Predigt am 09.07.2023 in der EMK Adliswil
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Liebe Gemeinde,
von ‚Work-Life-Balance‘ wird viel geredet. Das ‚Mode-Wort‘ bringt auf den Punkt: Arbeit und Vergnügen, Pflicht und Kür, Anstrengung und Ausruhen sollen im Gleichgewicht sein. Wenn die Balance verloren geht, steht die Gesundheit der Seele auf dem Spiel.
Ich weiss genau, was damit gemeint ist. Es war nämlich ein Auslöser der Depression vor einigen Jahren, dass ich diese Balance verloren hatte. In der Therapie ging es deshalb immer wieder darum, wie die ‚Work-Life-Balance‘ wieder zu gewinnen und ‚abzusichern‘ sei. – Dabei hatte ich aber nicht immer ein gutes Gefühl. Manchmal schien mir, das Thema gewinne zu viel Gewicht. Und mich beschlich dann die Sorge, dass so Denken und Fühlen auch egoistisch entgleisen könnten. Wenn ich nur noch frage: Was will ich? Was tut mir gut? Was halte ich aus? …
Wie lässt sich das vermeiden? Wie behält man die Balance, nicht nur zwischen ‚work‘ und ‚life‘, sondern auch zwischen ‚ich‘ und ‚du‘? – Hilfe finde ich im sogenannten Doppelgebot der Liebe: Jesus bezeichnet die Liebe als das höchste und wichtigste biblische Gebot. Die Liebe sei das Mass aller Dinge (vgl. dazu auch 1. Kor 13, das ‚Hohelied der Liebe‘), das grundlegende biblische Prinzip. Dabei redet Jesus von der Liebe in einer dreifachen Ausprägung: Liebe zu Gott, Liebe zu den Mitmenschen und der Liebe zu sich selbst. Diese drei sind zueinander auszubalancieren. Hören wir also das sogenannte Doppelgebot der Liebe, das eigentlich ein Dreifachgebot ist: Markus 12,28–34
In der christlichen Tradition hat ‚Selbstliebe‘ schlechte Karten. Egoismus gilt ihr als mit Nächstenliebe unvereinbarer Gegensatz. Das mag damit zu tun haben, dass viele Spielarten von Egoismus als Sünden gesehen werden. Es spielt wohl auch eine Rolle, dass ‚Selbstverleugnung‘ laut einem Wort Jesu die Konsequenz von Nachfolge sein kann (vgl. Mk 8,34 par). – Beides ist nachvollziehbar und gut begründet. Dennoch wäre es falsch, Liebe zu sich selbst grundsätzlich zu verurteilen. Immerhin sind Selbstliebe und Nächstenliebe für Jesus offensichtlich keine Gegensätze. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“, sagt er. D.h. Weder muss Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe gehen noch umgekehrt. Beide gehören zusammen. Sie ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Liebe, wie Jesus sie versteht, ist ein Balance-Akt zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe.
Unterscheiden muss man aber zwischen Selbstliebe und Selbstsucht. Letzteres ist die Übertreibung der Liebe zu sich selbst. Wenn jemand sich selbst noch nicht gefunden hat, wird die Suche intensiviert und irgendwann masslos. So entsteht Selbstsucht. Selbstliebe verkehrt sich in ihr Gegenteil und wird zum Signal, dass man sich noch nicht gefunden oder wieder verloren hat. Selbstsucht und Selbstliebe sind überhaupt nicht dasselbe. Vermutlich ist Selbstsucht sogar die Konsequenz davon, dass ein Mensch sich selbst nicht wirklich liebt. Er hat sich selbst nicht gefunden und angenommen und ist darum auf der verzweifelten Suche nach sich selbst.
