Input am 08.01.2023 im ökumenischen Gottesdienst in der ref. Kirche Adliswil

Jahreslosung EMK Schweiz 2023
Liebe Gemeinde,
„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – Ist das eine gute Nachricht? Ich erinnere mich an ein Sonntagsschullied, dass wir vor 50 Jahren des öfteren gesungen haben: „Pass auf, kleines Aug‘, was du siehst …!“ hiess es da. Und: „Pass auf, kleines Ohr, was du hörst! Pass auf, kleine Hand, was du tust!“ Und weiter: „Denn der Vater in dem Himmel schaut herab auf dich!“ Es ‚tschuderet‘ mich heute, wie selbstverständlich wir das gesungen haben und was für ein Gottesbild wir damit verinnerlichten: Gott als der grosse Überwacher (® G.Orwells ‚Big Brother‘ lässt grüssen), dem nichts entgeht und der unlautere Absichten erkennt, bevor man es selber merkt. Ein solches Gottesbild würde aus der Jahreslosung 2023 eine schlechte Nachricht machen. Denn dann wäre sie eine Mahnung/Warnung: Pass gut auf! Mach ja keine Fehler! Denn du kannst nichts verstecken. Es kommt alles ans Licht. – Mit dieser Sicht auf Gott ringt übrigens auch Psalm 139, aus dem wir in der Schriftlesung gehört haben. Der Beter ringt sich dann aber doch durch zur Überzeugung: „Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst deine Hand über mir!“ Und er versteht das letztlich als Zuspruch von Schutz und Geborgenheit.
Es hängt also vom Gottesbild ab, wie wir die Jahreslosung verstehen: Wie schaut uns Gott an? Prüfend? Ermutigend? Missbilligend? Wohlwollend? Strafend? Zornig? Enttäuscht? Oder doch liebevoll und warmherzig?
Entscheidend finde ich, wie Jesus die Menschen anschaute. Wie er ihnen begegnete: Kinder, die in der damaligen Gesellschaft vor allem als kostspielige Pflicht und anstrengend galten, empfing er mit offenen Armen: „Lasst die Kinder zu mir kommen!“ Den von allen gehassten Zachäus sah Jesus in seinem Versteck im Baum und sagte: „Heute will ich dein Gast sein!“ Einer als Ehebrecherin beschuldigten sagte Jesus: „Ich verurteile dich nicht!“ Aussätzige umarmte er. Der Frau am Jakobsbrunnen hörte er als erster zu, statt wie die anderen mit dem Finger auf sie zu zeigen … Jesu Blick auf die Menschen war liebevoll, anteilnehmend (bzw. empathisch), ermutigend, respektvoll und warmherzig.
Wenn wir durch ‚Jesu Brille‘ auf die Geschichte von Hagar schauen, dann ist sonnenklar, was die Geschichte selbst auch von Anfang an meint: Es ist eine gute, eine überaus gute Nachricht, dass Gott mich/uns sieht. So, wie es eben auch Silke und Radek in ihren Gedanken unterstrichen haben. – Gott sieht uns, d.h. wir sind wahrgenommen, gesehen, mit einem anteilnehmenden, liebe- und verständnisvollen Blick Gottes. Gott sieht dich! Er versteht dich! Er weiss, was dich plagt, was dir Sorgen macht, was dich belastet und müde macht. Er trägt es mit, teilt Dein Leiden und Deine Schmerzen. Und: Gott anerkennt, dass Du es gut machen willst. Selbst wenn es nicht immer gut herauskommt. Er sieht und respektiert Dein Bemühen und fängt dich auf, wo Du scheiterst.
Gott ist ein Gott, der mich/uns sieht! – Eine gute Nachricht also. Eine Kraftquelle. Eine Ressource. Ein Zuspruch, der uns helfen will und kann, das Leben besser zu meistern. Und ein grosser Trost in Momenten, in denen wir befürchten, von allen übersehen und vergessen zu werden. – Nein! Du bist nicht vergessen. Gott sieht dich.
Viele Menschen leiden unter dem Eindruck, übersehen und vergessen zu werden, in den Macht- und Kriegsspielen der Mächtigen, als Betroffene von wirtschaftlichen Krisen, als Arme, Kranke …. übersehen von Regierung und Behörden, von Vorgesetzten, als vermeintlich unwichtiges Rädchen in einem Grossbetrieb, von NachbarInnen.
Die Jahreslosung 2023 gibt uns ein Werkzeug in die Hand, um gegen dieses lähmende Gefühl anzugehen: Das Vertrauen, dass Gott uns sieht und liebt, als Ressource zu nutzen. Und aus diesem Vertrauen heraus unsere Mitmenschen spüren zu lassen und ihnen zuzusprechen: Du bist nicht verloren und vergessen. Ich sehe Dich. Und mein Gott sieht Dich noch viel besser.
Wie meistens erkenne ich zwei Dimensionen in diesem Satz aus der Bibel: Die Dimension des Zuspruchs, die mich darauf vertrauen lehrt, dass Gott mich sieht und nie vergisst. Und die Dimension des Auftrags, die mich motiviert: Ein Auge zu entwickeln für jene, die sich übergangen, übersehen, vergessen fühlen. Und ihnen in Gottes Namen zuzusprechen: Ich sehe dich! Amen