Predigt am 14.05.2023 in der EMK Adliswil ; nach eine Vorlage von Pfrn. Claudia Kook auf predigtpreis.de

Liebe Gemeinde,
eine Frau – nennen wir sie Rahel — steht in der grossen, alten Kirche ihrer Kindheit. Sie steht nur da und nimmt die Atmosphäre in sich auf: Den Geruch. Das schummrige Licht. Unter der mächtigen Empore schaut sie zuerst nach vorne, zu den farbigen Fenstern im Chor. Dann wandern ihre Augen zur Seite. Noch immer steht da eine Stellwand, wie schon damals, als sie noch ein Kind war. Rahel hatte sie kleiner und wackliger in Erinnerung. Inzwischen ist sie stabiler gebaut. Es hängen viele Zettel hängen daran. Viele Farben und Formen. Wild durcheinander. Manche zusammengefaltet. Andere offen mit großer Handschrift: „Gott hilf mir!!!“ steht auf einem, mit drei Ausrufezeichen dahinter. „Danke, dass es geklappt hat, lieber Gott“, kann sie auf einem anderen lesen. Und: „Mach, dass Papa wieder heim kommt“. Sie geht näher zur Gebetswand und liest die vielen Gebete, die BesucherInnen hier angepinnt haben. Sehr viele Menschen scheinen die Möglichkeit zu nützen. Manche waren dabei glücklich, andere traurig, besorgt oder gar verzweifelt. Doch niemand ohne Hoffnung. Alle ZettelschreiberInnen gingen davon aus, dass ihre Gebete nicht vergeblich sind. „Vor allen Dingen,“ liest die Frau die Überschrift ganz oben: „Vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen!“
Rahel erinnert sich: Dieser Satz stand schon immer dieser Satz da. Irgendjemand hatte ihn auf ein grosses Stück Papier geschrieben. Dieses Papier ist zwar weg. Aber der Bibelvers war nun der offizielle Titel des Gebetsbrettes. Mit einem richtigen Layout. Auf einem dick laminierten Plakat. „Für alle Menschen“! Rahel flüstert die Worte vor sich hin. Dann geht sie zum Tischchen daneben, auf dem Zettel und Stifte bereit liegen. Sie nimmt einen der Stifte zur Hand, und überlegt: Was soll ich drauf schreiben? Wofür möchte ich beten? Oder: Für wen?
Liebe Gemeinde, was würden Sie auf den Zettel schreiben? Für wen würden Sie heute beten? Wofür möchten Sie beten? — Vielleicht hilft der gerade genannte Bibelvers zu einer Antwort. Er stammt aus dem heutigen Predigttext, 1. Timotheus 2,1–6:
Zuerst und vor allem bitte ich euch, im Gebet für alle Menschen einzutreten: Bringt eure Wünsche, Fürbitten und euren Dank für sie vor Gott. Betet auch für die Könige und alle übrigen Machthaber. Denn wir wollen ein ruhiges und stilles Leben führen –in ungehinderter Ausübung unseres Glaubens und in Würde. So ist es recht und gefällt Gott, unserem Retter. Er will ja, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn nur einer ist Gott und nur einer der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus. Der hat sich selbst hingegeben als Lösegeld für alle Menschen.Das gilt es zur rechten Zeit zu bezeugen. 1. Tim 2,1–6 (Basis Bibel)
Rahel schreibt auf ihren Zettel: „Ich danke dir für all das Gute damals“. Sie sieht sich wieder als kleines Mädchen, kaum sechs Jahre alt. Sie ist mit ihrem Grosi im Gottesdienst. Und wie immer darf sie Grosi beim Hinausgehen etwas ins Ohr flüstern. Die schreibt das dann auf einen Gebetszettel, damit Gott es später, wenn alle nach Hause gegangen sind, in Ruhe lesen kann. So hatte sie sich das als Kind immer vorgestellt.
