Christus Raum geben — Glaube als Ressource IV

Lukas 13,10–13 , Römer 5,1–8 und andere

Predigt am 05.03.2023 in der EMK Adliswil und in der Regen­bo­genkirche

Liebe Gemeinde,

wie sind Sie unter­wegs im Leben? Wohin schauen Sie, z.B. wenn sie zum Bahn­hof gehen: Haben Sie den Blick starr aufs Handy gerichtet? Check­en Sie vielle­icht alle 30 Sekun­den die Uhr? Schauen Sie konzen­tri­ert vor sich auf den Boden? Oder nehmen Sie ihre Umge­bung wahr? Wieviel Wass­er die Sihl hat? Was für Wet­ter ist? Woher die Sonne scheint? Vielle­icht acht­en Sie sog­ar auf Men­schen, die mit Ihnen unter­wegs sind. Ahnen, wie es ihnen geht.

Meine Beobach­tung ist: Viele sind im All­t­ag unter­wegs auf sich selb­st konzen­tri­ert. In sich gekehrt. Sie schauen nach innen. Beschäfti­gen sich mit aller­lei, aber nicht damit, wo sie im Moment sind. Men­schen sind oft ver­schlossen unter­wegs, in sich selb­st verkrümmt. So ähn­lich wie Kain, von dem wir in der Schriftle­sung gehört haben. Gott fragte ihn: Warum stierst Du so vor Dir auf den Boden?

Manch­mal sticht mich der Hafer. Dann ver­suche ich, den Men­schen in die Augen zu schauen. Oft unmöglich, weil ihr Blick am Boden klebt. Wenn es gelingt, erschrickt das Gegenüber manch­mal. Fühlt sich beobachtet, ja ertappt. Und grüsst dann hastig. Sog­ar auf der Bahn­hof­s­trasse in Zürich. Man will sich ja nichts vor­w­er­fen lassen. Manch­mal kommt aber auch ein offen­er, fre­undlich­er, inter­essiert­er Blick zurück. Vielle­icht sog­ar ein Lächeln und ein her­zlich­er Gruss. Das sind dann wirk­lich tolle Momente.

Ich will keineswegs behaupten, dass ich offen­er als andere durch die Welt gehe. Vor langer Zeit bin ich in der Stadt ein­mal mein­er Frau über den Weg gelaufen und habe es nicht ein­mal gemerkt. So etwas kann passieren, wenn ich zu sehr nach innen schaue. Vielle­icht, weil ich in Gedanken ger­ade etwas vor­bere­ite. Oft aber, weil ich in mich selb­st verkrümmt bin und nur auf meine Sor­gen achte.

Kön­nte es sein, dass wir uns oft zu sehr in uns selb­st zurückziehen? Dass wir uns in uns selb­st verkrüm­men und ein­schliessen? – Das wäre vielle­icht nicht gle­ich eine Sünde, wie es in der Kains­geschichte anklingt. Aber ver­passte Chan­cen bedeutete es alle­mal. Dass wir neben dem Leben, der Schöp­fung, den Mit­men­schen blieben. Und für die Gegen­wart Gottes nicht empfänglich wären.

Mir fällt auf: Wenn es mir nicht so gut geht, neige ich zum Rück­zug ins Sch­neck­en­haus. Ich verkrümme mich in mich und meine Sor­gen und Sörgeli. Dabei tut mir das über­haupt nicht gut. Son­dern es fördert Verspan­nun­gen und Verkramp­fun­gen. Im Ergeb­nis geht es mir noch schlechter. Weshalb ich mich noch mehr zurückziehe, verkrümme, ein­schliesse …. – Es ist eine fatale Abwärtsspi­rale, aus der ich bess­er früher als später aus­brechen … oder befre­it wer­den muss.

Zulet­zt habe ich es in mein­er Ferien­woche erlebt: Die Umstel­lung von Arbeits- auf Ferien­rhyth­mus gelang mir nicht wieder ein­mal nicht so recht. Die Ner­ven began­nen zu flat­tern. Dage­gen wehrte ich mich und begann mich dabei zu verkrampfen. – Auf ein­er Wan­derung durchs Oberen­gadin fiel es mir plöt­zlich auf: Ich nehme die Umge­bung gar nicht wahr. Die tolle Land­schaft und die Hel­ligkeit erre­ichen mich nicht. Viel zu sehr schaue ich vor mir auf den Boden. Ich bin ganz in mich verkrümmt.

