Predigt am 18.12.2022 in der EMK Adliswil
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Liebe Gemeinde,
„Freue dich, Welt!“ – Wie meistens, vielleicht in diesem Jahr sogar noch stärker, steht diese Einladung, ja Aufforderung ziemlich quer in der Landschaft. Zugegeben: Der Advent wäre eigentlich die Zeit der Vorfreude auf Weihnachten. Die Zeit zuversichtlicher Hoffnung. Die Zeit fröhlicher Einstimmung auf das Fest. Doch weder Vorfreude noch Zuversicht sind prägende Faktoren der aktuellen Stimmung. Im Gegenteil: Die bedrängende Nachrichtenlage mit Krisen, Konflikten und Kriegen weltweit belastet. Die Sorge um den offensichtlicher werdenden Klimawandel bremst. Die Nervosität im Blick auf mögliche Engpässe in der Energieversorgung und wirtschaftlichen Abschwung irritiert! – „Freue dich, Welt?“ – Ja, wie denn? Warum denn? Worauf denn?
Es ginge um Freude, weil Christus kommt bzw. da ist. Wir warten darauf, dass das offensichtlicher wird. Wir klammern uns an die Hoffnung, dass Christi Werte und sein Reich sich durchsetzen werden. Doch das fällt schwer! Und immer wieder drohen wir beim Warten die Hoffnung zu verlieren, dass er tatsächlich im Kommen ist … schon jetzt und immer mehr.
Damit geht es uns freilich nicht anders als den allerersten christlichen Generationen. Auch sie erlebten sich und ihren Glauben als bedrängt. Sie waren im Konflikt mit jüdischen Gemeinden. Sie wurden von ‚Heiden‘ belächelt, zum Teil verachtet und bisweilen von Staats wegen verfolgt. Die Bedingung waren damals auch nicht optimal, um freudige Zuversicht, vertrauensvolle Hoffnung und Glauben zu entwickeln. Dennoch waren die ersten Christen getragen von der Gewissheit: „Der Herr ist nahe!“ Das bestimmte und prägte ihr Lebensgefühl. Sie freuten sich auf, sehnten sich nach Christi Kommen. Sie begrüssten sich mit: „Maranatha! Der Herr kommt bald!“ Das klingt z.B. in Paulus‘ Brief an die Philipper an. Ich lese den bekannten Text aus Philipper 4,4–7:
Freut euch! Oder eben: „Freue dich, Welt!“ Einerseits: Wir haben bereits den vierten Advent. Weihnachten ist nahe. Es ist höchste Zeit, nicht nur vorweihnachlichtliche Geschäftigkeit, sondern vor allem Freude zu entwickeln.
Andererseits: Freude kann man ja nicht einfach befehlen oder verordnen. Was ist denn mit den zahllosen Krisen weltweit? Was läuft in Krankenhäusern und Pflegeheimen? Wie geht es Kranken, Armen, Hungernden, Verfolgten? Was ist mit denen, die in der Weihnachtszeit ihre Einsamkeit deutlicher, drängender spüren als sonst? Viele Leute scheinen wenig Grund zur Freude zu haben. – Können wir das einfach zu Seite schieben? Verdrängen? Einfach das Weihnachtsfest feiern und uns freuen, wie gut es uns gerade geht? Das wäre doch egoistisch. Herzlos.
Paulus verbindet in seinem Aufruf die Einladung zur Freude mit der Aufgabe, für andere da zu sein: „Freut euch! Alle Menschen sollen merken, wie gütig ihr seid.“ So lässt er durchblicken: Es geht weniger um ein Gefühl als um eine Haltung. Sich zu freuen heisst: Wahrnehmen, dass Gott nahe ist. Daran festhalten, dass er wirkt. Auf ihn hoffen, sogar gegen den Augenschein. Sich von ihm prägen zu lassen. Und anderen zum Gesicht Christi werden. Gottes Güte nicht nur geniessen, sondern teilen. Weitergeben. Sie andere Menschen erleben lassen, indem wir in Gottes Namen für sie da sind, Zeichen der Nähe und der Liebe schenken.