Es gibt aber auch das gegenteilige Extrem. Auch nicht selten: Menschen, die sich selbst nicht lieben können, stürzen sich voll und ganz in das, was sie für Nächstenliebe halten. Sie tun es mit grossem Eifer und mit vollem Einsatz. Auf den ersten Blick erscheinen sie als tolle, leidenschaftliche Christen. Doch wenn man an der Fassade kratzt, zeigt sich: Ihr Verhalten ist weniger selbstlos als es aussieht. Weil sie süchtig sind nach der Dankbarkeit derer, über die sie ihre Nächstenliebe ausgiessen. Sie schnüren den Mitmenschen mit ihrer vermeintlichen Liebe fast die Luft ab. Und so entpuppt sich das vermeintliche Geben als ein Nehmen, das sich ins Gewand des Gebens kleidet. Viel, was in unserer Zeit ‚Liebe‘ genannt wird, ist nur maskierte Suche nach sich selbst. Eigentlich haben solche Leute ein Selbstwertproblem. Sie reiben sich für ihre Mitmenschen auf, weil sie sich nur so zu akzeptieren können meinen. Es fehlt ihnen an Wertschätzung ihrer selbst. – So hat es Jesus wohl kaum gemeint mit der Nächstenliebe.
‚Liebe‘ bedeutet: jemanden annehmen, zur Entfaltung bringen, behutsam mit jemandem umgehen. Darum müssen wir auch uns selbst lieben, um entfalten zu können, was in uns angelegt ist. Mitmenschen lieben kann nur, wer sich selbst liebt. Darum nennt das biblische Gebot Nächstenliebe und Liebe zu sich selbst in einem Atemzug.
Wie sich Selbstliebe und Nächstenliebe gegenseitig ergänzen, so ist es auch mit der Liebe zum Nächsten und der Liebe zu Gott. — Im AT ist das Gebot, Gott über alles zu lieben, die zentrale Forderung (vgl. 5.Mose 6,4f). Daneben tritt das Gebot der Nächstenliebe (vgl. 3.Mose 19,18.34) zunächst stark in den Hintergrund. Es verschwindet im mosaischen Gesetz fast zwischen den insgesamt 613 Einzelgeboten. Entstanden ist das Gebot der Nächstenliebe wohl als Antwort auf die konkrete Frage, wie man mit Volksgenossen und zugereisten Fremden im eigenen Land umgehen soll. Im Laufe der Zeit wurde Israel aber immer stärker bewusst: Das Gebot der Nächstenliebe ist eine hervorragende Zusammenfassung aller moralischen Gebote des AT. Dennoch war es ziemlich revolutionär von Jesus, die Nächstenliebe mit der Gottesliebe auf ein- und dieselbe Stufe zu stellen. Die Formulierung klingt ausserdem im ersten Moment nicht gerade logisch: Das eine Gebot ist das ‚Höchste‘ (® Superlativ; drückt Ausschliesslichkeit aus), doch das andere soll ihm ‚gleich‘ sein. Das erinnert ein wenig an ein Kind, dass erklärt: ‚Spaghetti sind mein Lieblingsessen!‘, um gleich hinzuzufügen: ‚Pizza aber auch!‘
Sinnvoll kann die Gleichstellung des höchsten Gebotes der Gottesliebe mit dem der Nächstenliebe eigentlich nur sein, wenn wir das zweite als Ausdrucksform des ersten verstehen. Schliesslich ist der Nächste, den es zu lieben gilt, ein Ebenbild und Kind Gottes. Darum kann man nicht Gott lieben und zugleich seinem geliebten Kind Schaden zufügen, es missachten oder gering schätzen wollen. Wie in der Schriftlesung schon gehört, bringt dies der 1.Jh genau auf den Punkt: „Wenn jemand sagt: ‚Ich liebe Gott’, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner” (vgl. 1.Jh 4,20). Die Gleichrangigkeit von Nächsten- und Gottesliebe ist also nicht darin begründet, dass der Mitmensch auf einer Stufe mit Gott steht. Sondern es geht darum, dass der Mitmensch genauso wie wir selbst ein geliebtes Kind Gottes ist.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Manche Ausleger übersetzen das ‚wie dich selbst‘ von seinem hebräischen Hintergrund mit „denn er ist wie du.“ Das unterstreicht dann noch deutlicher: Wir alle sind Kinder Gottes, darum tun wir gut daran, einander zu lieben. Die anderen sind ‚wie wir‘ geliebte Kinder Gottes und haben genau wie wir das Recht, zu leben, zu lieben und geliebt zu werden, ihre Gaben zu entfalten und ihr Leben in Freiheit, Sicherheit und Frieden zu führen.
