Predigt am 05.02.01.2023 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
am 24.Mai 1738 schrieb John Wesley in sein Tagebuch: „My heart felt strangely warmed!“ D.h. Mein Herz fühlte sich seltsam erwärmt. Und stellt fest: Plötzlich war die Gewissheit, von Gott geliebt zu sein, da. An diesem Abend um 20.45, während Luthers Vorrede zum Römerbrief gelesen wurde. Und die Gewissheit blieb.
Manche reden von der ‚Bekehrung‘, oder wenigstens von der ‚zweiten‘ Bekehrung, die Wesley in dem Moment erlebte. – Jahrelang hatte er versucht, über Pflichtbewusstsein und Gehorsam seines Heils gewiss zu werden. Das hatte nicht funktioniert. Von nun an war Wesley klar: Kraft, Frieden, Zuversicht, Gewissheit aus dem Glauben kann und muss sich niemand erarbeiten. Sondern sie stehen zur Verfügung als Geschenk Gottes. — Oder anders formuliert: Wesley hatte erfasst, dass der Glaube kein Forderungskatalog ist und auch keinen Leistungsausweis verlangt. Vielmehr ist der Glaube die von Gott geschenkte Quelle von Kraft zum Leben. Glaube ist eine Ressource.
Ich habe vor drei Wochen eine erste Predigt unter dem Motto ‚Den Glauben als Ressource nutzen‘ gehalten. Dabei stand der am Bach stehende Baum aus Psalm 1 im Vordergrund und das Thema hiess: sich verwurzeln. Heute nun geht es um fliegende Adler. Und das Thema heisst: sich anvertrauen.
Im ‚Kleingedruckten‘ des Vertrags (® Bund) Gottes mit uns Menschen, den der Glaube darstellt, steht nämlich: Die Kraft aus dem Glauben wird (erst) spürbar, wenn man sich Gott anvertraut. – Dazu lese ich Verse aus Jesaja 40,27–31:
Wie kannst du sagen, Jakob,
wie kannst du behaupten, Israel:
»Mein Weg ist dem Herrn verborgen!
Mein Gott bemerkt nicht, dass ich Unrecht leide!«
Hast du’s noch nicht begriffen?
Hast du es nicht gehört?
Der Herr ist Gott der ganzen Welt.
Er hat die Erde geschaffen
bis hin zu ihrem äußersten Rand.
Er wird nicht müde und nicht matt.
Keiner kann seine Gedanken erfassen.
Er gibt dem Müden neue Kraft
und macht den Schwachen wieder stark.
Junge Männer werden müde und matt,
starke Krieger straucheln und fallen.
Aber alle, die auf den Herrn hoffen,
bekommen neue Kraft.
Sie fliegen dahin wie Adler.
Sie rennen und werden nicht matt,
sie laufen und werden nicht müde.
Jesaja 40,27–31 (Basis Bibel)
Diese Worte sind an Menschen gerichtet, die das Vertrauen verloren haben. Dies aus menschlich gut nachvollziehbaren Gründen. Der Prophet spricht zu Israeliten im 6. vorchristlichen Jahrhundert. Vielleicht gehörten sie zu den nach Babylon ins Exil Verschleppten. Vielleicht waren sie Teil der armen Bevölkerung, die in Palästina unter babylonischer Herrschaft unter Armut und Perspektivlosigkeit litten. Vielleicht waren sie auch Rückkehrer aus dem Exil, die versuchten, das zerstörte Jerusalem wieder aufzubauen und dabei auf unüberwindliche Hindernisse stiessen. Das lässt sich nicht sicher entscheiden. Klar ist aber: Die Niederlage Judas gegen Babylon hatte ihr Vertrauen gebrochen. Entweder war der Gott Israels schwächer als die Götter der Babylonier. Oder Jhwh hatte sich von Israel abgewendet, wegen der Schuld des Volkes. Beide Erklärungen führten zum gleichen Schluss: Es gab nichts mehr zu hoffen. Israel würde ganz untergehen. Die Verheissungen würden sich nie erfüllen. Von Gott hatte Israel nichts mehr zu erwarten. Ihm zu vertrauen machte keinen Sinn mehr. Es war aus. Vorbei. – Wie gesagt: In dieser Situation war das plausibel. Die Depression war gut begründet.
