Gehalten am 11.02.2024 in der EMK Adliswil
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Liebe Gemeinde,
seit Jahresbeginn beschäftigen wir uns in den Gottesdiensten mit den Werten unserer Kirche/Gemeinde. Die bisher vier Predigten drehten sich um die Frage: Wie können, sollen und wollen wir Gemeinde sein? Im SLI-Prozess des BeVo haben wir als Antwort vier Werte formuliert. Nämlich, dass wir erstens ein inklusives, d.h. offenes und integrierendes Miteinander leben wollen. Zweitens soll der dreieinige Gott Mittel- und Ausgangspunkt unserer Gemeinde sein. Als Drittes wollen wir unsere Gemeinschaft tragend, grosszügig und befähigend gestalten. Und schliesslich viertens: Wir nehmen uns vor, immer wieder mutig Schritte vorwärts zu gehen.
Die Predigtreihe kommt heute zu ihrem vorläufigen Abschluss. Vorläufig, weil uns die Werte immer wieder beschäftigen sollten. Schliesslich nützen schöne Formulierungen wenig, wenn wir nicht immer wieder überprüfen, ob wir auch tatsächlich leben (umsetzen), was wir wollen.
Zum Abschluss gibt es nun nicht einen fünften Werte (obwohl es ein Leichtes wäre, noch mehr Werte zu formulieren). Sondern wir beschäftigen uns heute mit der Vision für das Leben und Glauben auf dem Gemeindebezirk. – Vision … was für eine Beziehung haben Sie zu diesem Begriff? Man könnte wohl ausgiebig streiten über die Bedeutung von Visionen. Und vermutlich ist es nicht zuletzt eine Frage des Typs, wie sehr einen Visionen ansprechen. Viele Modelle für Management und Organisationsent-wicklung unterstreichen seit langem die Bedeutung von Visionen. Das hat zu einem ziemlich inflationären Gebrauch des Wortes in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft geführt. Überall wird nach der Vision gefragt. Keine Firma, die etwas auf sich hält, keine Organisation, keine politische Partei verzichtet darauf. Allerdings: Viele mit grossem Brimborium vorgestellte Visionen bewirken allerdings herzlich wenig. Die Erfahrung zeigt, dass Ihre Halbwertszeit oft kurz ist. In Firmen und Organisation stiften sie zudem manchmal Chaos, wenn sie mit (womöglich nicht zu Ende gedachten) Reorganisationen verknüpft sind. Wenn man noch auf die kirchliche Seite schauen will, lässt sich sagen: Vision klingt hier für viele schwärmerisch, frömmlerisch und wenig hilfreich. – Man kann also viele Vorbehalte gegen Visionen ins Feld führen. Das führt letztlich zur Frage:
Brauchen wir als Kirche/Gemeinde denn eine Vision? – Ich bin tatsächlich selbst hin- und hergerissen, ob ‚Vision‘ das richtige Wort ist für das, was wir brauchen. Der Begriff ist etwas belastet und deshalb vielleicht nicht das Gelbe vom Ei. Was wir aber sicher brauchen, ist Folgendes: Eine klare Sicht dafür, in welche Richtung wir gehen und was wir als Kirche/Gemeinde bewirken wollen. Wenn wir diese Sicht haben und formulieren können, dann hilft das zur Orientierung. Dann wächst auch die Überzeugung für das, was wir als Kirche/Gemeinde tun. Dann sind/bleiben wir authentisch, glaubwürdig. Ja, dank der klaren Sicht könnte sogar neue Begeisterung wachsen für die Gemeinde/Kirche. – Ausserdem ist zu bedenken: Visionen und Träume spielen in der Bibel eine grosse Rolle. Propheten und Apostel zum Beispiel waren grosse Visionäre. Und wem hat Gott in der Bibel nicht alles mit Träumen geholfen, klarer zu sehen: Abraham, Jakob, dem atl. Josef, Daniel, dem ntl. Josef, Paulus …. Es kann also auch vom biblischen Hintergrund her nicht verkehrt sein, sich mit der Vision zu beschäftigen.
Was aber ist unsere Vision? Was ist unsere Sicht für das, was Gemeinde/Kirche bewirken soll? Nachdem wir uns bei den Werten um das Wie gekümmert haben, geht es jetzt um das Was.