Damit dürfte die Begründung der Nächstenliebe nachvollziehbar und einsichtig sein. Offen bleibt aber noch die praktische Umsetzung: Wie können wir unsere Mitmenschen lieben? Schliesslich sind sie nicht einfach nur so wie wir, sondern in vielerlei Hinsicht auch ganz anders. Vielleicht hat ‚mein Nächster‘ eine geradezu schmerzhaft andere Sicht der Dinge, setzt andere Prioritäten, orientiert sich an anderen Werten und besitzt einen völlig anderen Charakter. Solches kann mir meinen Mitmenschen ganz unsympathisch machen und dann schaffe ich es einfach nicht, positive Gefühle für ihn zu entwickeln. Kann man denn Empathie so ohne weiteres verordnen?
Hinter dieser (modernen) Frage steckt eines der verbreitetsten Missverständnis der biblischen Sprache: Wenn die Bibel von Liebe spricht, dann meint sie nicht ‚warme Gefühle‘ oder gar ‚verliebt sein‘. Sondern es geht um die Entscheidung für den Mitmenschen, die sich in konkreten Taten äussert. Nicht was ich für den anderen empfinde steht im Vordergrund, sondern wie ich mich ihm gegenüber verhalte. Ich soll ihm Gutes tun, ihm Liebe erweisen, ihm respektvoll begegnen. Liebe als Gefühl lässt sich tatsächlich nicht verordnen, Liebe als aktives Zugehen auf den Mitmenschen und als tatkräftiger Einsatz für ihn aber schon. ‚Jemanden lieben‘ heisst dann konkret:
- ihm gerade in seiner Andersartigkeit mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen
- ihm das Recht zuzugestehen, sich nach Leib, Seele und Geist zu entfalten;
- ihm mit der gleichen Nachsicht und Geduld zu begegnen, die wir für uns selbst erwarten;
- und ihm tatkräftig zu helfen, wenn er unsere Unterstützung braucht.
Dass wir den anderen lieben sollen wie uns selbst, zeigt andererseits, dass wir Mitmenschen unsere Unterstützung je nach dem auch verweigern dürfen. Wo Menschen uns missbrauchen, ausnutzen oder überfordern, dürfen wir nicht nur, sondern müssen vielleicht sogar zuerst einmal zu uns selber Sorge tragen. Christliche Nächstenliebe bedeutet nicht, die Mitmenschen mehr zu lieben oder ihnen mehr Recht einzuräumen als sich selbst. Wir sollen anderen in ihrer Not helfen, müssen dabei aber nicht uns selbst in Not bringen. – Mitmenschen sind Kinder Gottes wie wir. Darum haben wir die Pflicht, ihnen zu helfen. Wir selbst sind aber genauso Kinder Gottes. Deshalb dürfen wir auch Grenzen setzen und uns dagegen wehren, ausgenutzt zu werden. Schliesslich kann langfristig nur für andere da sein, wer auch zu sich selbst Sorge trägt.
In der konkreten Lebens- und Glaubenspraxis dürfte die Liebe zu Gott die schwierigste Dimension der Liebe sein. Wie liebt man ein Wesen, das weder zu sehen noch zu hören noch anzufassen ist? – Der deutsche Pfarrer und Theologe Klaus Douglas schlägt vor, die Liebe zu Gott nicht isoliert zu betrachten, sondern immer von ihrem Verhältnis zu Selbst- und Nächstenliebe zu denken. Dazu formuliert er fünf Thesen:
- Das Gebot, Gott „über alles“ zu lieben, schliesst Selbst- und Nächstenliebe nicht aus, sondern ein. Zwar ist die Liebe zu Gott laut Jesus das ‚höchste‘ Gebot. Sie darf aber nicht exklusiv, sondern muss inklusiv verstanden werden. D.h. die Liebe zu Gott wird in der Liebe zu sich selbst und in der Liebe zu den Mitmenschen konkret: Wer Gott „über alles“ liebt, wird niemandem etwas wegnehmen. Uns genauso wie die anderen können wir nie zu viel, sondern nur zu wenig lieben. Denn Gott meint: „Wer mich liebt, soll auch die lieben, die ich liebe“.