Und doch war sie grundfalsch. Deshalb hatte Gott seinen Propheten auf den Plan geworfen. Er unterstrich die Grösse und Vollmacht des Schöpfers und bekräftigte: Israels Gott hatte sich entgegen dem Augenschein nicht von seinem Volk abgewendet hatte. Sein Weg mit Israel war keineswegs am Ende. Und darauf folgt die Zusage, die wir gerade gehört haben: Auf Gott zu vertrauen lohnt sich. Daraus wächst Kraft und Ausdauer. Dazu das Bild des mächtigen Adlers im Flug. Also: Mit Gott kommst Du ins Fliegen. Wenn Du Gott vertraust, wirst Du ihn als treibende und tragende Kraft erleben. Gottvertrauen ist eine Kraftquelle, eine Ressource, die Du nutzen kannst und sollst.
Nur eben, das ‚Kleingedruckte’ ist zu beachten: Gewissheit findest Du nur, wenn Du den Sprung ins Ungewisse wagst. Dass Gottvertrauen trägt, erlebst Du erst, wenn Du darauf verzichtest, dich selber halten zu wollen. Wenn Du den Griff lockerst, die Kontrolle abgibst, mutig etwas riskierst … dann erst wirst du den tragenden Wind des Geistes unter deinen Flügeln spüren.
Es fühlt sich wohl an wie vor dem ersten Sprung vom Sprungbrett in der Badi. Oder als krasses Beispiel: Solange ein Bungee-Springer nicht ins Leere springt, ist es nur graue Theorie, dass das Seil ihn halten wird. Oder wieder weniger spektakulär: Um zu Schwimmen, musst Du Dich dem Wasser anvertrauen. Solange Du die Füsse am Boden behältst, erlebst Du nicht, dass das Wasser Dich trägt. Man muss sich anvertrauen, um die Kraft zu erleben. Das gilt fürs Schwimmen. Und es gilt fürs Glauben. Und es gilt für die Gemeinschaft der Glaubenden. Solange Du alles ängstlich selbst im Griff zu behalten versuchst, wirst Du nicht erleben, dass die Gemeinschaft dich trägt. Dass die Beziehungen in der Kirche/Gemeinde dank Gott wirklich tragfähig sind.
Dazu ein Beispiel von mir/uns: Seit längerem gibt es etwas in der Familie, was Pia und mir sehr zu schaffen macht. Es war uns schon länger klar, dass es über unsere Kraft geht. Aber wo und wie sollten wir Hilfe finden? Wir haben es riskiert, im geschützten Rahmen davon zu erzählen und um Unterstützung und Fürbitte zu bitten. Und so haben wir hier in der Gemeinde Hilfe gefunden: Menschen, die bereit waren und sind, sich mit uns zu treffen, zuzuhören und für uns zu beten. Das Problem ist nicht gelöst. Das dauert wohl noch lange. Aber wir halten es aus. Meistens sogar ganz gut. Weil wir nicht allein sind. Weil Menschen mit und für uns beten. Weil Menschen uns helfen, Gott zu vertrauen, den Griff zu lockern und auf seine Wege und Lösungen zu hoffen und zu warten. – Wir haben uns anvertraut, es riskiert, uns schwach und hilfsbedürftig zeigen. Und erleben so: Die Gemeinschaft trägt. Der gemeinsame Glaube entlastet. Und Gott wirkt. – Zurück zum Bild des Adlers: Um zu fliegen, muss man abstossen, loslassen, ins Leere springen. Darum an dieser Stelle die Geschichte vom Adler, der nicht fliegen wollte:
Ein Mann ging in den Wald. Er wollte einen Vogel fangen, den er mit nach Hause nehmen konnte.
Er fing einen jungen Adler, brachte ihn heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel.
Nach fünf Jahren erhielt er den Besuch eines naturkundigen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte der: „Dieser Vogel dort ist kein Huhn, das ist ein Adler!“
„Ja“, sagte der Mann, „das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel 3 Meter Spannweite haben.“
„Nein“, sagte der andere. „Er ist immer noch ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte.“ — „Nein, nein“ sagte der Mann, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen.“
Die beiden beschlossen, die Probe aufs Exempel zu machen.
Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend zu ihm: „Du bist ein Adler und gehörst dem Himmel, nicht der Erde: Breite deine Flügel aus und fliege!“
Der Adler sass auf der hochgestreckten Faust und blickte umher. Als er hinter sich die Hühner Körner picken sah, hüpfe er zu ihnen hinunter.
