Gehalten am 17.12.2023 (3. Advent) in der EMK Adliswil
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Liebe Gemeinde,
am vergangenen Sonntag wurden anlässlich der ‚Sports awards‘ die Schweizer SportlerInnen des Jahres gekürt. Gewonnen haben mit Lara Gut-Behrami und Marco Odermatt zwei begnadete SkifahrerInnen. ‚Begnadet‘! Sportreporter brauchen das Wort gerne. Von Roger Federer las ich einmal, dass er ein ‚begnadetes‘ Händchen habe. Auch FussballerInnen werden immer wieder als ‚begnadet‘ bezeichnet. Lionel Messi sei ein begnadeter Dribbler, Erling Håland ein begnadeter Mittelstürmer, Yann Sommer ein begnadeter Torhüter. Auch im Blick auf Kulturelles wird der Begriff häufig gebraucht. Wir lesen oder hören von begnadeten Schauspielerinnen, Regisseuren oder MusikerInnen. Aus allen musikalischen Sparten und Stilen. Zuletzt habe ich von Taylor Swift, der zur Zeit wohl alle anderen überstrahlenden Pop-Künstlerin gelesen: Sie sei eine begnadete Musikerin und – vielleicht sogar noch wichtiger — eine begnadete Kommunikatorin.
Ob all denen, die das Wort ‚begnadet‘ brauchen, bewusst ist, dass es ein biblischer Begriff ist? Z.B. in der Vorweihnachtsgeschichte des Lukas kommt es vor. Ich lese Lukas 1,26–38:
Die Ankündigung der Geburt Jesu
Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
„Sei gegrüsst, du Begnadete. Der Herr ist mit dir!“: Ein seltsamer Gruss. Was bedeutet er wohl? – Ein Blick auf die biblische Ursprache legt eine wichtige Spur: Im Griechischen klingen Gnade und Freude sehr ähnlich. Darum kann man diesen Engelsgruss auch übertragen mit: „Freue dich. Der Herr ist mit Dir!“ Also haben ‚Begnadete‘ Grund zur Freude, weil Gott mit ihnen ist.
Das ist in der Geschichte, die Lk erzählt, freilich nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Abgesehen vom Zuspruch Gottes an ihrer Seite eröffnet die Verheissung Gabriels eher unerfreuliche Perspektiven für Maria. Als noch unverheiratetes Mädchen in der damaligen Gesellschaft mit einer unklaren Schwangerschaft zu leben führte weniger zu Freude als zu massiven Problemen. –Für heutige Leser oder HörerInnen ist womöglich auch eher ärgerlich als erfreulich: Die Sache mit der ‚Jungfrauengeburt‘. Jedenfalls sind davon viele irritiert. Viele wenden sich sogar von Bibel und Kirche ab mit der Begründung: „Wenn ich da meinen Verstand abgeben muss, ist das nichts für mich!“
Was ist heute die Botschaft dieser Geschichte? Was daran kann und soll uns Freude machen? Wie kann sie helfen, in unserer Zeit den Glauben zu bewahren und Hoffnung weiterzutragen? Inwiefern sind wir heute begnadet, haben wir Grund zur Freude? — Um dem allem auf die Spur zu kommen lohnt es sich, zunächst ein paar vermeintlich nebensächliche Äusserlichkeiten der Geschichte zu beachten:
- Was Lk berichtet, geschieht in Galiläa. Das war eine kleine Provinz am nördlichen Rand der römischen Provinz Judäa. Die Gegend war abgelegen und galt als hinterwäldlerisch. Läge Galiläa in der Schweiz, so hiesse es vielleicht Appenzell Innerhoden oder Berner Oberland. Man war auf dem Land, hinter den Bergen. Die grossen Trends kamen nicht von da. Und die Weltpolitik spielte sich ebenfalls ganz woanders ab. – Ausgerechnet hier, verloren im Nirgendwo, besucht der Engel Gottes eine junge Frau oder genauer: Ein Mädchen, erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
- Sie ist in Nazareth zu Hause. Der kleine, schäbige Ort hatte keinen guten Ruf. Sprichwörtlich war die Frage: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Ein Ort, von dem nichts Positives zu erwarten ist. ‘No-go-Areas’ nennen die Amerikaner solche Gegenden. Friedliche BürgerInnen vermeiden es besser, sich dahin zu verirren. „No-go-Area“ Nazareth also. Ausgerechnet dahin geht der Engel Gottes.
