Betet

1. Tim­o­theus 2,1–6

Predigt am 14.05.2023 in der EMK Adliswil ; nach eine Vor­lage von Pfrn. Clau­dia Kook auf predigtpreis.de

Liebe Gemeinde,

eine Frau – nen­nen wir sie Rahel — ste­ht in der grossen, alten Kirche ihrer Kind­heit. Sie ste­ht nur da und nimmt die Atmo­sphäre in sich auf: Den Geruch. Das schumm­rige Licht. Unter der mächti­gen Empore schaut sie zuerst nach vorne, zu den far­bigen Fen­stern im Chor. Dann wan­dern ihre Augen zur Seite. Noch immer ste­ht da eine Stell­wand, wie schon damals, als sie noch ein Kind war. Rahel hat­te sie klein­er und wack­liger in Erin­nerung. Inzwis­chen ist sie sta­bil­er gebaut. Es hän­gen viele Zettel hän­gen daran. Viele Far­ben und For­men. Wild durcheinan­der. Manche zusam­menge­fal­tet. Andere offen mit großer Hand­schrift: „Gott hilf mir!!!“ ste­ht auf einem, mit drei Aus­rufeze­ichen dahin­ter. „Danke, dass es geklappt hat, lieber Gott“, kann sie auf einem anderen lesen. Und: „Mach, dass Papa wieder heim kommt“. Sie geht näher zur Gebetswand und liest die vie­len Gebete, die BesucherIn­nen hier angepin­nt haben. Sehr viele Men­schen scheinen die Möglichkeit zu nützen. Manche waren dabei glück­lich, andere trau­rig, besorgt oder gar verzweifelt. Doch nie­mand ohne Hoff­nung. Alle Zet­telschreiberIn­nen gin­gen davon aus, dass ihre Gebete nicht verge­blich sind. „Vor allen Din­gen,“ liest die Frau die Über­schrift ganz oben: „Vor allen Din­gen tue Bitte, Gebet, Für­bitte und Danksa­gung für alle Menschen!“

Rahel erin­nert sich: Dieser Satz stand schon immer dieser Satz da. Irgend­je­mand hat­te ihn auf ein gross­es Stück Papi­er geschrieben. Dieses Papi­er ist zwar weg. Aber der Bibelvers war nun der offizielle Titel des Gebets­brettes. Mit einem richti­gen Lay­out. Auf einem dick laminierten Plakat. „Für alle Men­schen“! Rahel flüstert die Worte vor sich hin. Dann geht sie zum Tis­chchen daneben, auf dem Zettel und Stifte bere­it liegen. Sie nimmt einen der Stifte zur Hand, und über­legt: Was soll ich drauf schreiben? Wofür möchte ich beten? Oder: Für wen?

Liebe Gemeinde, was wür­den Sie auf den Zettel schreiben? Für wen wür­den Sie heute beten? Wofür möcht­en Sie beten? — Vielle­icht hil­ft der ger­ade genan­nte Bibelvers zu ein­er Antwort. Er stammt aus dem heuti­gen Predigt­text, 1. Tim­o­theus 2,1–6:

Zuerst und vor allem bitte ich euch, im Gebet für alle Men­schen einzutreten: Bringt eure Wün­sche, Für­bit­ten und euren Dank für sie vor Gott. Betet auch für die Könige und alle übri­gen Machthaber. Denn wir wollen ein ruhiges und stilles Leben führen –in unge­hin­dert­er Ausübung unseres Glaubens und in Würde. So ist es recht und gefällt Gott, unserem Ret­ter. Er will ja, dass alle Men­schen gerettet wer­den und zur Erken­nt­nis der Wahrheit gelan­gen. Denn nur ein­er ist Gott und nur ein­er der Ver­mit­tler zwis­chen Gott und den Men­schen: der Men­sch Chris­tus Jesus. Der hat sich selb­st hingegeben als Lösegeld für alle Menschen.Das gilt es zur recht­en Zeit zu bezeu­gen.                 1. Tim 2,1–6 (Basis Bibel)

Rahel schreibt auf ihren Zettel: „Ich danke dir für all das Gute damals“. Sie sieht sich wieder als kleines Mäd­chen, kaum sechs Jahre alt. Sie ist mit ihrem Grosi im Gottes­di­enst. Und wie immer darf sie Grosi beim Hin­aus­ge­hen etwas ins Ohr flüstern. Die schreibt das dann auf einen Gebet­szettel, damit Gott es später, wenn alle nach Hause gegan­gen sind, in Ruhe lesen kann. So hat­te sie sich das als Kind immer vorgestellt.

