Predigt am 11.06.2023 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
ein Wunder Jesu hat die ersten Christen ganz besonders beeindruckt: Die Speisung der 5000. Sie ist nämlich die einzige Wundergeschichte, die von allen vier Evangelien erzählt wird. — Was macht gerade diese Geschichte so besonders?
- Vielleicht der Umstand, dass die Jünger am Wunder selbst aktiv mitwirkten?
- Oder die Botschaft, dass Jesus Menschen leiblich, seelisch und geistlich satt macht?
- Fasziniert, dass mit äusserst beschränkten Ressourcen die Not einer unüberschaubaren Menschenmenge gestillt wird?
- Letzteres könnte für Christus-Gläubige aber auch eine grosse Herausforderung sein. Denn es bedeutet ja wohl: Du magst dich ganz schwach und hilflos fühlen. Die Not mag überwältigend gross sein. Doch beides spielt keine Rolle. Was zu tun ist, das tue! Fang im Vertrauen auf Gottes Möglichkeiten an zu helfen … und du wirst staunen, was mit und dank ihm möglich wird.
- Faszinieren könnte hingegen, dass in der Geschichte eine Art Rezept für ein Wunder steckt: 1. Not wahrnehmen (Menschen haben Hunger), 2. Eigenes Potenzial (Ressourcen = 5 Brote und 2 Fische) wahrnehmen; 3. Sich damit Gott zur Verfügung stellen; 4. Gott danken (bzw. das Vertrauen aussprechen); 5. Anfangen, sich zu engagieren und dann staunen.
Das sind mehr als genug Gründe, sich mit dieser biblischen Wundergeschichte auseinanderzusetzen. Dabei steht für mich im Vordergrunde: Die Gegenüberstellung von lächerlich geringen Ressourcen und beeindruckend grosser Wirkung. Das macht sie für uns nämlich zugleich zum ermutigenden Zuspruch (Einladung zum Vertrauen) und zur grossen Herausforderung (Auftrag zum Tun ohne Angst vor Überforderung). Letzteres – die Herausforderung – wird noch gesteigert, wenn wir den Zusammenhang beachten: Jesu Jünger kamen zurück von einem zwar erfolgreichen, aber äusserst kräftezehrenden Missionseinsatz. Sie waren ausgepumpt, k.o. Ausserdem hatten sie gerade vom brutalen Tod Johannes des Täufers erfahren. Darum waren sie erholungsbedürftig. –Mk 6,30–44 erzählt so:
I. Wir sind umgeben von Hungernden
Es ist eine typische Situation für JüngerInnen Christi, überall und immer: Sie sind umgeben von Menschen, die Hunger haben. Es sind nicht immer 5‘000, aber immer (zu) viele. Wir haben keine Ahnung, wie wir alle nähren sollen. – In unserem Land ist es vielleicht nicht leiblicher Hunger. Aber der Hunger nagt an den Seelen. Menschen sehnen sich nach Liebe, nach Anerkennung und Respekt, nach Geborgenheit und Sicherheit, nach Freiheit, danach, sich selbst entfalten zu können, nach Heimat, nach Sinn: Das ist emotionaler, geistiger, geistlicher …. Hunger.
Was ist eigentlich Hunger? Eine brennende Leere in einem drin. Ein Schmerz. Das Signal des Körpers oder der Psyche, dass etwas fehlt. Zum Problem wird der Hunger, wenn er nicht gestillt werden kann. Wenn wir nicht finden, was uns fehlt. Dann wird der Hunger zur Plage und beginnt, Schaden anzurichten. Die Gesundheit wird angegriffen. Die Stabilität geht verloren. Hunger zehrt an der Substanz, schwächt Organe und Abwehrkräfte. Zuletzt geht es ans Lebendige: Grundfunktionen des Körpers, aber auch der Seele, versagen ihren Dienst.
Hunger treibt in die Verzweiflung und hat etwas Selbstzerstörerisches. Manche resignieren und geben sich selbst auf. Andere beginnen sich zu wehren und werden rebellisch. Beides kann problematisch sein. Resignation bedeutet, dem Tod das Verfügungsrecht über das eigene Leben einzuräumen. Rebellion andererseits lässt Menschen zu fragwürdigen Mitteln greifen. Der Frust explodiert und entlädt sich in Gewalt (leider gerade in den Vorstädten Frankreichs wieder zu beobachten). Der Kirchenvater Augustin meinte: „Menschen ohne Hoffnung suchen nicht, was sie bessern, sondern was sie verwunden können.”
