Predigt am 26.03.2023 in der EMK Adliswil
aus dem ‘Bildersaal’ der EMK
Liebe Gemeinde,
vom Herrschen und vom Dienen – so oder ähnlich lautet der Titel des heutigen Predigttextes in der Bibel. Das zeigt eine entscheidende Fragestellung für Jesu JüngerInnen an: Will ich mich, meine Überzeugungen, meinen Glauben, meine Theologie durchsetzen? Suche ich Macht und Einfluss? Oder bin ich bereit zu dienen, d.h. das Eigene zurückzustellen (vgl. Mk 8,34) und mich ganz in den Dienst einer Sache zu stellen, die grösser ist als ich?
Die meisten Menschen möchten den Lauf der Dinge beeinflussen: Wir sagen gerne, wo es lang gehen soll. So ist es in Politik und Wirtschaft, wo ‚Alphatiere‘ gegeneinander um die Macht kämpfen. Es ist so im Beruf. Und es gilt im Privaten. Noch im Gewöhnlichsten, tagtäglich, sogar beim Anstehen an der Kasse: Menschen wollen Einfluss haben, sich durchsetzen, Macht ausüben. Auch in Kirche und Gemeinde funkt das immer wieder dazwischen und erschwert das Miteinander. Dabei sagte Jesus: „Ihr wisst: Die Herrscher der Völker unterdrücken die Menschen, über die sie herrschen. Und die Machthaber missbrauchen ihre Macht. Aber bei euch darf das nicht so sein: Sondern wer von euch gross sein will, soll den anderen dienen.“
Zu Dienen liegt den wenigsten Menschen einfach so im Blut. Das macht die christliche Lebensführung zur Herausforderung. Schliesslich wurde – und wird auch heute – christliches Leben gern schlicht als Dienst beschrieben. Ein gefundenes Fressern für Kritiker des Glaubens: Sie werfen Christen gerne vor, Dienen sei auch bloss eine fromme Floskel, der wenige konkret nachlebten. Solche Kritik lässt sich mit vielen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart untermauern. Wie oft wurde unter dem frommen Deckmantel christlichen Dienstes massiv Einfluss und Druck ausgeübt, ja knallharte Machtpolitik betrieben.
Innerchristlich wird eher gefragt, ob ‚dienen‘ nicht zu sehr nach Unterwürfigkeit klinge. Christ zu sein bedeute ja nicht, immer und überall den Kopf einzuziehen. Wer Christus diene, müsse auch Widerstand leisten, wenn Dinge aus dem Ruder oder in eine falsche Richtung laufen. Ein berechtigter Einwand! Wobei es in der konkreten Situation oft schwierig ist zu entscheiden: Ist Widerstand oder sogar Angriff dran? Selbst Jesus ging doch bei der sog. Tempelreinigung ausnahmsweise zum Angriff überging? Oder entspricht eher Erleiden, Dulden, Nachgeben (=Dienen) nach dem Vorbild Jesu in seiner Passion dem, was Gott von uns erwartet? Und überhaupt: Diene ich mit dem, was ich tue und sage, tatsächlich Christus? Oder vielleicht doch eher meinen eigenen Ideen und Vorteilen? Bin ich vielleicht gar in Gefahr, den Helden zu spielen und will nur – unter frommem Deckmantel — selbst gross rauskommen?
Herrschen oder dienen – befehlen oder gehorchen – im Rampenlicht stehen oder im Hintergrund wirken — gewaltfrei bleiben und doch Veränderung bewirken … im Spannungsfeld dieser Begriffe bewegt sich unser Leben und Glauben. Wie halten wir es dabei mit dem Dienen? Was bedeutet es, DienerIn des Christus zu sein, der nach seiner eigenen Aussage mit seinem Sterben allen diente? – Lasst uns einmal schauen, welche Hinweise und Antworten uns Markus 10,35–45 zu solchen Fragen gibt.