Der Mann sagte: „Ich habe dir ja gesagt, er ist ein Huhn.“ — „Nein“ sagte der andere, „er ist ein Adler. Wir versuchen es morgen noch einmal.“
Am nächsten Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte wieder zu ihm: „Du bist ein Adler und gehörst dem Himmel, nicht der Erde: Breite deine Flügel aus und fliege!“ Doch der Adler sah wieder die scharrenden Hühner im Hof und sprang er zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen.
Da sagte der Mann wieder: „Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.“
„Nein“ sagte der andere, “er ist ein Adler, und er hat immer noch das Herz eines Adlers. Wir versuchen es noch ein letztes Mal. Morgen werde ich ihn fliegen lassen.“
Am nächsten Morgen stand er früh auf, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern an den Fuss eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Spitze leuchtete im strahlenden Morgenlicht.
Er hob den Adler hoch und sagte zu ihm: „Du bist ein Adler und gehörst dem Himmel, nicht der Erde: Breite deine Flügel aus und fliege!“
Der Adler blickte umher. Ein Zittern durchfuhr ihn, als erfülle ihn neues Leben. Aber er flog noch nicht. Da liess ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete der Adler seine gewaltigen Flügel aus. Er liess einen gewaltigen Schrei hören und hob ab. Er flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück.
Diese gut erfundene Geschichte berührt ganz verschiedene Themen, z.B.:
- Es ist eine Parabel über die Befreiung des Menschen sein. Darin steckt der Zuspruch: Du hast ein Adlerherz, auch wenn die Menschen dich oft für ein dummes, träges Huhn halten. Du bist ein Kind des Höchsten, ein Königskind … und kein dummes Huhn oder eine blöde Kuh, als die andere dich manchmal behandeln und hinstellen!
- Es ist aber auch eine Geschichte über Gewöhnung und Trägheit, die viele Menschen gefangen nehmen! Man gibt sich nach aussen zwar gerne modern und global. Schaut Filme aus den USA auf einem in China hergestellten Gerät, verbrennt Benzin aus Arabien und lädt im Internet lateinamerikanische Musik herunter. Und doch denkt man kaum über den eigenen Tellerrand bzw. über den Hühnerhof hinaus.
- Es ist eine Geschichte über den Preis der Freiheit: Wer frei sein, fliegen will, muss daran glauben, dass das geht: Wer nicht wie ein Huhn im sicheren, aber todlangweiligen Hühnerhof leben will, muss träumen. Und muss fliegen lernen. Und darf nicht aufgeben, wenn es nicht auf Anhieb klappt.
- Auch die Käuflichkeit des Menschen klingt in der Geschichte an: Gib dem Menschen nur genug zu essen … und er vergisst, dass er einmal fliegen konnte, dass er ein Kind Gottes ist, ein Ebenbild Gottes!
Bei den Römern hiess das noch: Gib ihnen Brot und Spiele, d.h. ein paar Wagenrennen und Gladiatoren, die sich prügeln. Wenn sie dabei zusehen dürfen, wir keiner mehr aufmucken. Heute heisst das: Gib den Leuten ein iPhone, Facebook und ein paar Computer Spiele – und sie fragen sich gar nicht mehr, warum sie nicht fliegen, sondern nur noch sitzen und hängen.
- Es ist eine Geschichte über die Unmündigkeit und Bevormundung, unter der viele Menschen leben. Sie lassen sich runterbügeln und glauben sogar noch, sie hätten es nicht besser verdient.
Dieses Thema beleuchtet ja auch schon die Bibel mit der Geschichte von Israels Auszugs aus der Sklaverei in Ägypten: Auf dem Weg in die Freiheit in der Wüste wollten die Menschen plötzlich wieder zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Sie hätten dafür sogar akzeptiert, wieder Sklaven zu sein: Lieber mit vollen Bäuchen gefangen als den anstrengenden Weg der Befreiung zu Ende zu gehen.
- Diese Adler-Geschichte lässt dich und mich entdecken, wie oft wir uns im Alltag mehr vom Bedürfnis nach Sicherheit leiten lassen, als den Verheissungen Gottes zu trauen und zu entfalten, wozu Gott uns erschaffen hat: Als freie Töchter und Söhne Gottes zu leben.