Dann nimmt Rahel ein zweites Blatt. Kurz zögert sie noch. Doch dann schreibt sie: „Gott, warum bist du manchmal so ungerecht?!“ Ob das als Gebet durchgeht? Sie ist nicht ganz sicher. Aber sie steckt den Zettel an die Wand und sieht dabei wieder sich selbst, diesmal als Konfirmandin. Am Schluss des Konf-Gottesdienstes war sie auch vor dieser Wand. Damals klangen ihre Gebete immer ähnlich: „Lass Grosi wieder gesund werden! Lass Grosi nicht sterben! Lass mich nicht alleine!“ Aber die Grossmutter war doch gestorben. Die Zettel und die Gebete hatten nicht geholfen. Und Rahel blieb zurück mit dem Eindruck, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Falsch gebetet. Vielleicht hätte sie bescheidener, demütiger formulieren sollen. Vielleicht mochte Gott sie einfach nicht.
Noch ganz versunken in der Erinnerung an die damals verstorbene Grossmutter, fällt Rahels Blick auf einen anderen Zettel. Er hängt ganz am Rande der Wand. Darauf steht: „Beten heißt wünschen lernen. Nur feuriger (Jean Paul)“. Das klingt ja auch nicht demütig oder bescheiden, denkt sie. Rahel gefällt dieser Satz. Wie das Wünschen hat auch das Beten mit mir selbst zu tun, geht ihr durch den Kopf. Da muss ich mir nichts vorschreiben lassen. ‘Beten heißt wünschen lernen’. Meine ganz eigenen Wünsche. Nichts, was mir eingeredet wird. ‘Nur feuriger’. Weil Gebete von tief innen kommen. Und nach aussen dringen, zu Gott hin streben. Hätte ihr das nur damals jemand gesagt. Sie hätte nicht aufgehört, für ihre Grossmutter zu beten, ja zu schreien. Und sie hätte gewusst, dass es richtig ist. Auch wenn Grosi trotzdem gestorben wäre. Aber sie hätte ihren Schmerz, ihre Einsamkeit, ihre Wünsche, ihre innerste Sehnsucht hinaus schreien können. Sozusagen alles Gott vor die Füsse werfen können. Das wäre immerhin etwas gewesen. So aber war Grosis Tod das vorläufige Ende ihrer Gebetskarriere.
Rahel kehrt mit ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Jetzt steckt sie einen dritten Zettel an die Gebetswand. Leer. Als Zeichen dieser gebetslosen Zeit. Ihre „stumme Zeit“, wie sie jetzt rückblickend realisiert.
Sie zog damals bald zu Hause aus. Später ging es noch weiter weg. Sie lernte Eduard kennen. Sie heirateten. Doch nach einigen viel zu langen Jahren wurde die Ehe wieder geschieden. Sie blieb zurück, allein und verletzt, innerlich leer.
Auch in dieser Zeit der Leere war sie einmal in ihrer Heimatstadt gewesen. Aus welchem Anlass weiss sie nicht mehr. Aber ganz genau erinnert sie sich, auch bei dieser Gelegenheit in die Kirche gegangen zu sein. Und vor der Gebetswand gestanden zu haben. Aus purer Gewohnheit. „Vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen!“ - „Für alle Menschen?“ hatte sie damals wütend in die Kirche gerufen. „Für alle Menschen?! Niemals. Beten für Eduard – im Leben nicht!“ Aus einem Impuls heraus hatte Rahel das Blatt mit dem Bibelvers herunter gerissen. Mit aller Kraft hatte sie es zerknüllt. Dann hatte sie sich dann erschrocken umgesehen. Und erleichtert festgestellt, dass niemand sie beobachtet hatte. Dannhatte sie den zerknüllten Bibelvers heimlich in ihre Handtasche gesteckt, um ihn draussen in einen Papierkorb zu werfen.