Versuchen wir uns zunächst in die beschriebene Situation und in das Empfinden von Johannes und Jakobus hineinzudenken: Die beiden Brüder (→ von Jesus selbst als ‚Donnersöhne‘ (vgl. Mk 3,17) bezeichnet, was eher an raubeinige Haudegen denken lässt als an sanfte Hippies), gehörten zu den ersten Jüngern des Wanderpredigers Jesus von Nazareth. Ihren Beruf als Fischer haben sie an den Nagel gehängt. Ihre Familie und alles andere haben sie zurückgelassen oder zumindest in den Hintergrund gestellt. Sie sind Jesu Ruf gefolgt. Schon längere Zeit ziehen sie mit Jesus durchs Land gezogen. Dafür haben sie einen Preis bezahlt: Im Luxus lebten sie gewiss nicht. Sie haben sogar Anfeindungen erlebt. Andererseits haben sie Unglaubliches erfahren: Sie haben Heilungen und Wunder erlebt. Sie haben Jesus zugehört. Ihre Begeisterung für das Reich Gottes war gewachsen. Dank und mit Jesus sind sie Gott sehr nahe gekommen. Immer wieder wurde seine Gegenwart greifbar. Die kommende neue Welt, von der Jesus redete, war schon zu spüren. Allen Schwierigkeiten und Entbehrungen, die es auch gab, zum Trotz: Jakobus und Johannes surften, seit sie mit Jesus gingen, auf einer grossen Welle …
Aber wie weit konnte diese Welle noch tragen? Gerade schien sie zu verebben. In den letzten Tagen hat sich etwas verändert: Jesus war stiller geworden, ernster, nachdenklicher. Was er zuletzt sagte, klang seltsam, irgendwie sogar beunruhigend und sicher schwer verständlich. Sie hofften wohl noch, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatten. Jesus hatte von harten Auseinandersetzungen, die bald kommen würden, gesprochen. Dazu hatte er zuletzt, nach langem Hin und Her, nun eindeutig die Richtung nach Jerusalem eingeschlagen.
Es lag etwas in der Luft. So viel war klar geworden. Bald würde Jesus zur Sache kommen. Und dann bliebe es nicht mehr bei treffenden Worten und vorsichtigen Andeutungen in Form von Gleichnissen. Jesus würde, so denken die ‚Donnersöhne‘, bald angreifen. Im Namen und in der Vollmacht Gottes würden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Die Luft würde den jetzigen Machthabern ausgehen. Jesus würde die Besatzer vertreiben, die Heuchler entlarven. Lange kann es nicht mehr dauern. Der ersehnte Tag des Herrn war nahe. Und es wird sein Tag sein, Jesu Tag, sein — der Tag vom Reich Gottes!
Doch wird es auch ihr Tag sein? Der Tag der Jünger? Der Tag der Donnersöhne? Darauf hatten sie doch ein Recht! Immerhin waren Jakobus und Johannes von Anfang an dabei. Allerdings waren sie bloss einfache Fischer. Ihre Bildung war begrenzt. Vom Regieren und von Macht hatten sie keine Ahnung. Was wird aus ihnen werden, wenn Jesus die Macht ergreift? Es war höchste Zeit voraus zu denken und vorzusorgen. Jesus hüllte sich nämlich diesbezüglich in Schweigen. Wollte er womöglich im entscheidenden Moment auf seine Gründungsmitglieder verzichten?
Johannes und Jakobus planen ihre Karriere. Sie machen sich Gedanken über die kommende Rollenverteilung. Vielleicht erwartet das Jesus von ihnen. Vielleicht denkt er auch gar nicht daran. Jedenfalls kann es nicht verkehrt sein, Jesus einmal auf diese Fragen anzusprechen. Er legte doch immer Wert auf Eigeninitiative. Darum gehen sie auf Jesus zu: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, worum wir dich bitten.“ Das klingt sehr selbstbewusst, vielleicht sogar anmassend, unverschämt. Doch was solls? Es stehen entscheidende Dinge an. Da werden Männer gebraucht, die nicht lange um den heissen Brei herumreden. Die Verantwortung übernehmen. Also: ‚Machst bitte für uns, worum wir bitten!‘
Doch nein! Es gibt keinen Blanko-Check. Johannes und Jakobus müssen schon genau sagen, worum es geht. Also fragt Jesus zurück: „Was soll ich für euch tun?“ – Klingt das ein wenig wie ein Dialog aus einem Western. Coole Männer reiten durch die Prärie auf dem Weg zur nächsten Heldentat. Auf dem wilden und staubigen Ritt wird nur das nötigste gesagt. Wenige Worte, kurze Sätze.
In diesem Stil geht es weiter. Die Donnersöhne kommen auf den Punkt: „Gewähre uns, dass wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen werden in deiner Herrlichkeit.“ – Keine Spur von Zweifel darüber, wer den bevorstehenden Kampf gewinnen wird. Die künftigen Sieger reden bereits über das Danach. Die ‚Beute‘ soll im Voraus verteilt werden. Die Verteilung der Posten im neuen Herrschaftsgebiet klar sein. Johannes und Jakobus geben die selbstbewussten Helden: Männer, die ganz genau wissen, was sie drauf haben. Von sich und ihrer Sache völlig überzeugt. Filmreife Siegertypen eben.
