Gehalten am 28.01.2024 in der EMK Adliswil
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Liebe Gemeinde,
zum dritten Mal beschäftigen wir uns heute mit den Werten unserer Kirche / Gemeinde. Zuerst ging es um Inklusion = Einschliesslichkeit. Dann beschäftigten wir uns letzten Sonntag damit, dass der dreieinige Gott Mittel- und Ausgangspunkt der Gemeinde sein und bleiben müsse. Heute nun geht es um das Wesen der kirchlichen Gemeinschaft. Sie soll tragend, grosszügig und befähigend sein.
Beginnen wir mit den Wörtern Kirche und Gemeinde. Im Griechischen steht hinter Kirche der Begriff ‚Ekklesia‘. Es leitet sich von einem Verb ab, das ‚herausrufen‘ bedeutet. Die Kirche ist demnach die Versammlung oder Gemeinschaft der Herausgerufenen ( … aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft; aus der Dunkelheit ins Licht; aus der Gottferne (‚Sünde‘) in die Beziehung zu Gott). Im Deutschen ist ‚Kirche‘ wohl aus einem anderen griechischen Wort entstanden (kurikon bzw. kuriakon). Es bezeichnet, ‚was zum Herrn gehört‘. Kirche bilden also diejenigen, die zum Herrn gehören. Oder, beides zusammenfassend: Kirche ist die Gemeinschaft der in die Gotteskindschaft Berufenen.
Beim Begriff ‚Gemeinde‘ ist die Herleitung einfacher. Das Wort kommt von Gemeinschaft. Im Griechischen ist das ‚Koinonia‘, auf Lateinisch ist es ‚Communio‘. In den Paulusbriefen wird es zu einem ganz zentralen Begriff. Er bezeichnet das Miteinander derer, die in einer Beziehung mit Christus leben. Dieses Miteinander bzw. diese Gemeinschaft ist notabene durch Gottes schöpferisches Wirken begründet und geschaffen. Sie ist eine Neuschöpfung oder wenigstens die Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinschaft (im Paradies) von Menschen untereinander – und zusammen mit Gott.
Noch einmal: Kirche / Gemeinde bezeichnen eine von Gott geschaffene Gemeinschaft. Es geht dabei um das Miteinander (= Gemeinschaft) von Mensch zu Menschen und der Menschen mit Gott. Dieses Miteinander hat einen ganz bestimmten Charakter. Er wird von den Werten genauer umschrieben.
Ok! Mal schnell Durchschnaufen und das Hirn wieder mit Sauerstoff versorgen. Das war jetzt doch ziemlich dicht und abstrakt. Sagen wir es einfacher: Die Werte beschreiben den Charakter unserer kirchlichen Gemeinschaft. Sie tun es, indem sie Antwort geben auf bestimmte Fragen:
- Wie wird diese Gemeinschaft im Inneren gelebt? – Im SLI haben wir formuliert, dass wir uns eine Gemeinschaft wünschen, die tragend, grosszügig und befähigend ist. Das ist heute das Thema. Mit diesem Wert = Charakterzug unseres Gemeindebezirks werden wir uns gleich ausführlicher befassen. Vorher noch kurz zu den drei anderen Fragen/Werten:
- Wie verhält sich diese Gemeinschaft gegenüber Aussenstehenden? – Der Wert der Inklusion/Einschliesslichkeit sagt, dass sie sich nicht abgrenzt oder Menschen ausschliesst. Vielmehr wünschen wir uns eine offene, einladende, integrierende Gemeinschaft.
- Was ist das Fundament dieser Gemeinschaft? – Das Wirken und die Zusagen des dreieinigen Gottes. Als Wert haben wir formuliert: Der dreieinige Gott ist Mittel- und Ausgangspunkt.
- Schliesslich: Wie und in welche Richtung bewegt sich diese Gemeinschaft?- Darauf gibt der Wert Antwort, mit dem wir uns am kommenden Sonntag beschäftigen werden: Mutig vorwärts gehen.