Bei dieser Erinnerung muss sie leise lachen. Und Rahel freut sich, dass der Satz wieder auf der Gebetswand steht.
Damals aber, nach ihrem spontanen Anschlag auf die Gebetswand, hatte sie das Thema nicht losgelassen. Sie beschloss, eine Urlaubswoche im Kloster zu verbringen. Vielleicht hilft das Kloster mir, dachte sie. Vielleicht finde ich so zum Beten zurück. Sie erinnert sich gerne an diese Zeit. Im Kloster genoss sie die beruhigende Gleichförmigkeit der Stundengebete. Sie musste nicht selber etwas erfinden. Sie war frei vom Druck, originell und authentisch zu sein. Sie konnte sich einfach fallen lassen in die Worte. Sich tragen lassen von ihrem Rhythmus und Klang. Während der Stundengebete war sie Teil einer Gemeinschaft. Teil von etwas Größerem. Umfassenderen. Verbunden mit den betenden Ordensschwestern in der Klosterkirche. Verbunden mit vielen Menschen, die durch die Jahrhunderte hindurch immer die selben Worte gebetet haben. Verbunden auch mit den Menschen, die diese Worte künftig sprechen würden. Verbunden mit Gott.
Langsam lernte sie so, ihr Leben wieder zu spüren. Die Gefühle kehrten zurück. – Mit einer der Schwestern kam Rahel ins Gespräch. Sie erzählte ihr:
„Ich fühle, dass es mir gut tut. Aber ist das wirklich Beten? In den Stundengebeten wird doch immer das Gleiche gesagt. Nützt das denn überhaupt etwas?“ — „Welchen Nutzen soll es denn bringen?“ fragt die Schwester zurück. — „Naja“, antwortete Rahel, unsicher geworden, „irgendwie sind Gebete doch dazu da, dass Gott sie erhört und erfüllt.“ Die Ordensschwester überlegte: „Wir suchen immer nach dem Nutzen oder sogar dem Gewinn. Wir können gar nicht anders. Immer ist da die Frage: Was bringt mir das? Wem nützt das was? Selbst das „Nichtstun“ muss etwas nützen, , nämlich dass man wieder Kraft sammelt für die Arbeit. Alles muss etwas bringen. Und wenn das Beten nichts Messbares bewirkt, dann „nützt“ es nichts“…. Sie hält inne, überlegt weiter: „Es gibt einen ganz alten Satz, der heißt: „Die Ros ist ohn’ Warum, sie blühet weil sie blühet, sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. Von Angelus Silesius ist dieser Vers“. — Rahel sieht die Schwester verständnislos an: „Was meinen Sie damit? Was hat denn das mit Beten zu tun?“- „Eben, der Nutzen. Die Rose fragt nicht danach. Sie blüht einfach. Weil es ihre Art ist. Weil es ihre Lebensäusserung ist. Das Gebet ist unsere Art. Es ist unsere Lebensäusserung. Wir tun es einfach. Wir sind Menschen, die Sehnsüchte haben, Hoffnungen, Sorgen. Menschen, die über sich selbst hinauswachsen wollen und manchmal in sich zusammenfallen. Wie sollten wir das alles ausdrücken, wenn nicht im Gebet?“
„Aber ich bete nicht immer!“, wendet Rahel ein. — „Nein, das tun wir nicht einmal im Kloster“, lacht die Schwester. „Und doch wissen wir: Menschen entstehen nicht einfach aus sich selbst heraus. Wir Menschen erhalten unser Leben von Gott. Geschenkt. Und das Gebet ist der Ausdruck dieses Wissens. Das Gebet ist eine Lebenshaltung. Eine innere Einstellung. Wir wissen uns verbunden, mit Gott, mit den Menschen, mit der Natur.“ Wieder hält die Schwester inne, und fährt dann fort: „Einer meiner Lieblingsverse in der Bibel heisst: ‘Vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen’.“ — „Ich kenne die Stelle“, unterbricht sie Rahel, zuerst erfreut und dann verlegen, weil sie an das zerknüllte Papier denken muss. — „Das ist schön. Ich mag diesen Vers so wegen der ‚Verbundenheit’. Diesem ‚für alle Menschen’. Und weiter geht es ja so: ‚Betet für die Könige und für alle Obrigkeit. Denn Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Denn Christus hat sich selbst gegeben für alle zur Erlösung’. Für mich, wissen Sie, für mich ist das eine der grossartigsten Stellen in der Bibel. ‚Für alle Menschen’“.