Dann fiel mir die Geschichte von der verkümmten Frau ein. Ich lese aus Lk 13,10–13: „Ein­mal sprach Jesus am Sab­bat in ein­er Syn­a­goge. Nun war dort eine Frau, die schon achtzehn Jahre lang von einem bösen Geist geplagt wurde, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und kon­nte sich nicht mehr aufricht­en. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr: »Frau, du sollst deine Krankheit los sein!« Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und pries Gott.“ – Mich traf auf dieser Wan­derung im Oberen­gadin der Gedanke: Was diese Frau erlebt hat, ist auch für dich möglich. Nimm das in Anspruch. Du musst nicht verkrümmt sein. Du hast die Kraft, dich aufzuricht­en, dich zu streck­en. Sie ist dir von Chris­tus geschenkt.

Das war ein Him­mel­re­ichsmo­ment. Ich beschloss, die Probe aufs Exem­pel zu machen: Ich ver­längerte die Wan­der­stöcke ein wenig. Machte die Augen richtig auf. Hob den Blick. Streck­te den Rück­en. – Nach weni­gen Schrit­ten begann sich etwas zu verän­dern: Ich wurde mir der Umge­bung bewusst. Es wurde heller, auch emo­tion­al. Und mir wurde klar: Es gibt so viel anderes als das, was dich herun­terziehen will. Darauf zu acht­en lohnt sich. Meine Stim­mung wird so bess­er. Mein Gang leicht­füs­siger. Nur schon die verän­derte Kör­per­hal­tung löst Pos­i­tives aus.

Zugegeben: Ich habe mich an diesem Tag viele Male aufgerichtet. Es brauchte immer wieder einen neuen Anlauf. Am Abend spürte ich dann im Rück­en Muskeln, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe … Offen­bar bin ich oft verkrümmt unter­wegs. Was man sich (unbe­wusst) antrainiert hat, wird man nicht auf einen Schlag los. – Erstaunlich fand ich aber schon: Schon die verän­derte Kör­per­hal­tung bee­in­flusst mein Empfind­en und meine Stim­mung. Es wird Raum frei in mir. Es hat mehr Luft Platz. Ich nehme die Schöp­fung um mich herum wahr. Und weiss wieder, dass Gott mit mir geht. Jeden Schritt. – Bewirkt hat das alles die Erin­nerung an eine unschein­bare Geschichte aus der Bibel.

Ich bewege mich in der Predigt auch heute um das Oberthe­ma: Den Glauben als Ressource nutzen. Gott stellt uns so viel zur Ver­fü­gung. Wir könn(t)en aus dem Vollen schöpfen. Ich will wahrnehmen, was da ist. Ich will nutzen, was Chris­tus zur Ver­fü­gung stellt.

Ganz zu Beginn des Gottes­di­en­stes haben wir gehört: „Chris­tus lebt in mir!“ Das gilt für alle. Die Frage ist aber: Wieviel Raum geben wir ihm, um sich in uns zu ent­fal­ten? – Wenn ich mich in mich verkrümme, find­et Chris­tus wenig Platz, ist eingek­lemmt in mir. So hat er nur beschränk­te Möglichkeit­en, in mir zu wirken. Wenn ich mich aber aufrichte, ihm Platz mache, geht viel Raum auf. Chris­tus find­et dann in mir viel mehr Angriffs­fläche für seine Liebe. – Ich möchte Chris­tus in mir so viel Raum geben wie nur möglich. Darum bin ich für diese vierte Predigt über ‚Glauben als Ressource‘ bei dieser The­men­for­mulierung gelandet: Chris­tus Raum geben.

Mein Feriener­leb­nis hat mich daran erin­nert: Die Verän­derung der Kör­per­hal­tung bewirkt etwas, bevor ich es füh­le. Die Gefühlslage wird pos­i­tiv bee­in­flusst. Die Stim­mung wird heller. Und die Kanäle, auf denen ich für Gott empfänglich bin, gehen auf. – Das wird vielfach stärk­er, wenn ich mich nicht nur auf die Kör­per­hal­tung konzen­triere. Son­dern mich an die heil­same Kraft Christi erin­nere und ihr bewusst Raum gebe in mir.

