Predigt am 04.12.2022 in der EMK Adliswil
Gott ist im Kommen. Das ist das Thema des Advents. Die Zukunft rückt in den Fokus. Zu lesen sind am Anfang des Kirchenjahres viele biblische Hoffnungstexte. Tolle Visionen. Einladungen zum Träumen von einer neuen, besseren Welt. Solche Bibeltexte provozieren freilich auch Widerspruch. Wenn und Aber erwachen: Aber das klingt zu schön um wahr zu sein! Wenn die Menschen sich nicht von innen heraus verändern, bleibt alles unrealistisch. – Sind biblische Zukunftstexte eine tragfähige Grundlage für Hoffnung? Oder sind es nur Floskeln und fromme Wünsche? Realitätsfremd, entstanden als letzter schwacher Trost in eigentlich schon auswegloser Situation? So wie in Filmen immer dann, wenn es nichts mehr zu sagen gibt, einer zu trösten versucht mit: „Alles wird gut!“ Und man hört, dass er selbst gar nicht zu glauben wagt, was er sagt. – Wie ist das mit biblischen Texten der Hoffnung? Nehmen wir z.B. Jesaja 35
Das klingt wirklich gut. Die Bilder sind toll und sprechen direkt das Herz an: Die Blinden können wieder sehen und die Tauben hören. Lahme springen plötzlich herum wie Hirsche und Stummen sprechen nicht nur, sie jubeln sogar. Wo es vorher trocken war, fliesst Wasser. Wo es gefährlich war, entsteht ein gesicherter, ja heiliger Weg. Den im Exil schmachtenden Israeliten wird der Weg in die Freiheit gebahnt. Erlöst können sie in ihre Heimat zurückkehren. Dort wird für immer Freude herrschen. Jubel und Jauchzer werden den Ton angeben. An Schmerzen und Seufzen wird man sich dagegen kaum noch erinnern.
Ja, das klingt gut. Aber:
- Die hier beschriebene/erträumte triumphale Heimkehr der Israeliten hat so bis heute nicht stattgefunden. Eigentlich wäre gemäss den prophetischen Verheissungen ein Ereignis zu erwarten gewesen, das selbst den Exodus aus Ägypten in den Schatten stellte. Doch es kam, wenn überhaupt, eher zu Karawanen, die heutigen Flüchtlingstrecks und Migrationsströmen gleichen. Nichts Triumphales, aber viel Elend und Not. Und Israel konnte nie mehr an die vergangene Grösse unter David und Salomo anknüpfen.
- In der heutigen Zeit ist die Realisierung dieser Vision noch immer so weit entfernt wie eh und je. Wir kommen ihr nicht näher. – Ich habe vor 28 (!) Jahren schon einmal über diesen Bibeltext gepredigt. Hinsichtlich der ‚Aber‘ (=ausstehende Erfüllung) finde ich im alten Predigtmanuskript Stichworte, die ich heute unverändert übernehmen kann. Die Probleme sind noch dieselben. Ich empfinde sie heute höchstens als noch drängender: Blühende Wüsten? Fehlanzeige! Der Klimawandel lässt die Wüsten wachsen. Aber dort blüht gar nichts. – Freude und Jubel? Sogar die Fussball-WM lässt einen nur mit schlechtem Gewissen jubeln? Und sonst: Das Elend weltweiter Migrationsströme nimmt weiter zu. Unruhen, ja Kriege überall: Ukraine, Iran, China …. Rassismus und Fremdenhass nehmen zu. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Die Problematik von Süchten aller Art bleibt ungelöst. Gefühlskälte und Störungen im Zwischenmenschlichen, die ich vor 28 Jahren schon wahrnahm, sind u.a. ‚dank‘ der sozialen Netzwerke offensichtlicher geworden und haben bestimmt nicht abgenommen.
28 Jahre nach meiner letzten Predigt über diesen Bibeltext ist die Welt also keinen Schritt weiter. Im Gegenteil: Die täglichen Nachrichten klingen eher nach Nieder- bzw. Untergang als nach einem kommenden Paradies. Was hilft da ein zugegebenermassen mitreissender, aber hoffnungslos unrealistischer Traum? Kann man heute überhaupt noch begründet Hoffnung haben?
