsteht neues Leben, viel mehr als nur ein Samenkorn. — So wurde die Ernte zur Freudenzeit: Man schnitt die Halme ab, bündelte sie zu Garben und brachte sie nach Hause. Dann stieg ein grosses Fest.
Saat und Ernte werden zum Bild für gegenwärtiges und zukünftiges Leben. Jetzt ist die Zeit der Aussaat. Das Leben ist gewissermassen die belastete Zeit der Gefangenschaft. Geprägt von Krankheiten und Nöten, von Schmerzen und Tränen. Irdisches Leben ist eine Zeit des Sterbens und Vergehens. Doch schon in dieser Zeit wächst Hoffnung; der Bauer denkt bereits beim Säen an die bevorstehende Ernte. Und wir warten auf die Vollendung der Schöpfung, auf die Zeit der Freude. So stärkt Psalm 126 die Zuversicht, indem er sagt: Wer sät, der wird auch ernten. Damit dürfen wir rechnen. Darauf vertrauen.
Diese Vorstellung klingt im Neuen Testament immer wieder durch: Das Leben wird als von Not und Trübsal gezeichnet beschrieben. Bedrängnis, Leiden, Seufzen, Tränen, Ausharren, Sterben. Das gehört dazu. Und speziell wird immer wieder an Belastungen gedacht, die Menschen wegen ihres Glaubens zu ertragen haben. Paulus schreibt einmal: „Wir müssen durch viel Trübsal ins Reich Gottes gehen.“ Das Leid gehört zur Saatzeit hinzu.
Andererseits: Die Zeit der Ernte wird kommen. Was wir hier erleben, tun und denken, mag vergänglich sein. Doch darin steckt der Same der Ewigkeit. Wir hoffen über die Grenze des Todes hinaus auf die Auferstehung. Die Vollendung wird kommen, ganz gewiss. Der Weg führt dahin. – Das klingt an, wenn es in Psalm 126 heisst: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Und in Offenbarung 21,4f heisst es „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Alte ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“
Das ist die wichtige, lebenswichtige Zusage am Ewigkeitssonntag, gerade wenn wir uns an Verstorbene erinnern und den Schmerz des Abschieds noch einmal spüren: Gott wird die Zeit der Ernte herbeiführen. Er wird die Gefangenschaft wenden, wird befreien. Das ist ‚kein Ding‘ für ihn, der Bäche in der Wüste fliessen lassen kann. Er wird Grosses an uns tun. Unser Mund wird fröhlich lachen und unsre Zunge wird dankbar Gott rühmen. Wir werden sein wie die Träumenden. Wir können es uns nicht vorstellen, wie schön das sein wird: „Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört solche Freude. Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für.“ Amen.