Gehalten am 17.03.2024 in der EMK Adliswil
Copyright: Bildersaal EMK
Liebe Gemeinde,
ganz am Anfang haben wir gehört: „Seid bescheiden und achtet den Bruder/die Schwester mehr als euch selbst“. Wir haben gesungen: „Dient freudig dem Herrn!“ Was wir aber in unserer Zeit sehen, hören und lesen, ist etwas ganz anderes: Gedient wird, wenn überhaupt, dem Profit, der Macht, dem eigenen Vorteil. Bescheidenheit ist nicht in. Man präsentiert sich: Gross, stark, schön, cool. Man will gross herauskommen. Reich werden, auch auf Kosten anderer. Macht und Einfluss haben und ausüben. Wer die Hebel der Macht erreicht, lässt sie nicht mehr los und nutzt sie für eigene Ziele. Koste es, was es wolle. – Kein Wunder, dass von Gefährdung der Demokratie die Rede ist. Populisten geben sich zwar demokratisch, verfolgen aber ihre Ziele … und nicht die des Volkes, in dessen Namen sie angeblich reden. Die Tendenz zu autokratischen Regierungsformen wird immer stärker. Militär- und Polizeibudgets werden rund um den Globus massiv aufgestockt, angeblich im Namen der Sicherheit, oft aber, um die Mächtigen zu stützen. Das Recht des Stärkeren scheint kaum mehr hinterfragt zu sein. Es gilt militärisch, politisch, wirtschaftlich: Wer die Macht hat, diktiert und gewinnt. – Das macht mir Sorgen. In was für einer Welt leben wir denn?
Was sagt Jesus dazu? In Mk 10,42 heisst es: »Ihr wisst: Diejenigen, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken die Menschen, über die sie herrschen. Und ihre Machthaber missbrauchen ihre Macht.« — Wie treffend und aktuell ist diese Analyse! Als wäre sie gestern geschrieben und nicht vor 2000 Jahren gesagt.
Damals, zur Zeit Jesu, war es eh klar: An Demokratie bzw. Dienst am Volk dachte niemand. Ob in Babylonien, Persien oder Rom: Die Herrscher regierten autokratisch. Kaiser und Könige verstanden sich als Stellvertreter Gottes auf Erden. Auch Griechenland hatte nicht wirklich eine Demokratie. – Ist das heute wirklich grundlegend anders? Von Demokratie wird zwar viel geredet. Aber viele ‚im Volk‘ haben den Eindruck, je länger je weniger gehört zu werden. Nichts zu sagen zu haben. Verbreitet wird empfunden: ‚Die da oben machen eh, was sie wollen und ihnen in die Hände spielt.‘ Sollte dieses Empfinden stimmen, wären wir kaum weiter als vor 2000 Jahren. Und man müsste sich fragen: Haben wir denn gar nichts gelernt aus den dunklen Kapiteln der Geschichte? Ich lese nun den ganzen Predigttext aus Markus 10,35–45
Man kann es kaum glauben. Jesus hatte es dreimal sehr deutlich gesagt: Ihm stehe kein Triumphzug bevor, sondern Leiden und der Tod. Er gehe nicht den Weg der Macht, sondern den der Ohnmacht. Trotzdem hatten die Jünger darüber gestritten, wer von ihnen den höchsten Rang bekleide. Das hatte Jesus gestoppt, indem er erklärte: „Wenn jemand der Erste sein will, dann soll er der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35) – Und jetzt doch diese Geschichte! Jakobus und Johannes wollen, erwarten, dass Jesus ihre Bitte erfüllt. Sie wollen in der Herrlichkeit auf den Ehrenplätzen links und rechts von Jesus sitzen. Sie geben die Karrieristen, wie sie im Buch stehen. An die zehn anderen denken sie nicht. Und sie haben offenbar auch nicht begriffen, was Jesus meint, als er sagte: „Viele Erste aber werden Letzte sein und Letzte Erste.“ (Mk 9,31). Oder sie haben es schlicht überhört. Und erwarten, dass Jesus für sie tut, worum sie ihn bitten. Er hatte doch selbst einmal gesagt: „Bittet, so wird euch gegeben!?“ – Also: Nur wer wagt, gewinnt! Jakobus und Johannes verlangen: „Lass uns links und rechts von Dir sitzen!“
Erstaunlich geduldig fragt Jesus die Brüder: „Könnt ihr denn meinen Leidensweg mitgehen?“ Und sie antworten, vielleicht im Überschwang begeisterter Fans: ‚Ja, können wir!‘ — „Yes, we can!“ — „Wir schaffen das!“ — Was sind denn das für Allmachtsphantasien! Jesu Antwort fällt freilich ernüchternd aus: „Tatsächlich. Ihr werdet meinen Weg in Schande, in Ohnmacht und Verzweiflung mitgehen. Aber über die Plätze im Himmel kann ich nicht verfügen.“
Später geht die Geschichte so weiter. Jesus nimmt Jakobus und Johannes, dazu noch Petrus, mit in den Garten Gethsemane. Er hofft dort auf ihre Unterstützung in grösster Anfechtung. Doch die Nähe der Drei ist keine Hilfe. Sie verschlafen, wie sich Jesus dazu durchringt, den Weg des Leidens anzunehmen. – Soviel zu: ‚Ja, wir können deinen Leidensweg mitgehen.‘
Es ist eine Sache, Jesus Solidarität in seinem Leiden zu versprechen. Aus der Begeisterung für seine Sache und vielleicht auch aus der Hoffnung auf Belohnung kann das schon mal passieren. Es ist aber eine ganz andere Sache, Gottes Zorn über die Sünde der Welt und Taufe der völligen Lebenshingabe auch zu verkraften. Es geht ja dabei nicht (nur) um Sühne für eigene Schuld. Sondern es geht um stellvertretendes Leiden. Es geht um die letzte Konsequenz gewaltfreien Widerstands gegen die Strukturen dieser Welt. Das überfordert Menschen. Johannes und Jakobus überschätzen sich gewaltig.