Ich beginne mit dem grossen Rahmen: Die globalen biblischen Visionen, also gewissermassen die Vision Gottes für seine Welt beschreibt Folgendes: Eines Tages werden alle Menschen und Geschöpfe sich an Gott orientieren. Sie werden den Gott Israels anerkennen und ehren. In der Zuwendung zu ihm erleben alle Heil, finden Frieden und erkennen Sinn im Leben. Lesen sie dazu z.B. die Vision von der Völkerwallfahrt nach Zion in Jesaja,2,1–5. Alle werden sich von der guten Botschaft Gottes (® Evangelium) ansprechen lassen. Der Wille Gottes wird zum guten Gesetz für alle werden.
Im NT wird das z.B. im sogenannten Missionsbefehl (vgl. Mt 28,18ff) konkretisiert. Die Johannesoffenbarung schliesslich fasst alles ins paradiesische Bild vom neuen Jerusalem (vgl. Offb 21,1ff).
Dreh- und Angelpunkt all dieser biblischen Visionen ist: Die Liebe Gottes zu allen Menschen, wie sie sich im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi gezeigt hat. Gottes Liebe wird sich in der ganzen Schöpfung in allen denkbaren Dimensionen verwirklichen.
Wollten wir das zur Vision unserer Kirche/Gemeinde erklären, würden wir uns heillos überfordern. Wir können nicht die ganze Welt retten. Es wäre auch vermessen, würden wir uns als Gemeinde/Kirche zutrauen, diese umfassende Vision Gottes für die ganze Schöpfung zu verwirklichen. Unsere Welten, die wir beeinflussen können, sind doch deutlich kleiner. Unsere Kraft und unser Einfluss sind bescheidener. ABER: Wir können dennoch nicht weniger wollen, als dazu beizutragen, dass sich Gottes Liebe weltweit, schöpfungsweit verwirklicht. Es muss uns darum gehen, dass Menschen diese Liebe Gottes persönlich erfahren. Und dass sie dadurch bereit und fähig werden, diese Liebe Gottes selbst zu leben und mit anderen zu teilen. Damit sind wir bei der Formulierung gelandet, die wir im SLI-Prozess für unsere Vision gewählt haben: Gottes Liebe erfahren und leben. Das sollen unsere Veranstaltungen bewirken. Dazu sollen unsere Begegnungen und unsere Gemeinschaft beitragen. Was wir als einzelne wie als Gemeinde tun, denken und sagen, soll dazu helfen, dass Menschen (auch wir selbst) Gottes Liebe erfahren und leben.
Im Wort ‚erfahren‘ steckt übrigens viel der methodistischen DNA. Schon John Wesley war es wichtig, dass Glaube sich nicht nur in korrekten (Lehr-)Sätzen äussert. Die richtigen Sätze haben wir ja wohl alle drauf. Aber es muss eben auch erfahrbar sein, es muss sich im Leben bestätigen, dass sie wahr sind. Und darum geht es nicht nur um den Glauben an die Liebe Gottes, sondern um die Erfahrung dieser Liebe.
Aber auch mit der Erfahrung ist es noch nicht getan. Die Liebe Gottes ist nicht dazu da, um gehortet zu werden. Sondern sie muss weitergehen. Von uns zu unseren Mitmenschen. Sie muss gelebt werden. Im Wort ‚leben‘ steckt das Liebesgebot, aber auch der Missionsauftrag. Die Erfahrung der Liebe Gottes will mit anderen geteilt werden. Erst dann kommt sie ganz zur Erfüllung.
Das also ist unsere Vision: Dass durch unsere Gemeinde, dank unserer Kirche Menschen die Liebe Gottes erfahren und sie zu leben beginnen. – Wie wird diese Vision Wirklichkeit? Da liesse sich jetzt wunderbar im Kreis herum argumentieren und sagen: Indem wir unsere Werte leben. Und die Werte haben wir wegen der Vision.