Um von ihrer Verlegenheit abzulenken, fragt Rahel: „Aber warum sind ausgerechnet Könige und Obrigkeit genannt?“ — „Oh, ich glaube, das fiel den Christen damals am schwersten. Die Christen standen nicht so gut mit der Obrigkeit“. — „Naja, ich denke, eine Obrigkeit braucht es schon. Ausserdem sind es ja auch nur Menschen.“ – Die Schwester nickt zu Rahels Einwurf. Und fährt dann weiter: „Ja, Sie sagen es: es sind auch nur Menschen. Aber merken Sie die Provokation darin? Sie müssen sich vorstellen: damals war die Obrigkeit beinahe Gott gleich. Beten für die Obrigkeit, das holt die Herrschenden erst mal von ihrem Sockel herunter. Damit sagt man ja, dass die auch Fehler machen können und der Fürbitte bedürfen. Wie Sie und ich. Ganz normale Menschen, mit denen wir verbunden sind“.
„Beten, sogar für jene, die man nicht mag,“ murmelt Rahel gedankenverloren. Und dann erzählt sie von dem zerknüllten Papier, von dem weggeworfenen Bibelvers. Es ist ihr peinlich, aber die Schwester lacht nur. Sie findet die Geschichte wunderbar. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Gehen Sie wieder hin. Schauen Sie, ob die Gebetswand noch da steht. Und schreiben Sie ein Gebet auf, das Sie dann dranheften können“.
Das war vor einem halben Jahr. Darum steht Rahel jetzt hier, vor der Gebetswand ihrer Heimatkirche. Schon drei Zettel hat sie an die Wand geheftet. Jetzt nimmt sie den vierten zur Hand: „Gott, ich bitte dich für Eduard. Ich glaube, er braucht Deine Unterstützung auch. Vielleicht mehr als ich. Du weißt doch, er kann so schlecht alleine sein. Hilf ihm. Amen“.
Sie atmet tief durch. Stolz geht Rahel mit dem Zettel zur Wand. Als würde Sie ihre Diplomarbeit abgeben und nicht nur einen bunten Zettel an eine Pinwand heften.
Und für wen bete ich jetzt? überlegt Rahel dann. Für alle Menschen? Das sind ja ziemlich viele. Sie schaut sich um: Mehr als im Moment in dieser Kirche sind, denkt sie. Also nimmt sie den ganzen Zettelstapel, der da liegt, und fängt an: „Gott, ich bitte dich für alle Menschen. Für alle, die hier in dieser Kirche sind. Für alle, die nicht hier sind. Ich bete für alle Menschen, die ich heute getroffen habe. Und für alle Menschen, die ich niemals kennen lernen werde. Ich bete für alle Menschen, auf die ich neidisch bin. Und für alle, die ich mag. Für alle, auch die total Unfähigen. Und alle, die sich schon Mal über mich aufgeregt haben“. Und so weiter und so fort. Erst als kein Zettel mehr da liegt, setzt sie ein Amen dahinter. Dann steht sie auf und heftet alle Zettel an die Gebetswand. Was nicht einfach ist, weil die Pinnadeln ausgehen und der Platz nicht reicht. Dann atmet sie tief durch, lächelt einem Besucher zu, der sie erstaunt ansieht. Und geht nach draussen. In ihr Leben hinein.