Zurück zum Bibeltext: Eine hungrige Menschenmenge ist potenziell gefährlich. Verständlich also, dass die Jünger nervös werden. Darum wollen sie die Leute nach Hause schicken. Sie vor Ort durchzufüttern, wäre zu teuer. 200 Silbermünzen wären zu budgetieren. Ein halbes Jahreseinkommen. So viel Geld haben sie nicht. Davon abgesehen fehlt, weit weg von der nächsten Ortschaft, auch die Infrastruktur zur Verpflegung all dieser Leute. — Die Überlegungen der Jünger sind nachvollziehbar und es ist mehr als vernünftig, dass sie Jesus empfehlen: „Lass die Leute ihr Problem selbst lösen. Wir schaffen das nicht!“
Jesus freilich sieht das ganz anders: „Sie jammerten ihn (so übersetzt die Lutherbibel), denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.” Hinter dieser Formulierung steht ein Ausdruck, der maximale innere Betroffenheit und Anteilnahme umschreibt. Lange bevor die Jünger knurrende Mägen diagnostizierten, nahm Jesus betroffen das innere Elend der Menschen wahr. Ihm ist klar: Egal wie sie äusserlich auch wirken mögen, sie sind am Rande der Verzweiflung. Sie hungern nach Gott.
Also beginnt Jesus zu predigen, d.h. von Gott zu erzählen. Stundenlang. So reagiert er auf die Leere dieser Menschen. Und seine Worte können offenbar ihre Sehnsucht stillen. – Jesus muss ganz anders gepredigt haben als wir es heute kennen. Viel besser. Sonst hätte er kaum bis in den Abend hinein ungestört weiterreden können. Seine ZuhörerInnen erlebten, wie ihre Seele bis ins Tiefste satt wurde. Dabei merkten sie gar nicht, dass der Körper langsam auch nach Nahrung verlangte.
Es ist wie so oft bei Jesu Wundern: Zuerst geschieht an den Seelen der Beteiligten Entscheidendes. Und zum Schluss, quasi als sichtbares Zeichen seiner schon längst wirksamen Vollmacht, geschieht auch am Leib ein Wunder. Schliesslich wird das von den Jüngern verteilte Brot zum sichtbaren Zeichen dafür, dass Jesu Worte vorher die hungernden Seelen nährte. – Speziell ist bei dieser Wundergeschichte allerdings, dass Jesus diese Tat nicht alleine vollbrachte, sondern seine Jünger in das Geschehen einband.
II. Der ‚unmögliche‘ Auftrag von Jesu JüngerInnen
Jesus weiss, dass man den Menschen nicht nur predigen und sie ansonsten sich selbst überlassen kann. Seel-Sorge und Leib-Sorge gehören zusammen. Darum geht er auf den Vorschlag der Jünger, die Leute wegzuschicken, überhaupt nicht ein. Sondern er gibt den Jüngern den Auftrag: „Gebt ihr ihnen zu essen!“
Im ersten Moment klingt das wie ein misslungener Witz. Ja, wie sollen sie denn so viele Leute versorgen? Schon das Verteilen wäre eine Herkules-Aufgabe. Abgesehen davon ist kein Einkaufszentrum erreichbar und was vor Ort verfügbar ist, kann man getrost vernachlässigen. Gerade fünf kleine Fladenbrote und zwei Fische ergibt die ‚Kollekte‘. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ – Absurd hoch zehn. Und doch so typisch für die Gemeinde Jesu: Den Auftrag Christi zu erfüllen scheint unmöglich. Wir sollen den inneren und äusseren Hunger der Menschen um uns herum stillen. Und wir haben keine angemessenen Mittel, um dem Anspruch Jesu auch nur halbwegs gerecht zu werden. Doch der Auftrag gilt. – Wer diesen schreienden Gegensatz nicht schon fast schmerzlich empfinden, kommt dem biblischen Text nicht wirklich nahe.