Dann nimmt Rahel ein zweites Blatt. Kurz zögert sie noch. Doch dann schreibt sie: „Gott, warum bist du manch­mal so ungerecht?!“ Ob das als Gebet durchge­ht? Sie ist nicht ganz sich­er. Aber sie steckt den Zettel an die Wand und sieht dabei wieder sich selb­st, dies­mal als Kon­fir­mandin. Am Schluss des Konf-Gottes­di­en­stes war sie auch vor dieser Wand. Damals klan­gen ihre Gebete immer ähn­lich: „Lass Grosi wieder gesund wer­den! Lass Grosi nicht ster­ben! Lass mich nicht alleine!“ Aber die Gross­mut­ter war doch gestor­ben. Die Zettel und die Gebete hat­ten nicht geholfen. Und Rahel blieb zurück mit dem Ein­druck, dass sie etwas falsch gemacht hat­te. Falsch gebetet. Vielle­icht hätte sie beschei­den­er, demütiger for­mulieren sollen. Vielle­icht mochte Gott sie ein­fach nicht.

Noch ganz ver­sunken in der Erin­nerung an die damals ver­stor­bene Gross­mut­ter, fällt Rahels Blick auf einen anderen Zettel. Er hängt ganz am Rande der Wand. Darauf ste­ht: „Beten heißt wün­schen ler­nen. Nur feuriger (Jean Paul)“. Das klingt ja auch nicht demütig oder beschei­den, denkt sie. Rahel gefällt dieser Satz. Wie das Wün­schen hat auch das Beten mit mir selb­st zu tun, geht ihr durch den Kopf. Da muss ich mir nichts vorschreiben lassen. ‘Beten heißt wün­schen ler­nen’. Meine ganz eige­nen Wün­sche. Nichts, was mir ein­gere­det wird. ‘Nur feuriger’. Weil Gebete von tief innen kom­men. Und nach aussen drin­gen, zu Gott hin streben. Hätte ihr das nur damals jemand gesagt. Sie hätte nicht aufge­hört, für ihre Gross­mut­ter zu beten, ja zu schreien. Und sie hätte gewusst, dass es richtig ist. Auch wenn Grosi trotz­dem gestor­ben wäre. Aber sie hätte ihren Schmerz, ihre Ein­samkeit, ihre Wün­sche, ihre inner­ste Sehn­sucht hin­aus schreien kön­nen. Sozusagen alles Gott vor die Füsse wer­fen kön­nen. Das wäre immer­hin etwas gewe­sen. So aber war Gro­sis Tod das vor­läu­fige Ende ihrer Gebetskarriere.

Rahel kehrt mit ihren Gedanken in die Gegen­wart zurück. Jet­zt steckt sie einen drit­ten Zettel an die Gebetswand. Leer. Als Zeichen dieser gebet­slosen Zeit. Ihre „stumme Zeit“, wie sie jet­zt rück­blick­end realisiert.

Sie zog damals bald zu Hause aus. Später ging es noch weit­er weg. Sie lernte Eduard ken­nen. Sie heirateten. Doch nach eini­gen viel zu lan­gen Jahren wurde die Ehe wieder geschieden. Sie blieb zurück, allein und ver­let­zt, inner­lich leer.

Auch in dieser Zeit der Leere war sie ein­mal in ihrer Heimat­stadt gewe­sen. Aus welchem Anlass weiss sie nicht mehr. Aber ganz genau erin­nert sie sich, auch bei dieser Gele­gen­heit in die Kirche gegan­gen zu sein. Und vor der Gebetswand ges­tanden zu haben. Aus pur­er Gewohn­heit. „Vor allen Din­gen tue Bitte, Gebet, Für­bitte und Danksa­gung für alle Men­schen!“ - „Für alle Men­schen?“ hat­te sie damals wütend in die Kirche gerufen. „Für alle Men­schen?! Niemals. Beten für Eduard – im Leben nicht!“ Aus einem Impuls her­aus hat­te Rahel das Blatt mit dem Bibelvers herunter geris­sen. Mit aller Kraft hat­te sie es zerknüllt. Dann hat­te sie sich dann erschrock­en umge­se­hen. Und erle­ichtert fest­gestellt, dass nie­mand sie beobachtet hat­te. Dannhat­te sie den zerknüll­ten Bibelvers heim­lich in ihre Hand­tasche gesteckt, um ihn draussen in einen Papierko­rb zu werfen.

