Predigt am 05.11.2023 in der EMK Adliswil und in der Regenbogenkirche
Liebe Gemeinde,
zwei ehemalige Schulkollegen treffen sich nach vielen Jahren wieder einmal. Sie haben sich natürlich viel zu erzählen. Der erste schwärmt von seinem tollen Job. Ausserdem sei er gerade in sein neues Haus eingezogen. Seine Kinder entwickelten sich prächtig und auch mit seiner Frau sei er eigentlich ganz glücklich. „Was heisst denn da ‚eigentlich’?“ fragt der andere zurück. Und bekommt dann zu hören: „Ja weißt du, wenn wir uns mal streiten, dann wird meine Frau immer gleich historisch!“ Sein Freund korrigiert: „Das heißt aber hysterisch!“ — „Nein, nein,“ beharrt der andere, „ich meine wirklich historisch. Dann zählt sie mir aus zwanzig Jahren Ehe jedes Vergehen, jede Verletzung, jeden vergessenen Hochzeitstag lückenlos auf. In solchen Dingen hat sie ein erstaunliches Gedächtnis!“
Wie sieht bei Ihnen aus? Werden sie manchmal auch ‚historisch’? — Gründe dafür gäbe es wohl mehr als genug. Da ist der Freund, dem ich etwas Persönliches anvertraut habe – und er hat es nicht nur weitererzählt, sondern auch noch Witze darüber gerissen. Da ist der Rivale am Arbeitsplatz, der einem beim Chef schlecht gemacht hat. Das brennt sich ins Gedächtnis und man denkt dabei: „Warte du nur …“ Da ist der Nachbar, der mit Rasenmähen wartete, bis ich es mir in der Hängematte bequem gemacht hatte. Da ist die Freundin, die mir nicht zum Geburtstag gratuliert hat. Da ist ein Lehrer, der mich vor der Klasse blossgestellt hat. Wenn wir an solche Dinge denken – und mögen sie auch Jahre zurückliegen -, dann kann die Wut plötzlich wieder in uns hochkochen …
Dabei sollten doch gerade Christen nicht ‚historisch’ werden, sondern die Vergebung leben, die sie selbst für sich auch in Anspruch genommen haben. Doch so einfach ist das nicht. Gerade in Konfliktsituationen spülen die Emotionen leicht Verletzungen, Gefühle etc. wieder an die Oberfläche, die wir längst für vergessen und vergeben hielten. Und so verstehen wir ganz gut, dass Petrus Jesus einmal gefragt hatte, wie oft man eigentlich vergeben müsse.
Jesu Gleichnis ist unmissverständlich: Der erste Schuldner handelt ‚kreuzfalsch’. Jesus erwartet von uns nicht Abrechnung auf den letzten Heller und Pfennig. Sondern er wünscht sich, dass wir unseren Mitmenschen vergeben… vorbehaltlos, restlos und ohne Verfalldatum.
Geht das überhaupt? Und wenn ja, wie? Leicht ist es jedenfalls nicht. Überlegen wir zunächst einmal, was Vergebung schwierig macht.
I. Wieso man nicht vergeben will
Wie kommt es, dass wir manchmal mindestens denken, vielleicht sogar sagen: „Das vergesse ich dem nie!“? Warum neigen wir dazu, alte Schuld unserer Nächsten immer wieder aufzuwärmen? – Wahrscheinlich läuft da vieles unbewusst ab. Ich könnte mir vorstellen, dass es u.a. mit drei Gründen zu tun hat:
a) Opfer zu sein bringt Aufmerksamkeit
Irgendwie tut es gut, wenn man als Opfer von allen bemitleidet wird. Als Opfer bekommt man Aufmerksamkeit. Und es tut wohl, wenn andere bestätigen, wenn andere sagen: „Der/die Arme. Ihm/ihr ist Unrecht geschehen, übel mitgespielt worden. Wir müssen ihm/ihr beistehen und helfen!“ – Um diese wohltuende Aufmerksamkeit nicht zu verlieren, muss man als Opfer die Erinnerung an die Verletzung wach halten… und kann so natürlich nicht vergeben.
b) Der Täter soll erniedrigt werden
Dazu kommt: Wenn ich den anderen immer wieder erzähle, was mir angetan wurde, zahle ich es dem Täter heim. Ich bestrafe ihn damit, dass er in aller Augen zum ‚Bösen’ wird. Ich erniedrige ihn. Und wenn einer niedriger ist als ich, dann bin ich besser – und das tut so gut.