- Zu wem? Zu Maria. In der kirchlichen Tradition wurde sie zur Heiligen. Zur reinen, unbefleckten Magd. Madonna, Mutter Gottes oder Himmelskönigin wurde sie später genannt? Von all dem weiss der lukanische Text aber nichts. Maria ist ein einfaches, unbekanntes Mädchen aus einer hinterwäldlerischen Provinz. Noch sehr jung. Vielleicht 12 oder 13jährig. Sein jüdischer Name lautet: „Mirjam“. Der Name steht für ‘Auflehnung’, für ‘Bitterkeit’ und ‘Betrübnis’. Wenn man etwas wohlwollend übersetzt, kann man sagen: Maria/Mirjam ist die ‘Widerspenstige’. — Ausgerechnet zu ihr kommt der Engel Gottes.
In einer ‘No-go-Area’ begegnet der Engel Gottes einem einfachen jüdischen Mädchen. Damit sind wir schon nahe am Kern der Weihnachtsbotschaft. Beim Wunder nämlich, dass Gott ganz einfach, im normalen/grauen Alltag, ja sogar am Rand der Gesellschaft zur Welt kommt und ein Mensch wird.
Nun muss man wissen: Die antiken Religionen wussten durchaus von vielen Göttern zu erzählen, die Menschen wurden. Und doch waren das andere Geschichten. Denn diese Götter erschienen oft als Kriegs-Helden. Laute Heroen auf irgendwelchen Schlachtfeldern. Das Lk-Ev erzählt hingegen eine ganz unheroische Geschichte. Da ist kein Heldentum erkennbar. Gott wird weit weg von den grossen Bühnen der Welt im hinterwäldlerischen Galiläa, im anrüchigen Nazareth, als Mensch greifbar. Und zur Welt kommt er noch nicht einmal zu Hause, sondern unterwegs in einer Notunterkunft. Nicht im prächtigen Luxusbett in einem königlichen Prachtbau, sondern in einer Futterkrippe, die nicht einmal minimale Hygiene-Standards bieten konnte. Der Gott, von dem Lukas erzählt, wird nicht bei den Reichen und Schönen Mensch, sondern bei dank einem armen jüdischen Mädchen, das sich selbst als „Magd“ bezeichnet.
Das macht Weihnachten zu einem Wunder: Der grosse und heilige Gott ist sich nicht zu schade, in unsere kleinen und schäbigen Welten zu kommen. Er schreckt nicht zurück davor, sich die Hände (und womöglich viel mehr) schmutzig zu machen. Der Höchste sucht sich für sein Kommen ausgerechnet die „No-go-Areas“ dieser Welt aus. Das fasse, wer kann. Galiläa, Nazareth, später: Stall und Krippe, geboren von einer einfachen Magd. Und dann auf der Flucht nach Ägypten – erst auf diesem Hintergrund kommt das Wunder von Weihnachten wirklich zum Strahlen.
Um dieses Wunder zu unterstreichen, greift Lk in die erzählerische Werkzeugkiste. Er packt die Geschichte von Gottes Menschwerdung ein in ein zweites Wunder. Noch etwas Unerhörtes, ja geradezu Anstössiges umschliesst das Weihnachtswunder. Er erzählt von der Jungfrauengeburt. Zu Hilfe kam Lk dabei eine alte Verheissung aus der Bibel. In Jes 7,14 steht: „Eine junge Frau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Den wird sie Immanuel, ›Gott mit uns‹, nennen.“ Diese alte Zusage baut Lk fast wörtlich in seine Geschichte ein. Als tiefgläubiger Mann ist er sich sicher, dass sich in diesem Jesus wirklich die Verheissung des Messias erfüllen wird. – Allerdings, ist es Ihnen aufgefallen? – Bei Jesaja steht ‘eine junge Frau’. Lukas aber schreibt von einer ‘Jungfrau’.
Ist das ein Tipp- bzw. Abschreibfehler? Oder ein seltsames Wortspiel? Ist die Phantasie mit ihm durchgegangen? – Lk war nicht nur ein gläubiger, sondern auch ein gut gebildeter Mann. Die Tradition sagt, er sei Arzt von Beruf gewesen. Er wird sich also wohl etwas überlegt haben. Und was später andere für Lehren daraus entwickeln würden, wie z.B. von einer unbefleckten Empfängnis, das konnte er ja kaum absehen. – Dennoch: Was will er mit der Geschichte von der ‘Jungfrauengeburt’?