Der Herr ist nahe. Gott kommt. Nicht erst am Ende der Tage. Sondern immer wieder: jetzt! In guten Begegnungen und Erlebnissen. Im miteinander Teilen. Im füreinander Dasein. Im einander Beschenken. – Zuversichtlich auf die Gegenwart Gottes vertrauen, das ist die herausfordernde Aufgabe. Sie lohnt sich. Denn so lässt sich spüren: „Die Freude am Herrn ist unsere Stärke!“
Es gilt allen: Freut euch! Der Herr ist nahe. – Trotz viel Schwierigem. Adventliches Warten auf das Kommen Gottes vollzieht sich in einer Spannung: Wir erkennen kleine Zeichen von Gottes Gegenwart … und wünschten uns viel mehr. Jetzt. – Wir erleben Gottes Kraft fein, hintergründig … und wünschten uns, dass er die machtgierigen Egoisten, die weltweit über Leichen gehen, endlich stoppt. Die Kriegsmaschinerie zum Erliegen bringt. Dem Macho-Getue auf dem Rücken von Millionen leidenden ein Ende bereitet. Die Letzten Erste sein lässt.
Ja, die Spannung ist da und sie ist gross: zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Zwischen Glauben und Zweifel. Zwischen Freude und Traurigkeit. Zwischen Feiern und Leiden. Schon Paulus lebte in dieser Spannung. Er schreibt: Freut euch in dem Herrn allewege Und abermals sage ich: Freut euch! – Dabei hatte er selbst kaum Grund zur Freude. Immerhin schreibt er aus dem Gefängnis an die ihm liebgewordene Gemeinde in Philippi. Er ist im Gefängnis, abgeschnitten vom normalen Leben. Auf sich selbst zurückgeworfen und doch voller Sehnsucht nach den anderen. Derer sehnsüchtig gedenkend, die ihm besonders nahestanden. Vermutlich in Angst um das eigene Leben — und doch den anderen draußen mit letzter Kraft zurufend: Sorget nicht! Ängstet euch nicht! Im Gegenteil: Freut euch! Der Herr ist nahe.
Wie aus zugeschnürter Kehle kommt sein Aufruf zur Freude: Bald, bald wird dieses Elend hier ein Ende haben. Denn der Herr ist nahe. Er wird kommen und aller Angst, allem Leid ein Ende machen. Sehr real, und eben noch zu seinen Lebzeiten, hat Paulus Ihn erwartet, der alle Angst in Freude, den Streit in Frieden, alle Heillosigkeit in Heil würde verwandeln können. Warum sollten wir Angst haben? Worum sollten wir uns sorgen? Der Herr ist doch nahe. Er kommt. Deswegen: Freut euch!
Wirklich? Keiner von uns wartet so wie Paulus auf den wiederkommenden, nahenden Herrn. Die Wiederkunft Christi ist in unserem Glauben in den Hintergrund gerückt. Löst nach 2000 Jahren Warten eher Fragen aus. Aber wir rechnen fest damit, dass der, der in Christus Mensch geworden und unserem Leben ganz nahe gekommen ist — dass der uns immer wieder begegnet. Jetzt. Heute. Morgen. Durch den heiligen Geist ist er da in unserem Alltag. Er kommt immer wieder zu uns. Gott ist da, ist mit dabei in unserem manchmal schönen, oft aber auch angstrengenden, manchmal schwierigen, vielleicht von Angst erfüllten und von Sorgen gefesselten Leben. Deswegen: Freut euch!
Wie wird dieser Grund zur Freude greifbar in unserem Leben? Wie merken wir, dass Paulus Einladung uns gilt — uns verändern will und verändern kann? Wie lernen wir zu singen: ‘In Dir ist Freude, in allem Leide’?