So gesehen könnte das Nicht-Vergeben-Können auch Anzeichen (Symptome) für ein Selbstwertproblem sein. Ich mache dann nämlich meinen Wert daran fest, dass ein anderer sich vor mir erniedrigen und mich um Verzeihung bitten muss.
c) Man schützt sich vor einer erneuten Verletzung
Ein dritter Grund für die Verweigerung von Vergebung könnte der Versuch sein, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen: Wenn ich dem anderen immer wieder vorhalte, wie sehr er mich verletzt hat, dann hält ihn vielleicht sein schlechtes Gewissen davon ab, es noch einmal zu tun. Umgekehrt bedeutete Vergebung in dieser Optik ja fast eine Einladung, weiter auf mir herumzutrampeln.
Drei (unter vielen weiteren) Gründe, weshalb Menschen nicht verzeihen wollen. Drei durchaus plausible Gründe – zugegeben. Und doch führt die Verweigerung der Vergebung in eine Sackgasse. Darum fordert Jesus ja auf, dass wir einander vergeben sollen.
II. Vergebung zu verweigern schadet uns selbst am meisten
Konkret wollte Petrus wissen „Ist siebenmal denn nicht genug?“ Und Jesus antwortete: „Nein, nicht nur siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal!“ (® Die Übersetzer sind sich übrigens nicht ganz einig, ob hier ‚490’ oder ‚77’ gemeint sei. In den meisten Bibeln steht 490, während neuere Arbeiten sich eher für 77 aussprechen. Das spielt aber nicht wirklich eine Rolle). Natürlich meint er nicht, dass Petrus über ihm zugefügte Verletzungen genau Buch führen solle und dann nach dem 490. Mal endlich zurückschlagen dürfte. Nein! Jesus rät uns, , unbegrenzt und bedingungslos zu vergeben.
Dabei schiene es doch einfacher, das bemitleidete Opfer zu bleiben und dem Täter seine Schuld immer wieder vorzuhalten. Ausserdem ist die Angst vor einer erneuten Verletzung zu überwinden. Dennoch: Ich glaube, dass Jesus damit den einzigen Weg zu einem befreiten und entlasteten Leben zeigt. Er weiss nämlich, was Gertrud von Le Fort einmal so formulierte: „Feindseligkeit schadet dem am meisten, der feindselige Gefühle hegt. Deshalb ist es zum eigenen Besten, schnell und großmütig zu verzeihen.“
Vergebung bedeutet nicht zuletzt für das Opfer Entlastung. Wer anderen etwas nachträgt, der hat schwer zu schleppen. Seine Seele ist tief belastet. Versuchen Sie mal einem Menschen einen Sack Kartoffeln einen Tag lang nachzutragen! Das würde Schmerzen und Krämpfe auslösen. Es machte uns kaputt. Darum lassen wir es ja auch. – Wir vergessen aber leicht, dass die Seele genau gleich reagiert wie der Körper. Sie geht kaputt, wenn wir sie überlasten. Wir machen uns selbst kaputt, wenn wir anderen nachtragen, was wir ihnen auch vergeben könnten.
Das Wort „Ver-zeihen“ hängt im Deutschen eng mit dem Wort „Ver-zichten“ zusammen. Wenn ich verzeihe, dann verzichte ich darauf, diese Last jemandem hinterher zu schleppen. — Ähnlich ist es mit dem Wort „ver-geben“. Ver-geben heißt soviel wie weg-geben. Ich gebe den Kartoffelsack in meiner Seele weg, ich will ihn nicht mehr schleppen, weil ich wieder leben will. – Oder wie Bernard Mannes Baruch sagte: „Das Geheimnis eines langen erfüllten Lebens ist, jedermann alles zu vergeben, bevor man zu Bett geht.“
III. Zu vergeben mag schwierig sein, aber es geht … mit Gottes Hilfe
Nun – auch wenn das alles stimmt – ist Vergebung dennoch kein Kinderspiel. Im Gegenteil: Oft bedeutet es einen langen, steilen und steinigen Weg zu gehen. Jesus verlangt ja gar nicht, dass uns Vergebung leicht fallen müsse. Aber er sagt, dass Vergebung immer dran ist und sich lohnt. – Mit Gottes Hilfe kann es gelingen. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel von Corrie ten Boom (die Holländerin versteckte im 2. Weltkrieg Juden vor den Nazischergen und kam deswegen selber ins Konzentrationslager, das sie überlebte. Sie lebte 1892–1983) vorlesen:
Ich vergebe dir, Bruder (nach Hoffsümmer VIII, S.38)
In einer Kirche in München hatte Corrie ten Boom über Vergebung gesprochen. Später erschien ihre Lebensgeschichte als Buch und als Film. In dem Vortrag sagte sie, Sündenvergebung bedeute, dass die Sünden ins Meer geworfen würden, und zwar dort, wo es am tiefsten sei.