Es gab eine Zeit, in der Theologen krampfhaft versuchten, solcher Wunder Jesu rational zu erklären. Einer stellte sich vor, dass die Jünger in einer Höhle, vor der Jesus gestanden haben soll, in einer Art mobiler Grossbäckerei im Akkord schufteten und so die vielen Menschen zu versorgen vermochten. Andere erklärten, dass das gute Beispiel dessen, der seine fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung stellte, andere anstachelte, auch ihre Vorräte zu teilen. Und das soll dann immer weitere Kreise gezogen haben. Jesus hätte demnach alle Anwesenden dazu gebracht, grosszügig mit allen zu teilen. – Tatsächlich haben solche Gedanken durchaus ihren Charme: Wenn Christen sich mit allen Kräften für andere einsetzten und wenn alle anfangen könnten, ihren Überfluss zu teilen statt möglichst viel für sich selbst zu horten –dann sähe es auf der Welt sicher schon besser aus.
Dennoch schwächen solche rationalen Erklärungen die Botschaft des Bibeltextes massiv ab, weil sie sich auf das Menschenmögliche beschränken und Gottes Möglichkeiten ausblenden. Natürlich wäre es ein Wunder, wenn Menschen beginnen würden, ihren Überfluss mit anderen zu teilen. Wenn sie aufhören könnten, viel zu viel für sich zu horten. Doch es geht hier noch um mehr. Die Jünger haben selbst kaum etwas zu geben, leiden selbst Mangel (mindestens Mangel an Ressourcen). Und doch sind sie in Jesu Namen und Auftrag in der Lage, andere Menschen satt zu machen. Das ist das noch viel grössere Wunder.
Menschen, die selbst kaum etwas zu geben haben, können doch andere satt machen. Diesem Satz muss die Gemeinde Jesu vertrauen lernen. Dann lernt sie auch, ihre ganz normale Situation (von Hungernden umgeben, ja ‚belagert‘ zu sein) nicht nur auszuhalten, sondern ihr im Namen Gottes zu begegnen. – So ist es: Angesichts der Not dieser Welt sind wir bettelarm. Daran lässt sich weder mit klugen Reorganisierungsmaßnahmen noch mit tollen Gemeindeaufbaumodellen oder eindringlichen Appellen zum Teilen grundsätzlich etwas ändern. All dies kann durchaus sinnvoll sein. Es darf uns aber nicht dazu verleiten, uns auf eigene Fähigkeiten statt auf die Kraft Gottes zu verlassen. Sonst stehen wir am Ende vielleicht zwar mit 10 oder 50 statt 5 Broten vor der hungernde Menge. Und was würde das schon ändern? Es muss uns klar sein: Die Lösung des Problems kann nicht von uns, sondern nur von Gott kommen.
III. Wer sich auf Jesu Auftrag einlässt, erlebt Gottes Fülle
„Jesus gebot ihnen, dass sie sich alle lagerten, tischweise, auf das grüne Gras. Und sie setzten sich, in Gruppen zu hundert und zu fünfzig.“ So wird keiner übersehen. In Gruppen eingeteilt, hat jeder auf jeden acht, und es steht niemand am Ende mit leeren Händen da. Für den Evangelisten Mk spiegelt sich in der Speisungsgeschichte offensichtlich das Wunder der christlichen Gemeinde. So haben es die ersten Christen immer wieder erlebt. Menschen, die im Grund selbst kaum etwas hatten, haben sich getroffen und dem Auftrag gestellt, das Ihre mit anderen zu teilen. Am Ende wurden so unglaublich viele Menschen satt.
„Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie unter ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle.” Erstaunlicherweise bittet Jesus hier gar nicht erst um ein Wunder. Sondern er schaut zum Himmel auf, dankt Gott für das, was er hat, und beginnt zu teilen. Dabei ist jeder einzelne Schritt wichtig:
Erstens: Jesus schaut zum Himmel. Hätte er auf das geschaut, was er in Händen hielt, wäre ihm womöglich aufgefallen, dass es nie und nimmer reichen kann. Doch wenn Jesus die Augen zum Himmel erhebt, weitet sich der Horizont. Im Aufschauen zu Gott ist so viel mehr möglich als von unserer eigenen Wirklichkeit, von unseren eigenen Ressourcen her. – Eigentlich stehen wir als JüngerInnen Jesu immer wieder vor genau dieser Wahl: Schauen wir auf das Wenige, was wir in Händen haben, oder schauen wir auf zum Himmel?