Allerdings, so anmassend ihr Wunsch, sich Plätze neben Jesus in der Herrlichkeit zu reservieren, auch sein mag. Er ist doch eigentlich typisch menschlich. Ich kann den Wunsch, vorwärts zu kommen, nachvollziehen. Dass man sich ein Karriereziel setzt. Und auch, dass sie dabei nicht an die anderen denken. Ich kenne die heimliche Hoffnung auf persönliche Vorteile. Ich kenne auch die Versuchung, im Überschwang, grosse Töne zu spucken, an denen man dann später kläglich scheitert. Oft geben uns ja schon viel kleinere Stressfaktoren den Rest. – Ich muss zugeben: In Jakobus und Johannes spiegelt sich mehr von mir, als mir lieb ist.
A propos Stress: Den kriegten Johannes und Jakobus mit den anderen zehn Jüngern. Offensichtlich nicht zum ersten Mal. ‚Typisch Donnersöhne!‘, so tönte es. ‚Die wollen sich ihren Platz im Geschichtsbuch sichern! Halten sich wohl für etwas Besseres!‘ — Und schon beginnt – immer wieder die Wurzel des Elends — das Gerangel unter den ‚Alpha-Männchen‘. Jesus muss eingreifen, weil keiner das Entscheidende begriffen hat. Er sagt: „Ihr wisst: Diejenigen, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken die Menschen, über die sie herrschen. Und ihre Machthaber missbrauchen ihre Macht. Aber bei euch ist das nicht so: Sondern wer von euch groß sein will, soll den anderen dienen. Und wer von euch der Erste sein will, soll der Diener von allen sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen. Im Gegenteil: Er ist gekommen, um anderen zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele Menschen.«
Jesus sieht ganz klar. Die Welt ist von Macht- und Gewaltstrukturen durchsetzt. Das ist bis heute so. Selbst in Europa, wo wir im weltweiten Vergleich diesbezüglich sozusagen auf einer Insel der Seligen leben. Aber auch bei uns wird Macht rücksichtslos eingesetzt. Man mag vielleicht darüber streiten, welche Eliten das Sagen haben: Wirtschaft? Sport? Politik? Jedenfalls ist die Erfahrung: Wer für Ordnungen kämpft, die vielen zugute kommen, die Ungleichheiten vermindern, die dem Klima und der Schöpfung nützen, muss mit grossem Widerstand rechnen. Eliten geben ihre Profite und Vorteile nicht kampflos auf. Gewinnmaximierung scheint das oberste Gebot unserer Zeit. Dafür geht man, wenn es sich nicht vermeiden lässt, auch über Leichen. Papst Franziskus hat schon 2015 festgestellt: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Enzyklika Laudato Si). Und auch ausserhalb der Wirtschaft ist es ähnlich.
Dabei ist der Widerstand oft klein. Die Schwierigkeit, über die in den westlichen Demokratien viele stolpern, ist: Wir sehen oder ahnen zwar manche Zusammenhänge. Wir wollen aber unseren eigenen Wohlstand nicht gefährden. Und so haben die Macht- und Profitversessenen oft leichtes Spiel …
Jesu Rat dagegen heisst: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener!“ In seinem Reich werden Herrschaftsstrukturen auf den Kopf gestellt. Man kann gar nicht genug betonen und unterstreichen, wie sehr Jesus in unserem Predigttext, vor allem aber mit dem Weg der Passion, den er gegangen ist, die Machtstrukturen der Welt radikal in Frage stellt und revolutioniert. Statt Herrschaft Dienst, statt Gewalt Fürsorge, statt Selbstanmassung Förderung von Gaben und Begabungen, statt Ego-Trips Solidarität. – Nicht, dass es das auf der Welt nicht auch gäbe. Oft im Verborgenen. Manchmal auch sichtbar. In sozialen und medizinischen Berufen, in Schulen, auch im Journalismus dienen viele engagiert der menschlichen Gemeinschaft. Auch in kirchlichen Einrichtungen wie Hilfswerken, in Mission und Diakonie (‚Connexio‘), auch in vielen Kirchgemeinden geschieht viel echter Dienst an der Gemeinschaft. Es kommt sogar vor, dass im Geiste der Worte Jesu gearbeitet wird, ohne dass dies benannt wird. Z.B. wenn in Katastrophen und Krisen die Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung Berge zu versetzen vermag. Es ist durchaus nicht so, dass Jesu Herrschaftsstrukturen, dass die Werte seines Reiches unbeachtet bleiben. Aber sie dürften viel häufiger das Kriterium sein. Deutlicher gefordert, selbstverständlicher gelebt werden.