Zurück zur verkrümmten Frau: Was belastete sie? Für die stark religiös aufge­ladene Medi­zin damals war der Fall klar: Da steckt ein bös­er Geist dahin­ter. Diese Antwort ist heute erk­lärungs­bedürftig. Ich ver­ste­he sie als Zusam­men­fas­sung für: Schwierige Umstände, Erleb­nisse und Prä­gun­gen wur­den zur grossen Belas­tung. Man kann sich ja gut vorstellen: In der dama­li­gen gesellschaftlichen Struk­tur kon­nten sich Frauen kaum ent­fal­ten, wenn sie in Haus und Herd keine Beru­fung sehen kon­nten (Nicht von unge­fähr hat die Geschichte in der heuti­gen fem­i­nis­tis­chen The­olo­gie gross­es Gewicht bekom­men). Dazu kommt: Viel schwere Arbeit (Wass­er tra­gen; Jäten …) wurde für jede Frau zur Belas­tung. Vielle­icht hat­te sie auch ein schw­eres Schick­sal, war möglicher­weise ver­witwet. – Diese Frau wurde von den Belas­tun­gen ihres Lebens zusam­menge­drückt. Das kann allen passieren. Auch heute: Wer das Leben ganz aus eigen­er Kraft meis­tern will, kann sich über­fordern und verkrümmt sich dabei mehr und mehr in sich selb­st. – Die Lösung beste­ht darin, dass Jesus die Frau heilt. Er richtet sie auf. D.h. sie muss sich helfen lassen. Sie schafft es nicht mehr aus eigen­er Kraft. Sie muss Hil­fe annehmen. So kann sie sich aufricht­en. Und erlebt, wie Christi heil­same Liebe mehr und mehr Platz gewin­nt in ihr. So nutzt sie die Ressourcen Christi.

In der ntl Schriftle­sung haben wir vom Gelähmten am Teich Bethes­da gehört. (Johannes 5,1–9). Seine Geschichte hat viele Par­al­le­len zu jen­er von der verkrümmten Frau. – Da ist ein­er krank. Seit 38 Jahren am sel­ben Fleck. Kommt nicht weg oder weit­er. Und ist gefan­gen in seinem Jam­mern und Selb­st­mitleid. Er ist auch in sich selb­st verkrümmt. So sehr, dass es ihn völ­lig lähmt.

Der Schlüs­sel zur Heilung ist auch hier Jesus. Er kommt zu ihm. Stellt ihn aber nicht ein­fach auf die Füsse. Son­dern fragt: Willst du gesund wer­den? – Dieser Frage muss er sich stellen. Er muss Jesus in die Augen schauen und Antwort geben. Er muss von sich und vom Boden vor ihm wegschauen, auf­blick­en zu Jesus. Er muss sich sog­ar die Frage gefall­en lassen: Hast du es Dir wom­öglich in deinem Elend behaglich ein­gerichtet? Willst du über­haupt gesund wer­den? Der Gelähmte muss sich von der beque­men Opfer­hal­tung ver­ab­schieden. Das ist in sein­er elen­den Sit­u­a­tion den­noch eine Her­aus­forderung. Er muss aufhören, allen anderen die Schuld zu geben für seine Not. Und in Anspruch nehmen, nutzen, was Jesus zur Ver­fü­gung stellt. – So kommt es zur Heilung. Die Verkrus­tun­gen lösen sich. Die Verkramp­fun­gen entspan­nen sich. Es kommt Bewe­gung in den Gelähmten. Die Muskeln spüren Kraft. Die Hoff­nung gewin­nt Raum in ihm. Er lässt sich auf Jesus ein oder bess­er noch: Er lässt Chris­tus hinein. Und so nimmt die Heilung ihren Lauf. Chris­tus gewin­nt Raum in ihm.

Die Lösung klingt ein­fach: Chris­tus Raum geben. Dann geht es aufwärts. – Was heisst das? Was für Kräfte sind es, denen ich (mehr) Raum geben darf in mir?