Nach dem Vortrag bahnte sich ein kahlköpfiger, schwerer Mann den Weg zu ihr. Corrie ten Boom erkannte in ihm unmittelbar den grausamsten Wächter des KZ Ravensbrück, in dem sie selbst viele Jahre inhaftiert worden war. Plötzlich stand er vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen. Sie erinnerte sich an ihn und an die Lederpeitsche, die damals in seinem Gürtel steckte. „Sie erwähnten Ravensbrück in Ihrem Vortrag”, sprach er sie an. „Ich war Wärter dort. Aber das ist vorbei. Ich bin inzwischen Christ geworden. Ich weiß, dass Gott mir alle Grausamkeit, die ich dort getan habe, vergeben hat. Aber ich möchte es auch aus Ihrem Munde hören! Können Sie mir vergeben?“
Da stand ich nun — ich, der Sünden wieder und wieder vergeben wurden — und konnte es nicht. Konnte er den langsamen und schrecklichen Tod meiner Schwester in Ravensbrück einfach mit diesem Wort ausradieren? Aber ich spürte, ich musste ihm vergeben. Ich bemühte mich, meine Hand krampfhaft zu erheben. Ich konnte es nicht. Hölzern, mechanisch legte ich dann schließlich meine Hand in die ausgestreckte Hand des Mannes. Als ich es tat, geschah plötzlich etwas Unglaubliches! Eine heilende Wärme schien mein ganzes Sein zu durchfluten. Tränen kamen mir in die Augen. „Ich vergebe dir, Bruder, von ganzem Herzen!“
Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie in diesem Augenblick.
Dieses Erlebnis bestätigt, was Gertrud von le Fort einmal bemerkt: „In der Verzeihung des Unverzeihlichen ist der Mensch der göttlichen Liebe am nächsten.“
Vergeben fällt oft nicht leicht. Es kann eine sehr hohe Hürde bedeutet. Oder es kann ein sehr langer Weg sein, ein Weg mit vielen kleinen Schritten und dem ständigen Gebet, dass Gott mir helfen möge zu vergeben. – Doch wo fängt dieser lange Weg an?
IV. Aus Gottes Vergebung leben
Erfahrungsgemäss kann leichter vergeben, wer selbst schon einmal darauf angewiesen war, dass ihm ein anderer vergibt. – Die Bibel stellt den Zusammenhang deshalb so her: Christen haben allen Grund anderen Menschen ihre Verfehlungen zu vergeben, weil sie um Gottes Vergebung wissen. Gott vergibt uns ständig. Was sollten wir denn machen, wenn Gott zu uns sagen würde: „Das verzeih ich euch nie?“
Die Bibel bezeugt, dass Gott uns in Christus vergibt. Mit seinem Tod biegt Jesus unsere krummen Touren wieder gerade. Wer ihm vertraut, kann jede Last von Schuld ablegen und loslassen. Darum, sagt die Bibel, sollte es selbstverständlich sein, dass niemand anderen ihre Verfehlungen nachträgt. Aus christlicher Sicht heisst es nämlich nicht: „Wie du mir, so ich dir!“, sondern: „Wie Gott mir, so ich dir!“
Weil Gott mir alles vergeben hat, deswegen will ich auch meinen Mitmenschen vergeben (lernen). Ich vergebe meinen seelischen Kartoffelsack an Gott. Er soll sich darum kümmern. Nicht, dass ich mich nicht mehr damit beschäftige. Verletzungen müssen bewusst bearbeitet werden, aber Gott sagt: „belaste dich nicht selbst damit, ver-gib es an mich.“ Vergebung heißt: eine Sache bewusst Gott überlassen, dass er sich darum kümmert. Nicht nachtragen, aber auch nicht einfach „Schwamm drüber!“, sondern die Sache Gott anbefehlen und Frieden darüber finden, damit wir frei und entlastet weiter leben können.