Doch Jesus bringen solche Spielchen nicht aus dem Konzept. Die Coolness seiner Jünger beeindruckt ihn nicht. Deshalb sagt er: „Ihr wisst gar nicht, worum ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“ Das heisst: Ist euch klar, wieviel Mut und Kraft ihr dafür aufbringen müsstet? Jesus weiss genau: Es wird hart auf hart kommen. Viel härter, als sich Jakobus und Johannes vorstellen können. Heldenrollen, wie sie eine suchen, gibt es dabei nicht. — Es wird ein Kampf, ja. Doch die Regeln sind anders als üblich. Gewonnen wird nicht so wie sonst. Leidenschaftliches Engagement wird ins Leiden führen. Zu gewinnen sind aus menschlicher Sicht weder Ruhm noch Macht. Am Ende steht zunächst keine Siegerehrung. Auch kein Festbankett. Sondern anscheinend die totale Niederlage. Jesus spricht von Kelch und Taufe. Das sind ursprünglich keine Siegeszeichen, im Gegenteil. Es sind düstere Symbole. Der Kelch steht für das drohende Schicksal des Todes. Er stellt dar, was Dietrich Bonhoeffer kurz vor seinem Tod im KZ umschrieb als „den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand“. Und die Taufe ist ein Bild für das Versinken in der Flut, im Wasser, das sich über einem schliesst. Die Taufe steht ja auch für den Tod des früheren, alten Menschen. — Leiden, das bis zum Tod führen kann, das haben Jakobus und Johannes zu erwarten. Nur so führte ein Weg auf die Plätze links und rechts von Jesus. Falls die dann überhaupt noch Bedeutung haben. — Sind denn die Donnersöhne zu diesem Einsatz bereit und in der Lage?
Sie gehen jedenfalls davon aus: „Wir können das!“, sagen sie. Sonst wären sie ja keine echten Männer. Helden kneifen nicht, wenn es brenzlig wird. — Sehen Sie sie auch vor sich mit ihren entschlossenen Gesichtern. Mit leuchtenden Augen. Die Zähne zusammengebissen. Die Muskeln angespannt. – Zu allen Zeiten: Wie viele Männer haben schon so die Zähne zusammengebissen, sich Mut eingeredet und sind in den Kampf gezogen! Lieber umkommen, als Zweifel an der eigenen Tapferkeit aufkommen lassen. Sie kämpf(t)en für ihre Sache oder ihre Herren und starben. Sie suchten Ehre und Heldentum … und fanden schliesslich doch nur Schuld, Traumata, Verstümmelung oder Tod. Ich sehe sie vor mir, diese potenziellen Helden, die es wohl gut und ehrlich meinen … und doch ganz verkehrt anpacken. Und ich sehe Jesus vor mir, der diese Zusammenhänge viel klarer durchschaut als irgendjemand sonst. Ich fühle sein Elend und seinen Jammer angesichts dieser Welt. Einer Welt, in der vor allem Männer immer wieder in den Kampf ziehen und gnadenlos um die Macht kämpfen. Jesus, dem in diesem Moment der grösste Kampf aller Zeiten bevorsteht … der sich darin anders verhalten wird als alle Kämpfer vor ihm und nach ihm … und der gerade so dem ganzen Elend ein Ende machen wird. Er wird ein Reich begründen, in dem sich nicht Macht und Kraft, sondern Liebe, Demut und Dienst durchsetzen werden.
Da sagte Jesus zu ihnen: „Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden, doch über den Platz zu meiner Rechten oder Linken zu verfügen steht mir nicht zu, sondern er wird denen zuteil, für die er bereitet ist.“
Man kann Johannes und Jakobus nicht vorwerfen, dass sie geblufft hätten. Und Jesus sagt sowieso keine leeren Worte. In unserem Predigttext ist vorgezeichnet, was später Wirklichkeit wurde: Jesus starb schon bald den Tod am Kreuz. Und Jakobus und Johannes gehörten später zu den ersten Opfern der Christenverfolgungen im Römischen Reich. Sie standen zu dem, was sie hier schon behaupteten. Obwohl ja zuerst alles so total anders kam als sie meinten, als sie mit Jesus in den Kampf ziehen wollten. Dieser Kampf wurde ganz anders. Jesus führte ihn ohne Schwert und Gewalt, diesen Kampf gegen die eigene Karriere und um den Willen Gottes. Gegen die eigene Angst und Bitterkeit. Gegen den eigenen Hass und die Gewaltbereitschaft. Jesu Kampf der Liebe, die den Tod überwindet. – Vor diesem Kampf liefen freilich im ersten Anlauf noch alle Jünger (die Donnersöhne inklusive) davon, an dem Tag, als es für Jesus ernst wurde in Jerusalem. – Die Jünger hatten damals noch nicht begriffen, worum es wirklich ging. Deshalb weiss auch niemand, wie die Leute hiessen, die an diesem Tag links und rechts von Jesus waren. Zwei namenlose Männer, verurteilt als Verbrecher wie Jesus selbst, wurden neben ihm gekreuzigt. Es war das namenlose Elend, in dessen Mitte Jesus seinen so ganz anderen Sieg erlitt.