Zur Erinnerung sei noch einmal gesagt: Unsere Formulierungen sind weder abschliessend noch gar in Stein gemeisselt. Sie können sich nicht nur weiterentwickeln. Sie werden das sogar tun müssen. Mitdenken und Feedbacks der ganzen Gemeinde sind deshalb nicht nur willkommen, sondern ausdrücklich erwünscht. Z.B. als Kommentar hier auf meinem Blog . Oder im Gespräch mit jemandem aus dem SLI-Team. Oder …
Wir haben die Werte im vergangenen Herbst bei einem Kirchenkaffee schon einmal vorgestellt und ins Gespräch zu bringen versucht. Dabei hat der Wert, mit dem ich mich heute beschäftige, am meisten Reaktionen und Diskussionen ausgelöst. Das hat uns ehrlich gesagt ein wenig überrascht. Ich hätte es eher beim ‚Mutig vorwärtsgehen‘ so erwartet.
Wir wünschen uns – so haben wir formuliert – eine tragende, grosszügige und befähigende Gemeinschaft. Was daran provoziert? Ist es das Wort ‚grosszügig‘? Es kann jedenfalls unterschiedlich verstanden werden. Es kann der Verdacht erwachen, dass mit dem Wort ‚grosszügig‘ Druck aufgebaut werden soll. Vielleicht im Blick auf das Geld, also um die Erträge bei Kollekten und Kirchenbeiträgen zu steigern. Man sagte den Methodisten ja schon früher nach, sie seien sehr gut darin, Geld zu ‚sammeln‘. Ich habe dazu eine kleine Geschichte gefunden, die Bischof Schäfer 1970 bei einer europäischen Jugendtagung in Wien erzählte:
In einer kleinen Stadt findet eine Zirkusveranstaltung statt. Neben anderen Shownummern tritt auch ein starker Mann auf. Er führt allerlei Kraftakte vor. Zuletzt nimmt er eine Zitrone und presst sie mit blossen Händen aus. Dann ruft er in die Menge: „Wer aus dieser Zitrone noch einen Tropfen herauspresst, erhält zehn Mark.“
Zuerst meldet sich niemand. Dann kommt ein kleiner, schmächtiger Mann nach vorne, nimmt die Zitrone in die Hand und beginnt zu pressen … fünf Tropfen kommen noch heraus. Den Kraftprotz kippt es fast aus den Schuhen. So staunt er. „Unglaublich“, sagt er, „wie haben Sie das nur gemacht? Wer sind Sie denn? – Darauf sagt der Mann bescheiden: „Ich bin nichts Besonderes! Ich bin nur Kassier hier in der Methodistenkirche.“ (aus: zeitweise heiter, Vergnüglich-Besinnliches aus der EmK, zusammengetragen von Heinz Schäfer, Christliches Verlagshaus Stuttgart, 1974, S. 12f)
Die gut erfundene Anekdote hat einen wahren Kern. Dennoch: Wir haben im SLI nicht an das Geld gedacht, als wir zum Wort grosszügig griffen. Sondern im Hintergrund stand die Überzeugung, dass unsere Gemeinschaft von der Gnade bestimmt sein müsse.
‚Gnade‘ ist, wie Sie alle wissen, genauso wie ‚Gemeinschaft‘ einer der zentralen Begriffe des Glaubens. Allerdings ist der Begriff in unserer Zeit nicht mehr so geläufig. Darum haben wir auf Formulierungen wie ‚gnädige Gemeinschaft‘ oder ‚gnadenreiche Gemeinschaft‘ verzichtet. Wir wollten das, was ‚Gnade‘ meint, in besser verständlich Worten kleiden. Und es schien uns, dass die Adjektive tragend, grosszügig und befähigend das zusammen gut auf den Punkt bringen. Unsere Gemeinschaft soll tragend, grosszügig und befähigend sein. So formulieren wir unseren Wunsch, dass Christi Gnade die kirchliche Gemeinschaft ganz bestimmen und prägen soll.