Wie kommen wir da hin? – Die Antwort des Glaubens lautet: Indem wir Jesus nachfolgen. Indem wir seinen Weg mitgehen. Indem wir ‚dienen‘ und nicht ‚herrschen‘. Indem wir, u.a. in der Kirche/Gemeinde, bewusst ein Gegenmodell leben zu den Herrschaftsstrukturen der ‚Welt‘. Indem wir im Miteinander die Werte Jesu und seines Reiches umsetzen.
Das ist leicht gesagt. Aber schwierig umzusetzen und durchzuhalten. Jakobus und Johannes sind uns mit ihrem Beispiel eine ernste Warnung, wie leicht man dabei in Stolpern gerät. Jesus sagt auch uns: „Bei euch soll es anders sein. Kopiert nicht das Modell der Mächtigen eurer Zeit. Orientiert euch am Prinzip des Reiches Gottes, das da heisst: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller.“ Das ist mein Weg, sagt Jesus. Wenn ihr mit mir gehen wollt, geht auch ihr diesen Weg. Lernt: Echte Freiheit bedeutet, frei zu sein von der Angst um sich selbst. Keine Sorgen mehr um die Karriere, um den eigenen Einfluss, die eigene Macht. Lasst solche Sorgen los! Werdet frei für die Bedürfnisse und Sehnsüchte eurer Mitmenschen, für die Anliegen Gottes. Das ist echte Freiheit! Wenn ich von mir selbst absehe und mich ganz auf Gott verlasse! Wenn ich nicht mehr gefangen bin von der Sorge um meine Stellung! Wenn ich darauf vertrauen kann, dass für mich gesorgt ist. Das ist der Weg, der zum Reich Gottes führt: Heute schon so zu leben, wie die Menschen einst zusammen und mit Gott leben werden. Nicht gegeneinander, sondern radikal miteinander und füreinander.
So hat es Jesus gehalten und gemacht. So ist er seinen Weg gegangen. Er ist dabei geblieben, als dieser Weg ihn ans Kreuz führte. — Doch Gott hat Christi Weg nicht dort enden lassen. Und so wurde Jesu Weg tatsächlich zum Durchbruch des Lebens und zur Erlösung für viele. — Im bewaffneten Kampf wollten die Jünger schon bei der Gefangennahme Jesu das durchsetzen, was man Christentum nennen könnte. Viele nach ihnen wollten dasselbe und taten es nicht selten auch. Menschen, die sich Christen nannten, gingen den Weg der Macht, kamen auch zu Einfluss und Ruhm … und gerieten doch gründlich neben die Spur, die Christus gelegt hat.
Jesus macht nämlich klar: Nur der andere Weg führt zum Ziel — der Weg der Nachfolge Jesu, der Orientierung an seinem Beispiel und Vorbild. Das ist der Weg, auf dem man im Namen Christi konsequent liebevoll und gewaltlos handelt, egal wieviel das kosten mag. Auch dieser Weg führt in Kämpfe und erfordert jede Menge Tapferkeit und Mut. — Geht diesen Weg! So fordert Jesus mit seinen Jüngern auch uns auf. Engagiert Euch für den Aufbau einer anderen, ganz neuen Gemeinschaft, in der Liebe und gegenseitiger Respekt die Leitwerte sind. Geht und lebt den Weg des Friedens, den Jesus selbst vorgezeichnet, vorgelebt hat. „Wer von euch gross sein will, soll den anderen dienen. Und wer von euch der Erste sein will, soll der Sklave von allen sein.“
Zum Schluss eine Anekdote von Leonard Bernstein (1918–1990), bekannter amerikanischer Komponist und Dirigent: In einem Interview wurde er gefragt: “Welches Instrument wird im Symphonieorchester am wenigsten gern gespielt?” — Verschmitzt lächelnd antwortete der Meister, ohne zu zögern: “Die zweite Geige. Jeder möchte furchtbar gern die erste Geige spielen, und es gibt nur wenige, welche die gleiche Begeisterung und das gleiche Interesse für die zweite Geige aufbringen. Alle streben nur nach der Stellung des ersten Geigers, und nur wenige verstehen, wie wichtig der zweite Geiger ist. Die berühmtesten Orchester der Welt sind die, welche die besten zweiten Geiger haben — denn alle Orchester haben ausgezeichnete erste Geiger. Doch ohne die zweite Geige gibt es keine Harmonie!“
Ich glaube, man kann es auch so sagen: Jesus nachfolgen heisst, mit grossem Engagement und Enthusiasmus die zweite Geige zu spielen. Amen