Das Gespräch von Jakobus und Johannes mit Jesus fand vor diesem grossen Kampf statt. Und es hatte sofort Auswirkungen, da es nicht vertraulich blieb. Die anderen Jünger wurden aufmerksam – und sauer: ‚Typisch Donnersöhne. Die wollen sich ihren Platz im Geschichtsbuch sichern! Halten sich wohl für etwas Besseres!‘ — Und schon beginnt – immer wieder die Wurzel des Elends — das Gerangel unter den ‚Alpha-Männchen‘. Jesus muss eingreifen, weil keiner das Entscheidende begriffen hat. Er sagt zu ihnen: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Grossen setzen ihre Macht gegen sie ein.“ – Das ist mehr als eine Binsenwahrheit. Bis heute. Nachrichten und Schlagzeilen bestätigen es tagtäglich. Doch damit sagt Jesus damals in der Situation: ‚Ihr, meine Jünger, seid genauso wie die, von denen ihr befreit werden wollt! Meint ihr, wir gehen nach Jerusalem, um wie sie zu werden, und um die Herren dieser Welt nur in ihren Posten abzulösen? Um selbst gefeierte Mächtige zu sein? Träumt ihr wirklich solche Machtfantasien?‘
Und dann fährt Jesus fort: „Unter euch aber darf es nicht so sein!“ Gerade so geht es nicht zu bei meinen NachfolgerInnen. Prinzip des Reiches Gottes gelten: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller.“ Das ist mein Weg, sagt Jesus. Wenn ihr mit mir gehen wollt, geht auch ihr diesen Weg. Lernt: Echte Freiheit bedeutet, frei zu sein von der Angst um sich selbst. Keine Sorgen mehr um die Karriere, um den eigenen Einfluss, die eigene Macht. Werdet diese Sorgen los! Werdet frei für die Bedürfnisse und Sehnsüchte eurer Mitmenschen, für die Anliegen Gottes. Das ist echte Freiheit! Wenn ich von mir selbst absehe und mich ganz auf Gott verlasse! Wenn ich nicht mehr gefangen bin von der Sorge um meine Stellung! Wenn ich darauf vertrauen kann, dass für mich gesorgt ist. Das ist der Weg, der zum Reich Gottes führt: Heute schon so zu leben, wie die Menschen einst zusammen und mit Gott leben werden. Nicht gegeneinander, sondern radikal miteinander und füreinander.
So hat es Jesus gehalten und gemacht. So ist er seinen Weg gegangen. Er ist dabei geblieben, als dieser Weg ihn ans Kreuz führte. — Doch Gott hat Christi Weg nicht dort enden lassen. Und so wurde Jesu Weg tatsächlich zum Durchbruch des Lebens und zur Erlösung für viele. — Im bewaffneten Kampf wollten die Jünger das durchsetzen, was man Christentum nennen könnte. Viele nach ihnen wollten dasselbe und taten es nicht selten auch. Menschen, die sich Christen nannten, gingen den Weg der Macht, kamen auch zu Einfluss und Ruhm … und gerieten doch gründlich neben die Spur, die Christus gelegt hat.
Jesus macht nämlich klar: Nur der andere Weg führt zum Ziel — der Weg der Nachfolge Jesu, der Orientierung an seinem Beispiel und Vorbild. Das ist der Weg, auf dem man im Namen Christi konsequent liebevoll und gewaltlos handelt, egal wieviel das kosten mag. Auch dieser Weg führt in Kämpfe und erfordert jede Menge Tapferkeit und Mut. — Geht diesen Weg! So fordert Jesus mit seinen Jüngern auch uns auf. Engagiert Euch für den Aufbau einer anderen, ganz neuen Gemeinschaft, in der Liebe und gegenseitiger Respekt die Leitwerte sind. Geht und lebt den Weg des Friedens, den Jesus selbst vorgezeichnet, vorgelebt hat. „Wer von euch gross sein will, soll den anderen dienen. Und wer von euch der Erste sein will, soll der Sklave von allen sein.“ Amen