Ich glaube, das Geheimnis besteht darin, immer wieder an der Grunderfahrung des Glaubens anzuknüpfen. In der Nacht, als Jesus zur Welt kam, hat sich der Himmel geöffnet. Es ist klar und hell geworden über Bethlehem. Ähnlich habe wir, als uns Christus zum ersten Mal begegnete, als wir glauben lernten, erlebt: Es wird hell im Leben — wie damals in der Weihnachtsnacht. Und es gab seither immer wieder Momente, in denen Gottes Freude ganz zu uns durchgedrungen ist. Gute Erfahrungen liessen uns direkt spüren, wie nahe er unserem Leben ist. Da war es, als ginge der Himmel auf. — Ich weiss: Diese Momente sind selten und kurz. Sie vergehen schnell und das andere, das Dunkle scheint danach umso übermächtiger — wie bei Paulus im Gefängnis. Was dann, wenn wir gefangen sind — in unseren Ängsten, in den Sorgen um die Zukunft, in Müdigkeit, Resignation oder Schmerzen? Gilt auch dann noch: “Freuet euch im Herrn allewege”?
Erinnert euch doch, so sage ich mit Paulus, erinnert euch doch, wie sich für euch der Himmel geöffnet hat. Erinnert euch an den Glanz, der euer Leben da ganz erfüllt hat. Erinnert euch, wie ihr es gespürt habt: Gott ist da, ist bei mir in diesem meinem kleinen und doch so großen Leben. Strahlt von diesen Erlebnissen nicht noch etwas herüber — herein in die augenblickliche Dunkelheit?
Ich glaube, daß Paulus im Gefängnis von diesen Erinnerungen lebte. Daß er erfüllt war von seinen Begegnungen mit dem Auferstandenen. Aus diesen Begegnungen konnte er Kraft gewinnen, so viel Kraft, dass sie ihm auch in Zeiten der Not noch als Lebensreserven zur Verfügung standen. Bei seiner Bekehrung vom Saulus zum Paulus vor Damaskus strahlte ihn ein Licht vom Himmel an.. Es war ähnlich wie bei den Hirten auf dem Felde, die die Stimme des Engels hörten und von der Klarheit des Herrn umleuchtet wurden. Der Glanz solcher Erfahrungen kann selbst dunkelste Stunden im Leben noch erhellen — vielleicht nur ganz spärlich, aber immerhin. Es sind dann Reserven dann aus den Lichterfahrungen unseres Lebens. Und eben aus solchen Reserven heraus ergeht der Ruf des Paulus zur Freude, zur Sorglosigkeit, zur Güte — um uns heute ins Herz gesagt zu werden. Denn seht, schon brennent alle Kerzen am Kranz und erinnern uns: Gott kommt uns nahe. Er zögert nicht. “Auf ihr Herzen, lasst euch erleuchten!” Das ist auch und gerade denen gesagt, die im Dunkeln sind, die keinen Grund zur Freude haben. Erinnert euch an die lichten Zeiten, in denen Gott ganz nahe war. Erinnert euch an den Glanz seiner Gegenwart und nehmt wahr, dass er auch heute über eurem Leben liegt. Dass er auch das allerdunkelste Leben erleuchten kann.
Wie kein anderer hat dies Jochen Klepper gesagt. Er, dem die Angst die Luft zum Leben nahm. Er, der in seinen Tagebüchern im Advent 1941 von den schweren Zeiten schreibt, aus denen es keinen Ausweg gibt. Er, der unter Qualen nach den letzten Lichtreserven sucht. Leise, ganz leise wagt er zu singen: “Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein, der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.”
Die Spannung bleibt. Es gibt Vieles, was die Freude, die Zuversicht bedrängt. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber man muss auch nicht resignieren. Ich habe diese Woche einen Satz gelesen, der mir seither nachgeht: Hoffnung ist der Protest gegen meinen vermeintlich gesunden Menschenverstand. (2mal). Das könnte ein Rezept sein, um Paulus Aufruf zur Freude umzusetzen. Protestieren (innerlich und im Verhalten) dagegen, uns die Hoffnung nehmen zu lassen. Dagegen halten. Und dabei bleiben: Der Herr ist nahe!
Paulus Einladung ist kein Appell zur fröhlichen Sorglosigkeit. Darum kostet es Kraft, ihr Folge zu leisten. Die Sorgen und Nöte wahrnehmen. Sie ernst nehmen. Und dennoch die Freude an Gott zur eigenen Stärke und zur Herzenshaltung machen. Weil sie in der göttlichen Zusage wurzelt: Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst und Sorgen gefangen sind. Freut euch, der Herr ist nahe. Amen