- Last but not Least: Die Geschichte zeigt, was möglich ist, wenn Menschen Vergebung erleben. Menschen, die die Kraft der Vergebung nicht kennen, gleichen dem gefangenen Adler. Wer aber Vergebung erlebt, wird zum fliegenden Adler! Wird frei und kommt hoch/weit im Leben!
Ursprünglich handelt die Geschichte vom Kontinent Afrika. Der Autor James Aggrey schrieb sie als Gleichnis über die Völker Afrikas. Er stammt selbstaus Ghana, West-Afrika. Geschrieben zu Beginn des 20. Jh. endet die Geschichte im Original mit dem Aufruf: „Völker Afrikas! Wir sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, aber Menschen haben uns beigebracht, wie Hühner zu denken, und noch denken wir, wir seien wirklich Hühner. Aber wir sind Adler. Drum breitet Eure Schwingen aus und fliegt! Und seid niemals zufrieden mit den hingeworfenen Körnern!“
Es ist lange her, seit James Aggrey seine Geschichte schrieb. Das eine oder andere hat sich seither wohl auch geändert. Und doch ist Rassismus immer noch ein brandaktuelles Thema. Und noch immer ist unter Weissen vielerorts die Meinung toleriert, dass Afrikaner dumm, minderwertig, und nicht wirklich entwicklungs-fähig seien. James Aggrey wollte Afrika aufrütteln, dass es sich nicht länger minderwertig fühlt. Schliesslich hat der Kontinent wunderbare eigene Kulturen, eine grossartige Geschichte, viele Kunstwerke und einen tiefgründige Glauben.
Aufrütteln soll das Gleichnis auch uns mit der Frage: Wie leben wir die Beziehung zu Menschen anderer Rassen oder Denkweisen. Knechten wir sie oder trauen wir ihnen zu, dass sie fliegen können? Rechnen wir damit, von ihnen so viel lernen zu können, wie wir ihnen beibringen zu können meinen?
Zurück zu Jesaja 40 bzw. zum sich anvertrauen: „ die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler…“D.h. Vergesst es nicht: Ihr seid Adler! Ihr könnt fliegen. Auch wenn wir oft genug Hühnerfutter bekommen, wie Hühner behandelt werden, uns eingeredet wird, das Fliegen stehe uns nicht zu. Lasst euch nicht unterkriegen. Werft die Hoffnung nicht weg, dass ihr durch euren Glauben an Gott Dinge erreichen könnt, die so faszinierend und freisetzend sind wie fliegen!
Sich Anvertrauen – Ich schliesse mit einer Bildmeditation. Das Lied dazu hat Jackie Leuenberger (von ihr kommt auch ‚Chönig vom mym Härz‘, das wir heute schon gesungen haben) geschrieben. Es trägt den Titel: ‚Wing ungr myne Flügu‘. Der Song ist für mich ein Mutmacher geworden. Ich höre ihn immer wieder in der Predigtvorbereitung. Predigen ist manchmal nämlich auch wie Fliegen. Toll, wenn man dran ist und es gelingt. Aber es braucht oft einen grossen Anlauf. Und vielleicht käme ich oft nicht vom Boden weg, wenn ich nicht vorher zu Gott beten oder ihm zusingen könnte: „Du bisch dr Wind unger myne Flügu, mit dir flüg i wyt übers Land …“
wind ungr myne flügu (jackie leuenberger)
Wie mängisch bin i scho am Bode gsi
wiu i eifach nümm ha wyter gseh
Ha nümme chönne gloube
der Wäg verschumme vor den Ouge
De han i dyni Hang uf myre gschpürt
dyni Wort voller Zueversicht ghört
u zäme hei mir’s de i Agriff gno
zäme sy mir bym Ziel acho
Du bisch der Wind unger myne Flügu
Mit dir flüg i wyt übers Land
Styge uf i Himmu
Nüt wo üs ufhalte chönnt
Wenn i weiss du treisch mi du liebsch mi
du häbsch mi
wagen i wyter und wyter und wyter z ga
Du hesch so vieli mal e Lösig gha
wo mir sälber nid i Sinn wär cho
Hesch mi inspiriert
wiu du gloubt hesch a mi
Hesch ds Beschte us mir usegholt
Viel meh als i mir je hätt zuetrout
Und wenn i gseh won i hüt stah
weiss i ohni di wär i nid da
Du bisch der Wind unger myne Flügu …
Du bisch der Wind
und mit dir
chumen i sicher
sicher as Ziel