Bei dieser Erin­nerung muss sie leise lachen. Und Rahel freut sich, dass der Satz wieder auf der Gebetswand steht.

Damals aber, nach ihrem spon­ta­nen Anschlag auf die Gebetswand, hat­te sie das The­ma nicht los­ge­lassen. Sie beschloss, eine Urlaub­swoche im Kloster zu ver­brin­gen. Vielle­icht hil­ft das Kloster mir, dachte sie. Vielle­icht finde ich so zum Beten zurück. Sie erin­nert sich gerne an diese Zeit. Im Kloster genoss sie die beruhi­gende Gle­ich­för­migkeit der Stun­denge­bete. Sie musste nicht sel­ber etwas erfind­en. Sie war frei vom Druck, orig­inell und authen­tisch zu sein. Sie kon­nte sich ein­fach fall­en lassen in die Worte. Sich tra­gen lassen von ihrem Rhyth­mus und Klang. Während der Stun­denge­bete war sie Teil ein­er Gemein­schaft. Teil von etwas Größerem. Umfassenderen. Ver­bun­den mit den betenden Ordenss­chwest­ern in der Klosterkirche. Ver­bun­den mit vie­len Men­schen, die durch die Jahrhun­derte hin­durch immer die sel­ben Worte gebetet haben. Ver­bun­den auch mit den Men­schen, die diese Worte kün­ftig sprechen wür­den. Ver­bun­den mit Gott.

Langsam lernte sie so, ihr Leben wieder zu spüren. Die Gefüh­le kehrten zurück. – Mit ein­er der Schwest­ern kam Rahel ins Gespräch. Sie erzählte ihr:

„Ich füh­le, dass es mir gut tut. Aber ist das wirk­lich Beten? In den Stun­denge­beten wird doch immer das Gle­iche gesagt. Nützt das denn über­haupt etwas?“„Welchen Nutzen soll es denn brin­gen?“ fragt die Schwest­er zurück. — „Naja“, antwortete Rahel, unsich­er gewor­den, „irgend­wie sind Gebete doch dazu da, dass Gott sie erhört und erfüllt.“ Die Ordenss­chwest­er über­legte: „Wir suchen immer nach dem Nutzen oder sog­ar dem Gewinn. Wir kön­nen gar nicht anders. Immer ist da die Frage: Was bringt mir das? Wem nützt das was? Selb­st das „Nicht­stun“ muss etwas nützen, , näm­lich dass man wieder Kraft sam­melt für die Arbeit. Alles muss etwas brin­gen. Und wenn das Beten nichts Mess­bares bewirkt, dann „nützt“ es nichts“…. Sie hält inne, über­legt weit­er: „Es gibt einen ganz alten Satz, der heißt: „Die Ros ist ohn’ Warum, sie blühet weil sie blühet, sie acht nicht ihrer selb­st, fragt nicht, ob man sie siehet. Von Angelus Sile­sius ist dieser Vers“. — Rahel sieht die Schwest­er ver­ständ­nis­los an: „Was meinen Sie damit? Was hat denn das mit Beten zu tun?“- „Eben, der Nutzen. Die Rose fragt nicht danach. Sie blüht ein­fach. Weil es ihre Art ist. Weil es ihre Leben­säusserung ist. Das Gebet ist unsere Art. Es ist unsere Leben­säusserung. Wir tun es ein­fach. Wir sind Men­schen, die Sehn­süchte haben, Hoff­nun­gen, Sor­gen. Men­schen, die über sich selb­st hin­auswach­sen wollen und manch­mal in sich zusam­men­fall­en. Wie soll­ten wir das alles aus­drück­en, wenn nicht im Gebet?“