III. Vergebung – praktisch und konkret
Wie geht das nun ganz praktisch. Abschliessend ein paar Stichworte, wie Schritte eines Vergebungsweges aussehen könnten.
a) Ich nehme die Verletzung ernst
Es geht nicht darum, Dinge unter den Tisch zu kehren, sondern Verletzungen auch beim Namen zu nennen. Meine Wut und meine Enttäuschung sind da. Es hilft gar nichts, sie einfach herunterzuschlucken. Wer anderen (vorschnell) äusserlich Vergebung zuspricht läuft Gefahr, innerlich hart zu werden. Unrecht bleibt Unrecht. Es muss richtig aufgearbeitet werden. Der 2.Schritt dazu heisst:
b) Ich will den Vergebungsprozess beginnen
Darum geht es: Willst du dich auf den Weg machen? Willst du überhaupt, dass die Vorwürfe in deinem Herzen Stück für Stück abgetragen werden? Oder willst du lieber weiter selbst daran schleppen und kaputt gehen? Vergebung muss man wollen – und dazu braucht man Hilfe:
c) Ich spreche in einem geschützten Rahmen darüber
Wer verletzt worden ist, der muss sich das mal von der Seele reden können. Man muss nicht alles in sich reinfressen, sondern im Gespräch bewusst ans Licht bringen und auf den Tisch legen – vor einem Menschen, der einen nicht verurteilt und der alles für sich behält (ein Freund; ein Seelsorger).
d) Ich ver-gebe die Sache bewusst an Gott
Und wenn die Sachen auf dem Tisch liegen, dann geht es darum, sie nicht wieder ins Herz einzupacken, sondern zu ver-zeihen, auf sie zu ver-zichten, sie wegzugeben an Gott, sie zu ver-geben an den, der sich in richtiger Weise darum kümmern wird. Vergeben heißt, die Verletzungen und den Verletzer bewusst Gott zu überlassen.
e) Ich bete für mich und den anderen
Das kann man im Gebet tun. Ich bete darum, dass die Last, die mir anhängt, Stück für Stück abgetragen wird. Ich bitte Gott, dass er mich lernt, den anderen (‚Täter’) mit neuen Augen zu sehen. Gott kann uns die Kraft dazu geben, ihn/sie, der/die mich verletzt hat, sogar zu lieben. Und mit der Zeit geht das soweit, dass wir lernen, was Jesus uns vorgelebt hat: Dass wir selbst für unsere Feinde bitten und sie segnen.
f) Ich versöhne mich – wenn möglich
Wenn möglich gipfelt der Weg der Vergebung darin, dass ‚Opfer’ und ‚Täter’ miteinander Versöhnung feiern. Das ist dann ein grosses Stück Himmel auf Erden, wenn es gelingen kann. – Das geht nicht immer. Nicht jeder, dem ich vergebe, wird deswegen gleich mein bester Freund. Manche Wege können sich auch trennen, aber es ist dann eine Trennung ohne Groll.
g) …da capo …
Zuletzt: Auch wenn ich jemandem vergeben habe und mit ihm Versöhnung gefeiert habe, kann es passieren, dass die Narbe plötzlich wieder schmerzt, dass alte Gefühle von Verletzung und Groll wieder erwachen. Dann ist wichtig, das nicht zu verdrängen. Sondern sich gleich wieder auf den Weg der Vergebung machen. Da Capo.
Solange wir auf dieser Welt leben, werden wir wohl immer da und dort daran ‚herumknorzen’, anderen zu vergeben. Wichtig ist, dass wir dran bleiben. Paulus hat in keinem seiner Briefe vergessen, daran zu erinnern. Wie z.B. im Eph (zu Beginn des Godi’s schon gehört): „Seid freundlich und barmherzig, und vergebt einander, so wie Gott euch durch Jesus Christus vergeben hat.“ Anders gesagt: Lassen wir unsere Seele nicht durch Kartoffelsäcke belastet sein, sondern ver-geben wir diese an Gott. Dann wird unser Leben immer befreiter und entlasteter sein können. Amen