Kurz vor seinem Tod veröffentlichte der 2018 verstorbenen Kosmologe und Physiker Stephen Hawking sein letztes Buch mit dem Titel: Kurze Antworten auf grosse Fragen. Er sah für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten ziemlich schwarz. Da er von Religion nichts erwartete, suchte er die Hoffnung in folgendem Vorschlag: Wir müssten allergrösste Anstrengungen unternehmen, um im Weltraum neuen Lebensraum zu finden und zu erobern. Damit es eine Alternative gebe, wenn die Erde unbewohnbar wird. Hawking war überzeugt, dass dieser Exodus in absehbarer Zeit nicht nur möglich, sondern unumgänglich werde. Die Begründungen dafür sind nicht durchaus spannend zu lesen. Dennoch klingt es für mich nach Sience Fiction. Lässt sich daraus wirklich ein Fundament für Hoffnung bauen? Oder ist es eine Art Selbsthypnose nach dem Motto: ‚Alles wird gut‘? – Andererseits höre ich Hawking natürlich fragen: Führen denn die Hoffnungstexte der Bibel wirklich weiter? Sind sie nicht genauso Fiktion, nur halt eben Religion/Faith Fiction statt Sience Fiction?
Ich glaube, dass z.B. Jesaja 35 nicht einfach Fiktion ist. Beweisen kann ich das zwar nicht. Aber ich nehme immerhin wahr: Es wird nicht nur ein Paradies in weiter Ferne ausgemalt. Sondern es wird auch ein Weg dorthin angezeigt und dazu aufgefordert, diesen Weg in Angriff zu nehmen: „Stärkt die schlaffen Hände und macht die weichen Knie stark! Sagt denen, die bestürzt sind: Seid stark, fürchtet euch nicht!“
Das heisst: Die Realisierung des Traums verlangt Engagement. Das Paradies kommt nicht von selbst. Denn die Sicht der Menschen auf das Leben und auf die Welt muss sich grundlegend ändern. Es braucht Umkehr. Das bedeutet viel Knochenarbeit. Doch diese kann und wird auch etwas bewirken. Die Vision des Propheten vom paradiesischen Ziel will motivieren, dran zu bleiben … auch wenn wir oft wenig zu bewirken scheinen
Hören Sie nun die Vision des Propheten noch einmal, diesmal in der Übertragung der ‚Gute Nachricht Bibel‘.
Solche Bilder nähren die Hoffnung, dass alles gut wird. Sie strahlen eine grosse, ansteckende Freude aus. Aber nicht nur. Der Prophet formuliert ja auch einen dringenden Appell: „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie“ (V.3). Das ist nötig, weil die Aufgabe gross ist. Und weil Gott selbst kommt, nicht als holder Knabe im lockigen Haar. Jesaja kündigt ihn vielmehr als Gott der Rache und der Vergeltung an (V.4). Da könnten einem die Knie ja schon weich werden: „Siehe, da ist dein Gott! Er kommt zur Rache!“
Diesem Stichwort will ich mich im zweiten Teil meiner Predigt widmen. Was ist damit gemeint? – Zunächst fällt auf: Die Rache Gottes soll sich natürlich, wie immer, gegen die anderen richten. ‚Die anderen‘ waren in diesem Fall die Babylonier. Sie hatten Israel militärisch besiegt, gedemütigt und heimatlos gemacht. Zahlreiche Israeliten schmachteten im Exil in Babylon. Für sie alle war klar: Heil ist erst möglich, wenn dieses Unrecht gerächt ist. Anders kann es keinen Frieden geben. Ohne Vergeltung keine Zukunft! — Mit demselben Denkschema erklärten sich die Israeliten übrigens auch ihre eigene Situation: Die Niederlage, die Zerstörung des Tempels und das Exil war nur als Strafe Gottes verständlich. Er hatte darin die Sünde Israels vergolten. In diesem Denkschema ist es nur logisch, dass Gott als Nächstes die Feinde bestrafen muss für das Unrecht, das sie den Israeliten angetan hatten.
Dieses Denkschema von Rache und Vergeltung ist zwar uralt, zugleich aber bis heute wirksam. Moderne Konflikte zwischen Völkern folgen doch genau diesem Muster: Unrecht muss zuerst gerächt und vergolten werden … mit Gewalt. Vorher braucht niemand über Frieden reden zu wollen. Nachher allerdings auch nicht, denn vollzogene Rache ruft gleich nach dem nächsten Vergeltungsschlag! – Es ist unglaublich schwierig, aus diesem Schema auszubrechen! Die Nachrichten aus aller Welt zeigen uns immer wieder auf: Schon nur ein Waffenstillstand ist kaum erreichbar und steht fast zwangsläufig auf wackeligen Füssen ….. weil immer jemand meint, er müsste mit Gewalt für einen Ausgleich sorgen.