So wird uns aber höchstens schwindlig. Darum versuche ich es anders: Vor einer Woche haben wir in der Schriftlesung aus Apostelgeschichte 4 gehört. Petrus und Johannes mussten sich vor Gericht verantworten, weil sie einen Gelähmten im Namen Christi geheilt hatten. Die Richter wollten dem Evangelium den Rückenwind nehmen, konnten die Heilung aber nicht leugnen. Also griffen sie zur Einschüchterung und versuchten die Apostel mit Drohungen davon abzuhalten, weiter zu predigen. Damit waren sie aber an die Falschen geraten. Die beiden antworteten: „Entscheidet selbst: Ist es vor Gott recht, euch mehr zu gehorchen als ihm? Wir können doch nicht verschweigen, was wir gesehen und gehört haben.« (Apg 4,19f) In der Luther-Bibel heisst es schön: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden …!“ Was die Apostel erfahren haben, nämlich die Liebe Gottes in Jesus Christus, drängt ins Leben. Sie können es nicht lassen, sie müssen es weitergeben, teilen, leben …
Ist das bei uns auch so? Oft wohl gerade nicht! Wieso eigentlich? Warum können wir es oft sehr gut lassen, von Gottes Liebe zu reden? Liegt es an der Formulierung? Fehlen uns die Worte, um es heute verständlich auszudrücken? Oder erleben wir Gottes Liebe zu wenig? Vielleicht haben wir uns auch zu sehr an das Evangelium von Jesus Christus gewöhnt. Diese Erfahrung gibt es ja: auch die tollste Schlagzeile klingt beim zweiten Mal schon weniger aufregend. Spätestens beim zehnten Mal sogar ziemlich gewöhnlich …
Ich glaube, es hat tatsächlich mit Gewöhnung zu tun. Was man kennt, wird irgendwann normal. Dann reisst es einen nicht mehr vom Hocker. Man ‚versorgt‘ es ins Archiv. Dann muss man auch nicht mehr davon reden, sondern kann es ganz gut auch sein lassen.
Was hilft da? – Die Erfahrung nicht im Archiv verstauen, sondern beim ‚Aktuellen‘ behalten. Man kann die Erinnerung wach und lebendig halten. Indem man sie nicht in einer Schublade verstaut. Sondern miteinander darüber redet. Es sich immer wieder bewusst machen, was uns mit Gottes Liebe geschenkt ist. Sich immer wieder daran erinnern, was sie für uns bedeutet. Immer wieder neu und anders formulieren, was es wert ist, dass wir von Gott geliebt, respektiert, angenommen sind. Die Wirklichkeit nach neuen Erfahrungen scannen, in denen Gottes Liebe durchscheint. Sich an Momente erinnern, in denen uns auf eine besondere Art bewusst wurde, dass Gott uns liebt.
Wann und wie haben Sie die Liebe Gottes erfahren? Vielleicht zum ersten Mal. Vielleicht so, dass es Ihnen neu eingefahren ist, Sie neu berührt und bewegt hat. Versuchen Sie sich daran zu erinnern! – Wann und wie haben Sie die Liebe Gottes erfahren? Ich lasse einen Moment Stille zum Überlegen.
Stille
Manchmal erlebe ich nach einem Gottesdienst solche Momente. Interessanterweise eher dann, wenn ich selbst mit meiner Leistung auf der Kanzel unzufrieden bin. Wenn ich den Eindruck habe, mich in frommen Floskeln verloren und um den heissen Brei herumgeredet zu haben. Da kommt jemand auf mich zu und sagt: „Was Du heute gesagt hat, das hat mir richtig geholfen. Es war, als würde Gott selbst zu mir reden. Danke. Jetzt kann ich mit Rückenwind in die neue Woche starten.“ – Manchmal verwendet Gottes Liebe gerade meine gefühlt unpassenden Formulierungen, um das Herz anderer zu berühren. Was für ein Geschenk! Was für eine Erfahrung der Liebe Gottes auch für mich!