Ich habe lange nach einer passenden Bibelstelle gesucht. Schliesslich bin ich bei 2. Korinther 9,8 (Luther 2017) gelandet: „Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk.“
- Die Gnade soll reichlich unter uns sein: Das trägt im Leben und Glauben
- Alle sollen volle Genüge haben, d.h. von allem genug haben und zu ihrem Recht kommen. So zeigt sich die Grosszügigkeit der Gnade
- Wir werden reich zu jedem guten Werk: Das bezeichnet die befähigende, bevollmächtigende Wirkung der Gnade
„Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk.“ In meinen Augen gibt dieser Satz präzis wieder, worum es uns beim Wert der tragenden, grosszügigen und befähigenden Gemeinschaft geht. – Etwas blöd ist nur, dass er (ausgerechnet!) aus einer Kollektenrede stammt. In 2. Kor 8f geht es nämlich um eine Kollekte zugunsten der Urgemeinde in Jerusalem. Paulus zieht so ziemlich alle Register, damit die Sammlung in Korinth grosszügig ausfällt … Tja, so kann es einem gehen, wenn man rein nach Stichworten einen Bibelvers sucht um eine bestimmte Aussage zu untermauern! Darum wiederhole ich: Ich habe den Vers nicht wegen dieses Zusammenhangs ausgesucht. Es geht mir nicht ums Geld. Sondern es geht darum, wie Christi Gnade unsere Gemeinschaft formt und prägt: „Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk.“
Abschliessend nun noch ein paar Anmerkungen zu den drei Adjektiven. Tragend, grosszügig und befähigend wünschen wir uns unsere Gemeinschaft!
Tragend: In dieser Hinsicht wird der Wunsch bei uns häufig Realität. Das dürfen wir dankbar feststellen. Zum Beispiel: Alle zwei Wochen treffen wir uns am Dienstagnachmittag zum Gesprächskreis. Wir erzählen einander, wie es uns geht. Wir reden von Anliegen und Nöten, die uns aus der Gemeinde bekannt sind. Wir tun Fürbitte. Wir lesen miteinander in der Bibel und teilen unsere Fragen und Einsichten. In all dem erfahren wir eine Gemeinschaft, die trägt.
Oder: Es gibt die Gebetsgruppe, in der wir regelmässig Anliegen austauschen und dafür beten (Übrigens: niemand muss laut beten. Manchen liegt es besser, still mitzubeten und die Anliegen dann mitzunehmen und weiter im Herzen zu bewegen. Das darf auch so sein. – Herzliche Einladung, am nächsten Freitag um 17.00 auch mal reinzuschauen). Es gibt die Whatsapp-Gruppe, über die wir zeitnah Gebetsanliegen mitteilen. Und es gibt die Gebetswand. Auch die Anliegen dort werden wahrgenommen und wandern auf persönliche Gebetslisten. – Und ich höre immer wieder: Ich fühle mich getragen, weil andere an mich denken und für mich/mit mir beten.
So u.a. versuchen wir nicht nur, eine tragende Gemeinschaft zu leben. Es gelingt uns auch oft. – Die Gemeinschaft ist wie das Sicherheitsnetz unter dem Seiltänzer. Es fängt ihn im Fall eines Sturzes auf und verhindert Schlimmeres. Zwar gibt es durchaus nach und der Sturz kann tief gehen. Aber er wird abgebremst und aufgefangen, bevor es zum Aufprall auf dem Boden kommt.
Grosszügig: Dieses Adjektiv bezeichnet die herausforderndste Seite unserer Gemeinschaft. Wir sind alle so verschieden! Wir haben unterschiedliche Begabungen. Wir haben diverse Gedanken und widersprüchliche Haltungen und Meinungen. Wir pflegen Lebens- und Frömmigkeitsstile, die in vielen Punkten alles andere als deckungsgleich sind. Wir sind eine bunte Gemeinschaft.
Dummerweise gefallen nicht allen dieselben Farben. Aber wenn wir der Gnade Christi in unserer Gemeinschaft gerecht werden wollen, müssen wir alle Farben akzeptieren. Das verlangt vom Einzelnen manchmal Zurückhaltung, vielleicht sogar Demut. Und es verlangt die Grosszügigkeit, die Geschwister in ihrer Andersartigkeit zu respektieren, zu lieben und zu unterstützen.
Bekannt ist aus der Gemeinde in Korinth: Es bildeten sich Fan-Gruppen der verschiedenen Apostel. Deren Verhältnis wurde spannungsvoll. Paulus ermahnte alle Christen in Korinth, sich nicht gegeneinander abzugrenzen. Vielmehr sollten sie in der Ausrichtung auf Christus das Gemeinsame und Verbindende suchen und finden.
