Du bist ein Gott, der mich sieht

Matthäus 7,24–27

Input am 08.01.2023 im öku­menis­chen Gottes­di­enst in der ref. Kirche Adliswil

Jahres­lo­sung EMK Schweiz 2023

Liebe Gemeinde,

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Ist das eine gute Nachricht? Ich erin­nere mich an ein Son­ntagss­chul­lied, dass wir vor 50 Jahren des öfteren gesun­gen haben: „Pass auf, kleines Aug‘, was du siehst …!“ hiess es da. Und: „Pass auf, kleines Ohr, was du hörst! Pass auf, kleine Hand, was du tust!“ Und weit­er: „Denn der Vater in dem Him­mel schaut herab auf dich!“ Es ‚tschud­eret‘ mich heute, wie selb­stver­ständlich wir das gesun­gen haben und was für ein Gottes­bild wir damit verin­ner­licht­en: Gott als der grosse Überwach­er (® G.Orwells ‚Big Broth­er‘ lässt grüssen), dem nichts ent­ge­ht und der unlautere Absicht­en erken­nt, bevor man es sel­ber merkt. Ein solch­es Gottes­bild würde aus der Jahres­lo­sung 2023 eine schlechte Nachricht machen. Denn dann wäre sie eine Mahnung/Warnung: Pass gut auf! Mach ja keine Fehler! Denn du kannst nichts ver­steck­en. Es kommt alles ans Licht. – Mit dieser Sicht auf Gott ringt übri­gens auch Psalm 139, aus dem wir in der Schriftle­sung gehört haben. Der Beter ringt sich dann aber doch durch zur Überzeu­gung: „Von allen Seit­en umgib­st Du mich und hältst deine Hand über mir!“ Und er ver­ste­ht das let­ztlich als Zus­pruch von Schutz und Geborgenheit.

Es hängt also vom Gottes­bild ab, wie wir die Jahres­lo­sung ver­ste­hen: Wie schaut uns Gott an? Prüfend? Ermuti­gend? Miss­bil­li­gend? Wohlwol­lend? Strafend? Zornig? Ent­täuscht? Oder doch liebevoll und warmherzig?

Entschei­dend finde ich, wie Jesus die Men­schen anschaute. Wie er ihnen begeg­nete: Kinder, die in der dama­li­gen Gesellschaft vor allem als kost­spielige Pflicht und anstren­gend gal­ten, empf­ing er mit offe­nen Armen: „Lasst die Kinder zu mir kom­men!“ Den von allen gehas­sten Zachäus sah Jesus in seinem Ver­steck im Baum und sagte: „Heute will ich dein Gast sein!“ Ein­er als Ehe­brecherin beschuldigten sagte Jesus: „Ich verurteile dich nicht!“ Aussätzige umarmte er. Der Frau am Jakob­s­brun­nen hörte er als erster zu, statt wie die anderen mit dem Fin­ger auf sie zu zeigen … Jesu Blick auf die Men­schen war liebevoll, anteil­nehmend (bzw. empathisch), ermuti­gend, respek­tvoll und warmherzig.

Wenn wir durch ‚Jesu Brille‘ auf die Geschichte von Hagar schauen, dann ist son­nen­klar, was die Geschichte selb­st auch von Anfang an meint: Es ist eine gute, eine über­aus gute Nachricht, dass Gott mich/uns sieht. So, wie es eben auch Silke und Radek in ihren Gedanken unter­strichen haben. – Gott sieht uns, d.h. wir sind wahrgenom­men, gese­hen, mit einem anteil­nehmenden, liebe- und ver­ständ­nisvollen Blick Gottes. Gott sieht dich! Er ver­ste­ht dich! Er weiss, was dich plagt, was dir Sor­gen macht, was dich belastet und müde macht. Er trägt es mit, teilt Dein Lei­den und Deine Schmerzen. Und: Gott anerken­nt, dass Du es gut machen willst. Selb­st wenn es nicht immer gut her­auskommt. Er sieht und respek­tiert Dein Bemühen und fängt dich auf, wo Du scheiterst.

Gott ist ein Gott, der mich/uns sieht! – Eine gute Nachricht also. Eine Kraftquelle. Eine Ressource. Ein Zus­pruch, der uns helfen will und kann, das Leben bess­er zu meis­tern. Und ein gross­er Trost in Momenten, in denen wir befürcht­en, von allen überse­hen und vergessen zu wer­den. – Nein! Du bist nicht vergessen. Gott sieht dich.

Viele Men­schen lei­den unter dem Ein­druck, überse­hen und vergessen zu wer­den, in den Macht- und Kriegsspie­len der Mächti­gen, als Betrof­fene von wirtschaftlichen Krisen, als Arme, Kranke …. überse­hen von Regierung und Behör­den, von Vorge­set­zten, als ver­meintlich unwichtiges Räd­chen in einem Gross­be­trieb, von NachbarInnen.

Die Jahres­lo­sung 2023 gibt uns ein Werkzeug in die Hand, um gegen dieses läh­mende Gefühl anzuge­hen: Das Ver­trauen, dass Gott uns sieht und liebt, als Ressource zu nutzen. Und aus diesem Ver­trauen her­aus unsere Mit­men­schen spüren zu lassen und ihnen zuzus­prechen: Du bist nicht ver­loren und vergessen. Ich sehe Dich. Und mein Gott sieht Dich noch viel besser.

Wie meis­tens erkenne ich zwei Dimen­sio­nen in diesem Satz aus der Bibel: Die Dimen­sion des Zus­pruchs, die mich darauf ver­trauen lehrt, dass Gott mich sieht und nie ver­gisst. Und die Dimen­sion des Auf­trags, die mich motiviert: Ein Auge zu entwick­eln für jene, die sich über­gan­gen, überse­hen, vergessen fühlen. Und ihnen in Gottes Namen zuzus­prechen: Ich sehe dich!       Amen

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