Wir wünschen uns, dass die Erfahrung von Gottes Liebe unser Herz immer wieder berührt. Wir wollen uns nicht an das Unvergleichliche gewöhnen, dass er uns schenkt. Dafür ist es wichtig, dass wir entsprechende Erfahrungen miteinander teilen. Das braucht vielleicht manchmal etwas Mut. Sicher braucht es Übung/Training. Und manchmal auch etwas Disziplin. Damit wir z.B. beim Kirchenkaffee nicht gleich abdriften. Und dann empören wir uns nur zusammen empören über den lausigen Kundendienst von Sunrise, Swisscom oder Salt … oder was auch immer gerade der Aufreger ist. Vielleicht müssen wir es neu lernen oder uns mindestens neu angewöhnen. Aber es lohnt sich, einander davon zu erzählen, was wir mit Gott erleben haben. Wagen wir das doch immer wieder. Und lassen wir uns nicht abschrecken, wenn wir merken, dass wir dafür erst eine Sprache finden müssen und vielleicht um Worte ringen.
Wir haben vom SLI her begonnen, von Himmelreichs- oder Hoffnungsmomenten zu reden. Vielleicht würden sie das lieber ganz anders benennen. Das geht. Fühlen Sie sich frei. Aber es ist wichtig, dass wir miteinander teilen, wie wir Gottes Liebe erleben. Denn das führt früher oder später dazu, dass wir diese Liebe Gottes auch leben und teilen. Und irgendwann auch sagen können: Wir können es ja gar nicht lassen …!
Für manche unter uns sind vielleicht Worte, also präzise Formulierungen, nicht der beste Weg. Sie denken vielleicht nicht so gern in Begriffen wie ich. Sondern eher in und mit Bildern. Das ist auch eine Möglichkeit. Wir müssen nicht darüber debattieren, ob die Formulierung ‚Gottes Liebe erfahren und leben‘ perfekt ist. Und könnten dafür versuchen, die Vision mit Bildern zu illustrieren. Wie sieht das denn aus? Wir wünschen uns, dass Menschen die Liebe Gottes erfahren und leben. Das ist ja eine ziemlich trockene Formulierung. Aber wir könnten sie mit Bildern füllen. Wie könnte es aussehen, wenn wir in der Gemeinde Gottes Liebe erfahren und leben?
Im SLI haben wir das versucht und Bilder gesammelt: Antje hat ein Bild mitgebracht von einem üppigen Garten voller Quellen, Pflanzen und Früchte. Überall hatte es ganz unterschiedliche Menschen, die miteinander assen und den Garten genossen. Mir selbst geht immer noch das Bild vom Liebesbrief Gottes nach: Wir möchten als Gemeinde ein Liebesbrief Gottes an die Menschen um uns herum sein. – Und Barbara hat gleich selbst ein Bild gemalt. Aber das erklärt Sie ihnen am besten selber.
Fallen Ihnen auch Bilder/Vergleiche ein? Wie könnte es aussehen, womit kann man es vergleichen, wenn die Liebe Gottes in der Gemeinde erfahren und gelebt wird? Ich schweige noch einmal ein paar Augenblicke, damit Sie sich das überlegen können.
Stille
Zum Abschluss: In der atl. Schriftlesung haben wir gehört, dass Gottes Gedanken höher sind als unsere. Grösser. Mehr. Reichhaltiger. Vielschichtiger. – Das finde ich sehr motivierend. Wenn wir den Eindruck haben sollten, wir täten uns schwer, Gottes Liebe zu erfahren und davon zu reden: Wir können hoffen und darauf vertrauen, dass noch mehr kommt. Seine Liebe will uns reich beschenken.
Und was können wir tun? – Die Jahreslosung sagt: „Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe!“ Und in der ntl. Lesung aus dem 1. Jh haben wir gehört: ‚Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“
Ich glaube, das ist das ‚Rezept‘ (wenn Sie mir dieses Wort ausnahmsweise erlauben). In der Liebe bleiben. D.h. dankbar sein für Gottes Liebe zu uns. Und uns für die Menschen entscheiden. Immer wieder. Liebe ist ja in der Bibel weniger ein Gefühl als immer wieder die engagierte Entscheidung für einen Menschen.
In der Liebe bleiben. Wenn uns das gelingt – und dank Gottes Liebe kann und wird es das — ‚dann werden immer wieder Menschen bei uns die Liebe Gottes erfahren und anfangen, sie zu leben, d.h. an andere weiterzugeben. Und nicht zuletzt wird sich in unserer Erfahrung immer wieder bestätigen: Gott ist mit uns. Er steht zu uns. Er liebt uns. Egal, was kommt und wie es aussieht. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ Amen