Zweitens: Jesus dankt. Er steht da mit fünf Fischbrötchen und bedankt sich bei Gott dafür, dass er Tausende versorgt. Eigentlich absurd. Als hätte ich auf meinem Teller eine einzelne Erbse und würde dafür ein Tischgebet sprechen. Allerdings bezieht sich Jesu Dankgebet wohl nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft, d.h. auf das, was Gott gleich tun wird. – Diese Einstellung ist hilfreich, wenn man auch unter schwierigen Umständen die Haltung der Dankbarkeit bewahren will. Das bedeutet, auf Folgendes zu vertrauen: Die Sachlage mag im Moment wenig hoffnungsvoll sein. In Gottes Hände gelegt, wird aber etwas Gutes daraus werden. Dafür können wir schon im Voraus Danke sagen.
Drittens: Jesus gibt die ihm anvertrauten Gaben an andere weiter. Das ist die herausfordernde Frage, vor der Jesu JüngerInnen immer wieder stehen: Klammern wir und behalten wir ängstlich, was wir haben, oder sind wir bereit, loszulassen und zu teilen? — Gott kann aus einer Schwäche, die wir ihm zur Verfügung stellen, unendlich viel mehr machen als aus einer Stärke, die wir für uns behalten. ‚Wenig‘ ist nicht wenig, wenn wir es Gott zur Verfügung stellen. Und umgekehrt ist ‚viel‘ nicht viel, wenn wir nicht bereit sind, es in Gottes Namen zu teilen. So aber kann selbst eine kleine Gabe vielen Menschen zur Hilfe werden.
„Und sie aßen alle und wurden satt. Und sie sammelten die Brocken auf, zwölf Körbe voll, und von den Fischen. Und die die Brote gegessen hatten, waren fünftausend Mann.” — Wir beklagen uns manchmal, dass wir nicht mehr Wunder leben! Mein heutiger Predigttext bringt mich auf die selbstkritische Frage: Könnte das auch daran liegen, dass wir Gott zu wenig Chancen und Raum geben dafür? Solange wir mit einem besorgten Seitenblick auf unsere beschränkten Ressourcen selbst einteilen und auf der rationalen, berechenbaren und d.h. risikofreien Seite des Lebens bleiben, bremsen wir womöglich Gott das eine oder andere Mal aus.
Ich frage mich immer wieder, ob wir uns nicht zu viel Sorgen um uns selbst, um unsere Bedürfnisse und unsere Institution machen. Klar ist es begreiflich, wenn eine Gemeinde danach fragt: „Und was wird eigentlich aus uns?“ Dennoch bin ich überzeugt, dass für unseren Weg als Kirche nur die andere Frage wichtig ist, nämlich: „Was wird aus den Menschen um uns herum?“ Wenn sich JüngerInnen Jesu aufmachen und sich ihrem aus menschlicher Sicht unmöglichen Auftrag stellt, werden sie eine Fülle erleben, die jenseits aller irdischen Perspektiven und Prognosen liegen. Zwölf Körbe voll sammelten die Jünger vom Übriggebliebenen ein. Das heisst: Jeder von ihnen hatte am Schluss wesentlich mehr als er am Anfang gab. Und das nur, weil sie ihre Gaben Gott zur Verfügung gestellt hatten, statt auf der vermeintlich „sicheren Seite” zu bleiben und ihre fünf Fischbrötchen selbst zu essen.
Zum Schluss: Mit keinem Wort deutet Mk an, dass die versammelte Menschenmenge das Wunder überhaupt als solches realisiert haben. Die Leute nehmen nur wahr, dass sie satt werden. Das Wunder dahinter scheinen nur die Jünger zu bemerken. Am Schluss (vgl. Mk 6,45) verschwindet Jesus mit seinen Jünger schnell, bevor sich die Nachricht herumspricht. Das Speisungswunder ist also gemäss Mk keine Sensation für die Massen. Die brauchen es nicht einmal wahrzunehmen. Aber es ist Ermutigung und Veranschaulichung für die Jünger. Es zeigt, was möglich wird, wenn JüngerInnen sich und das, was sie haben, Gott zur Verfügung stellen. Das Speisungswunder zeigt, was für ein Wunder die christliche Gemeinde ist. Amen
Danke für die vielen hilfreichen Hinweisen barmherzig zu sein.
Das Abschauen, was Jesus wie mach, ist ermutigend.
♥️licher Dank. Fredi, Lyss