Um das zu verstehen, hilft es, folgende Zusammenhänge zu kennen: In der Antike, z.B. in Ägypten war es nicht ungewöhnlich, ein neugeborenes Königskind als „von einer Jungfrau geboren“ zu bezeichnen. Das sollte die Besonderheit eines solchen Kindes zum Ausdruck bringen. Nun hat sich Lk mit seinem Evangelium ja genau dasselbe vorgenommen: Er will die Besonderheit, ja das Wunder des Kommens Gottes in seine Welt verkündigen. Und dafür greift er zu einem erzählerischen Mittel, das seine Zeitgenossen verstanden: Sie hörten von der Jungfrauengeburt und begreifen sofort: Das Kind in der Krippe muss ein geborener König sein. Sicher ein ganz anderer König als die in den Palästen Ägyptens. Dennoch ein König. Und: Was heißt denn ‘ein’ König? ‘Der’ König schlechthin: „Er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.“
Ich muss die Geschichte von der Jungfrauengeburt also nicht biologistisch verstehen. Und merke doch genau, was Lk mir verkündigt: Das Kind, das der Maria verheissen wird, ist ein ganz besonderes Kind. In ihm lebt Gott selbst. Er ist zur Welt gekommen und einer von uns geworden.
So verstehe ich auch, dass es im Glaubensbekenntnis heisst: „geboren von der Jungfrau Maria“. Das ist — gerade weil es schwer fassbar ist — ein heilsamer Stolperstein. Es bewahrt mich davor, das Weihnachtswunder zu verharmlosen. Es auf eine romantische, stimmungsvolle Tradition zu reduzieren. Was uns Lk erzählt, ist unglaublich, kaum fassbar … und dennoch echt. Konkret: Gott wird Mensch. Begegnet uns auf Augenhöhe. Erlebt und erleidet, was das Leben mit uns macht. Geht uns nach. Sucht die Begegnung mit uns. Obwohl grosse Teile der Welt bzw. der Menschheit davon kaum etwas wissen wollen. Sucht dennoch hartnäckig weiter und findet immer wieder Menschen.
Selbst ein rationaler und ziemlich nüchterner Typ kann ich so im Glaubensbekenntnis den Satz ‘geboren von der Jungfrau Maria’ mitsprechen. Nicht, weil ich das im biologischen Sinn für die Wahrheit halte. Sondern weil ich es Signal für die alles menschlich-rationale Verstehen übersteigende Liebe Gottes deute. Es ist und bleibt ein unbegreifliches, nicht in den Griff zu bekommendes und doch reales Geschehen: Der grosse Gott will es – o Wunder – ausgerechnet mit uns zu tun haben, die wir in einer zerrissenen Welt leben (für deren Zerrissenheit wir weitgehend verantwortlich sind).
Es geht bei der Jungfrauengeburt nicht um eine biologische Absurdität. Es geht nicht darum, wider besseres Wissen etwas Unverständliches, um nicht zu sagen Unmögliches zu behaupten. Sondern es geht darum, darüber zu staunen und sich darüber zu freuen: Bei und dank Gott wird Unmögliches möglich. Er ist Mensch geworden und in diese Welt gekommen. Auch vor den Schattenseiten der Welt hat der nicht Halt gemacht. Wo immer wir uns hier bewegen: In und dank Christus können wir Gott von Mensch zu Mensch begegnen.
Die Herausforderung besteht darin, sich auf diese Begegnung einzulassen. Das Weihnachtswunder im eigenen Leben zuzulassen. So wie Maria, die schliesslich sagt: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Nicht verstehen und bis ins Letzte erklären können müssen wir Gott. Sondern zulassen, dass er an uns und durch uns wirkt. Darin ist uns Maria Vorbild.
Und solande ich wieder bei den Begnadeten. Maria hat die Gnade, nicht alles zu hinterfragen. Sie hat die Gnade, sich als Gottes Werkzeug brauchen zu lassen. Und auch wenn es alles andere als leicht war, die Mutter dieses Jesus von Nazareth zu sein, auch wenn es viel Sorgen und Leiden bedeutete, es war doch zuletzt eine grosse Freude. Denn er führte sie und er führte viele andere zur Begegnung mit dem lebendigen Gott. So fanden sie Leben, das wirklich Leben ist. Die ‚Freude am Herrn‘ wurde zu ihrer Stärke. Und der Engel hatte Recht. Maria und viele andere wurden dank Jesus von Nazareth zu Begnadeten.
Auch wir sind Begnadete. Wir haben allen Grund zur Freude, weil Gott ins unsere Welt kommt. Wir dürfen die Gnade finden, uns von Gott als Werkzeug brauchen zu lassen, selbst wenn wir oft Manches nicht verstehen.
So lädt uns diese Geschichte von Lukas ein, als Begnadete Weihnachten zu feiern. Uns zu freuen über Gottes Kommen. Davon anderen zu erzählen. Und uns immer wieder einzulassen auf die Wege, die er führt. Und uns so brauchen zu lassen, wie es ihm gefällt. Amen