Mit einem Abschnitt aus dem Römer­brief will ich es umreis­sen. – Keine Angst. Es fol­gt jet­zt keine hochdog­ma­tis­che paulin­is­che Gedanke­nakro­batik. Obwohl das auch span­nend wäre und der Text dazu ein­laden kön­nte. Aber ich lese nur den Abschnitt aus Römer 5,1–8. Und greife dann abschliessend drei Stich­worte kurz heraus:

Begin­nen wir bei der let­zten Aus­sage in V.8: Chris­tus starb für uns, als wir noch Sün­der waren. Wes­leyanisch bzw. methodis­tisch müsste ich jet­zt den Begriff der vor­laufend­en Gnade brin­gen. Gemeint ist: Chris­tus und seine Liebe gehen uns in allem voran. Was immer uns noch als unüber­windliche Hürde oder untrag­bare Last vorkommt, hat er schon über­wun­den. Er weiss, wie es weit­er geht. Er hat das Knowhow. Und er teilt es mit uns. Als kundi­ger Bergführer begleit­et er uns über alle Klip­pen, Abgründe, Gipfel und Fel­swände unseres Lebens. Er bringt uns weit­er auf dem Weg zu Gott. – Das bet­rifft alles, was uns von aussen bedro­ht. Es bet­rifft aber auch Fol­gen eigen­er Fehler und Unzulänglichkeit­en. Und es schliesst innere Kämpfe, Krämpfe und Zweifel ein. – Chris­tus lebt in uns. Damit ste­ht uns sein ganzes Knowhow zur Ver­fü­gung. Mit ihm sind wir fähig, mit allem umzuge­hen, was auf uns zukommt. Nutzen wir die Ressourcen. Geben wir Chris­tus Raum in uns.

Wir haben Frieden mit Gott (V.1): Das heisst: Luthers Frage ist  gelöst. Es muss nie­mand mehr nach dem gnädi­gen Gott suchen. Denn er ist da. Wir sind ver­söh­nt mit Gott. Er lebt durch Chris­tus in uns. – Das ist eine riesige Hil­fe für den Umgang mit Schuld und Schuldge­fühlen: Wom­it auch immer Du Dich belastet hat. Nichts hat die Macht, dich kaputt zu machen und von Gott zu tren­nen. Chris­tus hat ein für alle Mal für uns Frieden mit Gott gemacht. Du bist angenom­men. Gerecht­fer­tigt. Geliebt. – Gib dem Frieden, den er für Dich erlit­ten und erkämpft hat, Raum in Dir.

V.5: Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen aus­gegossen: Mit dieser Aus­sage berührt Paulus, was ich vor drei Wochen in der Predigt über die Kraft des Geistes zu zeigen ver­sucht habe. Gott schüt­tet seine Liebe (übri­gens nach dem in der Poli­tik ver­pön­ten, von der Gnade aber geliebten Giesskan­nen­prinzip) seine Liebe in unser Herz, ohne Rück­sicht auf Ver­luste. Das ist zunächst seine unz­er­stör­bare und unüber­bi­et­bare Liebe zu jedem und jed­er einzel­nen von uns. Mein Herz darf sich satt trinken an sein­er Liebe, bis es nie mehr Durst hat. – Dann macht diese Liebe zu mir mich fähig, in Mit­men­schen Schwest­ern und Brüder zu erken­nen. Chris­tus befähigt mich zur Liebe. Er bewirkt die Ver­wand­lung von der Verküm­mung in mich selb­st zur offen­herzi­gen Empathie für meine Mit­men­schen. Er begeis­tert mich zum Miteinan­der und Füreinander.

Seine Liebe ste­ht zur Ver­fü­gung. Durch Chris­tus, der in mir lebt. Sie ist wed­er begren­zt noch rationiert. Anders als die meis­ten irdis­chen Energiequellen wird sie nie ver­siegen. – Geben wir sein­er Liebe Raum. Und sie wird uns lehren, das von ihm geschenk­te Leben zu entfalten.

Und so lande ich bei ein­er Art Refrain aller mein­er Predigten über den Glauben als Ressource: Es ist alles da, was wir brauchen und uns wün­schen. Es ste­ht uns zur Ver­fü­gung. Alle Ressourcen, das Leben zu geniessen und zu ent­fal­ten, sind uns geschenkt. Denn Chris­tus lebt in uns. Seine Liebe ist aus­gegossen in unsere Herzen.

Nicht ver­schweigen will ich zum Schluss: Natür­lich ist es immer wieder eine Her­aus­forderung, eine Chal­lenge, Chris­tus Raum zu geben. Und es gelingt nicht immer. Aber hof­fentlich immer öfter. Es lohnt sich, es immer wieder zu pro­bieren. Und dabei mehr und mehr zu ler­nen. Und von ihm zu prof­i­tieren. Denn: Wir leben. Doch nun nicht wir. Son­dern Chris­tus lebt in uns.  Amen

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