Ähnlich ist es im Kleinen, im Privaten: Wie viele Konflikte nach dem Prinzip: „Du hast mir etwas angetan, das ich dir heimzahlen muss.“ - „Ich will, dass du genauso verletzt bist wie ich.“ — „Und wenn ich selbst nicht in der Lage bin, dich zu verletzen, dann hoffe ich zumindest inständig, dass das Leben oder das Schicksal oder eben Gott persönlich dir das heimzahlt, was du mir angetan hast.“ Wir orientieren uns immer noch am Motto ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Dabei hat doch Jesus in der Bergpredigt überdeutlich klar gemacht hat, dass das Ziel des Friedens so nie erreicht wird. – Aber eben: Die Bilder von Rache und Vergeltung stecken ganz tief in uns drin. Man kann es schon bei kleinen Kindern im Sandkasten beobachten.
Auch der Prophet Jesaja kann sich nicht von diesem Denkschema lösen. Verständlich, denn stellen wir uns einmal vor: Alle Hoffnungen sind erfüllt, wir sind im Paradies, alles ist schön und gut …. und plötzlich begegnen wir jemandem, der uns im Leben so richtig wehgetan hat. Und dem wäre es gar nicht peinlich. Im Gegenteil, frech grinsend sagt er: „Siehst du, das war doch gar nicht so schlimm damals und schliesslich kommen wir ja sowieso alle in den Himmel.“ Und wir fühlen ganz genau: „Doch, das war wirklich schlimm, sogar ganz schrecklich. Da kann man doch selbst jetzt nicht einfach so darüber hinweggehen, als wäre nichts gewesen!“ — Was wäre das denn für ein Paradies, in dem alles egal ist, was mir immer noch weh tut? Das kann, das darf nicht sein!
Verständlich, ja berechtigt also, wenn Menschen sagen/fühlen: Da muss noch zuerst etwas passieren, bevor Heil möglich ist. Bevor das Paradies kommen kann oder der Himmel, muss es noch etwas geschehen. Wir können uns dies nicht anders vorstellen, als dass erst aufgeräumt und dass Unrecht ausgeglichen werden muss. – Darum ist in Jesaja 35 mitten in den tollen, paradiesischen Zukunftsbildern von Rache und Vergeltung die Rede.
Ganz, ganz wichtig ist nun allerdings: Die Menschen üben nicht selbst Vergeltung. Sondern sie überlassen das Gott. Nur er kann regeln, was zu regeln ist. Er soll ausgleichen und in Ordnung bringen, was schief ist oder durcheinander. – Jesaja überlässt das Gott, obwohl er es sich nur in Form von Rache vorstellen kann.
Nur: Wird diese Vorstellung Gott gerecht? Bisher jedenfalls hat er keineswegs alles Unheil gerächt. Die Israeliten damals mussten genau wie wir heute damit leben lernen, dass Gott Unrecht geschehen lässt und oft keine Vergeltung übt. Schon gar nicht sofort. Und wenn doch, dann nicht so, wie wir Menschen das wollen.
Darum glaube ich, dass Gott später, am Ende der Zeiten, einen Weg jenseits unserer Rache- und Vergeltungsgedanken finden wird, um alles in Ordnung zu bringen. Ich weiss wirklich nicht, wie das aussehen wird, weil ich selbst ja auch immer noch im Denkschema von Rache und Vergeltung gefangen bleibe. Ich glaube wohl, dass Christus mich daraus erlöst hat … und erlebe doch immer wieder, wie mich das alte Denken noch bestimmt.