„Aber ich bete nicht immer!“, wen­det Rahel ein. — „Nein, das tun wir nicht ein­mal im Kloster“, lacht die Schwest­er. „Und doch wis­sen wir: Men­schen entste­hen nicht ein­fach aus sich selb­st her­aus. Wir Men­schen erhal­ten unser Leben von Gott. Geschenkt. Und das Gebet ist der Aus­druck dieses Wis­sens. Das Gebet ist eine Leben­shal­tung. Eine innere Ein­stel­lung. Wir wis­sen uns ver­bun­den, mit Gott, mit den Men­schen, mit der Natur.“ Wieder hält die Schwest­er inne, und fährt dann fort: „Ein­er mein­er Lieblings­verse in der Bibel heisst: ‘Vor allen Din­gen tue Bitte, Gebet, Für­bitte und Danksa­gung für alle Men­schen’.“„Ich kenne die Stelle“, unter­bricht sie Rahel, zuerst erfreut und dann ver­legen, weil sie an das zerknüllte Papi­er denken muss. — „Das ist schön. Ich mag diesen Vers so wegen der ‚Ver­bun­den­heit’. Diesem ‚für alle Men­schen’. Und weit­er geht es ja so: ‚Betet für die Könige und für alle Obrigkeit. Denn Gott will, dass allen Men­schen geholfen werde. Denn Chris­tus hat sich selb­st gegeben für alle zur Erlö­sung’. Für mich, wis­sen Sie, für mich ist das eine der grossar­tig­sten Stellen in der Bibel. ‚Für alle Men­schen’.

Um von ihrer Ver­legen­heit abzu­lenken, fragt Rahel: „Aber warum sind aus­gerech­net Könige und Obrigkeit genan­nt?“ — „Oh, ich glaube, das fiel den Chris­ten damals am schw­er­sten. Die Chris­ten standen nicht so gut mit der Obrigkeit“. — „Naja, ich denke, eine Obrigkeit braucht es schon. Ausser­dem sind es ja auch nur Men­schen.“ – Die Schwest­er nickt zu Rahels Ein­wurf. Und fährt dann weit­er: „Ja, Sie sagen es: es sind auch nur Men­schen. Aber merken Sie die Pro­voka­tion darin? Sie müssen sich vorstellen: damals war die Obrigkeit beina­he Gott gle­ich. Beten für die Obrigkeit, das holt die Herrschen­den erst mal von ihrem Sock­el herunter. Damit sagt man ja, dass die auch Fehler machen kön­nen und der Für­bitte bedür­fen. Wie Sie und ich. Ganz nor­male Men­schen, mit denen wir ver­bun­den sind“.

„Beten, sog­ar für jene, die man nicht mag,“ murmelt Rahel gedanken­ver­loren. Und dann erzählt sie von dem zerknüll­ten Papi­er, von dem wegge­wor­fe­nen Bibelvers. Es ist ihr pein­lich, aber die Schwest­er lacht nur. Sie find­et die Geschichte wun­der­bar. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Gehen Sie wieder hin. Schauen Sie, ob die Gebetswand noch da ste­ht. Und schreiben Sie ein Gebet auf, das Sie dann dran­heften können“.

Das war vor einem hal­ben Jahr. Darum ste­ht Rahel jet­zt hier, vor der Gebetswand ihrer Heimatkirche. Schon drei Zettel hat sie an die Wand geheftet. Jet­zt nimmt sie den vierten zur Hand: „Gott, ich bitte dich für Eduard. Ich glaube, er braucht Deine Unter­stützung auch. Vielle­icht mehr als ich. Du weißt doch, er kann so schlecht alleine sein. Hilf ihm. Amen“.

Sie atmet tief durch. Stolz geht Rahel mit dem Zettel zur Wand. Als würde Sie ihre Diplo­mar­beit abgeben und nicht nur einen bun­ten Zettel an eine Pin­wand heften.

Und für wen bete ich jet­zt? über­legt Rahel dann. Für alle Men­schen? Das sind ja ziem­lich viele. Sie schaut sich um: Mehr als im Moment in dieser Kirche sind, denkt sie. Also nimmt sie den ganzen Zet­tel­stapel, der da liegt, und fängt an: „Gott, ich bitte dich für alle Men­schen. Für alle, die hier in dieser Kirche sind. Für alle, die nicht hier sind. Ich bete für alle Men­schen, die ich heute getrof­fen habe. Und für alle Men­schen, die ich niemals ken­nen ler­nen werde. Ich bete für alle Men­schen, auf die ich nei­disch bin. Und für alle, die ich mag. Für alle, auch die total Unfähi­gen. Und alle, die sich schon Mal über mich aufgeregt haben“. Und so weit­er und so fort. Erst als kein Zettel mehr da liegt, set­zt sie ein Amen dahin­ter. Dann ste­ht sie auf und heftet alle Zettel an die Gebetswand. Was nicht ein­fach ist, weil die Pin­nadeln aus­ge­hen und der Platz nicht reicht. Dann atmet sie tief durch, lächelt einem Besuch­er zu, der sie erstaunt ansieht. Und geht nach draussen. In ihr Leben hinein.

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