- Die Liebe zu Gott ist eine wichtige Hilfe, damit unsere Selbst- und Nächstenliebe in einer guten Balance bleiben. Sowohl unsere Selbst- als auch unsere Nächstenliebe tendieren nämlich dazu, masslos zu werden. Es gelingt uns nur selten wir es, das Wohl unserer Mitmenschen genauso wie unser eigenes im Blick zu behalten. Der gemeinsame Bezug zur Liebe zu Gott ist da ein gutes Korrektiv. Nicht die Liebe wird beschnitten, sondern die Fehlentwicklung. Das erhält unsere Liebe gesund und kräftig.
- Die Liebe zu Gott ist keine unabdingbare Voraussetzung zur Selbst- und Nächstenliebe, aber sie hilft. Es gibt durchaus Menschen, die ihre Mitmenschen so lieben wie sich selbst, obwohl sie sich nicht als Christen verstehen. Umgekehrt gibt es leider auch Christen, die keine liebevollen Menschen sind. Man muss nicht glauben, um lieben zu können. Dennoch hat der Glaube an die Liebe Gottes viele Menschen wacher, verständnisvoller, einfühlsamer und bereiter zu Hilfe und Vergebung gemacht. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass das Gebot der Nächstenliebe im Kontext jener Religion entstanden ist, die an einen liebenden Gott glaubt.
- Eine Liebe zu Gott, die auf Kosten der Selbst- und/oder der Nächstenliebe geht, ist gar keine Gottesliebe. Im Mittelalter meinten manche Menschen, aus Liebe zu Gott auf Kreuzzüge gehen zu müssen. Andere glaubten, sich selbst wegen ihrer Liebe zu Gott auspeitschen und kasteien zu müssen. Das mögen extreme Beispiele sein. Sie zeigen aber, dass es eine falsch verstandene ‚Gottesliebe‘ gibt, die einen Menschen weder zum Nächsten noch zu sich selbst führt. — Wo immer also Menschen — seien es andere oder sei man es selbst — auf dem Altar einer vermeintlichen Gottesliebe geopfert werden, ist die Liebe, von der Jesus redet, grundsätzlich missverstanden. Darum heisst es im 1.Jh: „Wer behauptet, dass er Gott liebt, aber seinen Nächsten hasst, belügt sich selbst und andere.“
- Wenn wir genau wissen wollen, wie man gleichzeitig Gott, den Nächsten und sich selbst lieben kann, gibt es kein besseres Vorbild und Beispiel als Jesus selbst. Bei uns selbst mag die Liebe nur selten in allen drei Dimensionen ausbalanciert sein. Von Jesus aber können wir lernen, wie es gemeint ist. Er liebte seinen himmlischen Vater, wie kein anderer Mensch das jemals getan hat. Aus der Tatsache, dass er sich als geliebten Sohn dieses Vaters sah, wuchs ein starkes Selbst- und Sendungsbewusstsein. Gleichzeitig wandte er sich seinen Mitmenschen in einer Weise zu, die ihn über alle Zeiten hinweg geradezu zum Inbegriff praktizierter Nächstenliebe werden liess, obwohl er durchaus auch auf sich selbst achtete und Gott über alles stellte. Wenn wir also lernen wollen, wie das mit der Einheit der Liebe praktisch aussehen kann, orientieren wir uns am besten an Jesu Vorbild und lesen gezielt in den Evangelien.
Ich hoffe sehr, dass das jetzt nicht allzu abstrakt und theoretisch war. Für mich selbst ist wichtig geworden – um noch einmal zum Anfang zurückzukehren. An der Work-Life-Balance zu arbeiten ist wichtig und richtig. Doch es ist nicht die einzige Balance, die wir im Leben halten sollten. Genauso wichtig ist es, in der Liebe ausbalanciert zu bleiben im Blick auf sich selbst, auf die Mitmenschen und auf Gott. Mein Wunsch und meine Bitte an Gott für uns alle ist, dass uns das immer besser gelingen möge. Amen