Jesajas Hauptanliegen in Jes 35 ist: Er will unterstreichen, wie unglaublich wichtig es ist, es Gott zuzutrauen und an ihn abzugeben, dass in Ordnung kommt, was wir nicht in Ordnung bringen können. Ich glaube und hoffe fest, dass er Recht hat, dass Gott tatsächlich kommt und vergilt und damit hilft. Wie genau, das sprengt meine Vorstellungen. Aber es hat bestimmt viel mehr zu tun mit seiner Gerechtigkeit als mit meinen Phantasien von Rache und Vergeltung. Damit fängt er übrigens nicht erst im Jenseits oder am Ende der Zeit an, sondern bestimmt schon hier und jetzt, mitten in unserem alltäglichen Leben. Wenn wir uns nur auf seine Kraft der Versöhnung verlassen, dann können wir sogar erleben, wie sein Paradies mitten in dieser Welt da und dort durchschimmert.
Wir brauchen unsere Gefühle, unsere Verletzungen und unsere Sehnsucht nach Vergeltung nicht zu unterdrücken. Aber wir können all das bei Gott abladen und sollen die Rache nicht in unsere eigenen Hände nehmen. Es ist ausserordentlich wichtig, dass wir lernen, auf Gott zu warten. Wenn wir nämlich auf die Erfüllung unserer Vorstellungen und Phantasien pochen, geschieht nur immer noch mehr Unrecht.
Dazu ein Buchtipp: Miroslav Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung – versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität. – Der in Kroatien geborene Theologe hat aufgrund seiner Kriegserfahrungen im Jugoslawien-Krieg eine Theologie der Versöhnung und der Gewaltlosigkeit entwickelt. Der Verzicht auf eigene Rache spielt darin eine ganz entscheidende Rolle. Sein Buch ist anspruchsvoll zu lesen, aber ich finde, es lohnt sich sehr, sich hineinzukämpfen.
Es ist nicht leicht, Gott alles zu überlassen, was schief ist und ungerecht und von dem ich meine, dass es doch unbedingt und möglichst schnell geregelt werden müsste. Aber andererseits merke ich, dass auf dem Warten auch eine Verheissung liegt. Sich auf das Warten einzulassen, auf Gott warten zu können, hat auch viel Gutes. Esentlastet mich, weil ich nicht alles selbst machen muss. Ich entwickle Neugier auf das, was Gott alles tun wird. Und ich merke: Wenn ich wirklich auf Gott und sein Wirken warte, dann beginne ich ihm mehr zuzutrauen. Und ich lerne wahrzunehmen, was er bewirkt: Dass tatsächlich Menschen die Augen und Ohren aufgehen. Dass Leute zu jubeln beginnen, die ich vorher nur als stumm und nichtssagend erlebt habe. Meine Hoffnung wächst, dass Gott wirklich einen Weg oder einen Raum schafft, wo macht- und geldgierige Zeitgenossen nichts mehr zu sagen haben, einen Raum, in dem Menschen tatsächlich Erlösung finden … Erlösung von dem, was sie angerichtet haben, und Erlösung von dem, was sie erlitten haben. Und so wird das Paradies nicht nur vorstellbar, sondern realistisch, auch wenn der Weg dorthin noch sehr weit sein mag. Das Paradies, wo sich Israeliten und Babylonier, wo sich Arme und Reiche, Privilegierte und Benachteiligte, Menschen unterschiedlichster Kultur und Religion, aller Geschlechter, Rassen und Nationen, politische Gegner und sogar verfeindete Nationen auf Augenhöhe begegnen, miteinander Gott feiern und jubeln und wirklich erlöst sind. Erlöst von allem Unrecht mit seinen ganzen Folgen, erlöst von der Angst vor Strafe und von der Angst vor neuem Unrecht. So muss das Paradies sein, dass Gott schaffen wird.
Wird alles einmal gut? Ich glaube fest daran. Es wird Realität werden, was in prophetischen Visionen wie Jes 35 durchschimmert. Christus hat sich mit seinem ganzen Leben dafür eingesetzt. Aber wir sind noch nicht da. Und es ist nicht gratis zu haben. Der Weg dahin ist vielleicht noch lang und braucht unser volles Engagement. Wir müssen uns auf Versöhnung einlassen, bereit sein, uns selbst durch Christus mit Gott versöhnen zu lassen und bereit werden, unseren Mitmenschen nicht mit Gefühlen der Rache, sondern mit Gedanken des Friedens und der Versöhnung zu begegnen. Leiten kann uns soll uns Jesajas Vision: „Sie, die der HERR befreit hat, kehren heim … Aus ihren Augen strahlt grenzenloses Glück. Freude und Wonne bleiben bei ihnen, Sorgen und Seufzen sind für immer vorbei.“ Amen.