Bekannt ist aus der Gemeinde in Rom: Es gab ‘Starke‘ und ‚Schwache ‘im Blick auf den Umgang mit Fleisch. Das Fleisch auf dem Markt stammte nämlich häufig von Tieren, die zuvor in heidnischen Tempeln den römischen Göttern geopfert worden war. Die einen Christen vertrauten nun darauf, dass Christus stärker sei und der Genuss solchen Fleisches ihnen nichts anhaben könne. Andere aber verzichteten lieber auf Fleisch. Sie wollten ihren Glauben nicht gefährden und sicher nicht das Gebot ‚du sollst keine anderen Götter haben neben mir‘ verletzen. – Paulus entscheidet nicht, wer recht hat und wer nicht. Sondern er ruft zu einem grosszügigen Umgang miteinander auf. Jeder und jede dürfe, ja müsse auf die Stimme des Gewissens hören.
Ein drittes Beispiel aus der Bibel: Petrus hat Jesus einmal gefragt, wie oft er seinem Bruder vergeben müsse. Er meinte, grosszügig zu sein und schlug vor: sieben Mal. Doch Jesus sagte: 77 oder gar 7 mal 70mal (die Übersetzung ist nicht ganz eindeutig) und meinte damit: unendlich oft.
Eine grosszügige Gemeinschaft zu leben ist anspruchsvoll, weil wir leider immer wieder zum Motto tendieren: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Im Reich Gottes aber geht das anders, nämlich: Vertrauen ist alles, Kontrolle macht alles kaputt.
Befähigend: Kommen wir noch ganz kurz zur verheissungsvollsten Seite der Gnade und der Gemeinschaft. Sie ermächtigt, bevollmächtigt oder eben: befähigt uns. – Vielleicht ist das später mal eine ganze eigene Predigt wert. Für heute nur noch dies. Gerade in dieser Hinsicht können wir noch viel lernen. Sinn und Ziel ist jedenfalls: Dass die Gemeinschaft uns Kraft und Rückenwind gibt, um an unserem Platz ZeugInnen Christi zu sein. Es ist wichtig, dass wir einander ermutigen und motivieren. Dass wir einander evtl. auch ausbilden. Oder jedenfalls einander zuhören, um gegenseitig von gemachten Erfahrungen zu lernen. – Wir sollen und wollen einander helfen, so einladend und überzeugend wie nur möglich als Kinder Gottes zu leben.
Wir wollen eine tragend, grosszügige und befähigende Gemeinschaft bilden und leben. Mit Gottes Hilfe. Und dank Christi Gnade. Was das heisst, formuliert Manfred treffend in seinem Lied:
„Keiner, der nur immer redet; keiner, der nur immer hört. Jedes Schweigen, jedes Hören, jedes Wort hat seinen Wert.
Keiner widerspricht nur immer; keiner passt sich immer an; und wir lernen, wie man streiten und sich dennoch lieben kann.
Keiner, der nur immer jubelt; keiner, der nur immer weint. Oft schon hat uns Gott in unsrer Freude, unsrem Schmerz vereint.
Keiner trägt nur immer andre; keiner ist nur immer Last. Jedem wurde schon geholfen; jeder hat schon angefasst.
Keiner ist nur immer schwach und keiner hat für alles Kraft. Jeder kann mit Gottes Gaben das tun, was kein andrer schafft.
Keiner, der noch alles braucht, und keiner, der schon alles hat. Jeder lebt von allen andern; jeder macht die andern satt.
Eine tragende, grosszügige, befähigende Gemeinschaft sind wir oder wollen wir werden. Da kann man nur sagen: Gut, dass wir einander … und: Gut, dass wir Gott haben. Amen
Wie wunderbar, wenn eine Gemeide sich zu einer Gemeinschaft entwickelt, welche die Eigenschaften hat, die in dieser Predigt auf verständliche Weise präzisiert wurden.
Ich denke, dass unsere Gemeinde in Adliswil das Potential dazu hat sich in diese Richtung zu entwickeln. Um grosszügig zu sein bzw. zu werden in allen Belangen, haben wir es wohl am meisten nötig von Gott begleitet zu werden. Da sind wir zuweilen blind auf einem Auge und erkennen nicht, dass wir etwas eng denken oder urteilen. Daniel hat dieses „grosszügig“ sehr trefflich beschrieben. Es spielt in so viele Themen unseres Zusammenseins hinein. Ich glaube gerade „grosszügig sein“ ist wichtig, um Menschen zu befähigen. Denn nur wer weiss, dass sein Tun mit Grosszügigkeit betrachtet wird, traut sich, etwas anzupacken und mutig vorwärts zu gehen.