Vom Herrschen und vom Dienen

Markus 10,35–45

Gehal­ten am 17.03.2024 in der EMK Adliswil

Copy­right: Bilder­saal EMK

Liebe Gemeinde,

ganz am Anfang haben wir gehört: „Seid beschei­den und achtet den Bruder/die Schwest­er mehr als euch selb­st“. Wir haben gesun­gen: „Dient freudig dem Her­rn!“ Was wir aber in unser­er Zeit sehen, hören und lesen, ist etwas ganz anderes: Gedi­ent wird, wenn über­haupt, dem Prof­it, der Macht, dem eige­nen Vorteil. Beschei­den­heit ist nicht in. Man präsen­tiert sich: Gross, stark, schön, cool. Man will gross her­auskom­men. Reich wer­den, auch auf Kosten ander­er. Macht und Ein­fluss haben und ausüben. Wer die Hebel der Macht erre­icht, lässt sie nicht mehr los und nutzt sie für eigene Ziele. Koste es, was es wolle. – Kein Wun­der, dass von Gefährdung der Demokratie die Rede ist. Pop­ulis­ten geben sich zwar demokratisch, ver­fol­gen aber ihre Ziele … und nicht die des Volkes, in dessen Namen sie ange­blich reden. Die Ten­denz zu autokratis­chen Regierungs­for­men wird immer stärk­er. Mil­itär- und Polizeibud­gets wer­den rund um den Globus mas­siv aufge­stockt, ange­blich im Namen der Sicher­heit, oft aber, um die Mächti­gen zu stützen. Das Recht des Stärk­eren scheint kaum mehr hin­ter­fragt zu sein. Es gilt mil­itärisch, poli­tisch, wirtschaftlich: Wer die Macht hat, dik­tiert und gewin­nt. – Das macht mir Sor­gen. In was für ein­er Welt leben wir denn?

Was sagt Jesus dazu? In Mk 10,42 heisst es: »Ihr wisst: Diejeni­gen, die als Herrsch­er der Völk­er gel­ten, unter­drück­en die Men­schen, über die sie herrschen. Und ihre Machthaber miss­brauchen ihre Macht.« — Wie tre­f­fend und aktuell ist diese Analyse! Als wäre sie gestern geschrieben und nicht vor 2000 Jahren gesagt.
Damals, zur Zeit Jesu, war es eh klar: An Demokratie bzw. Dienst am Volk dachte nie­mand. Ob in Baby­lonien, Per­sien oder Rom: Die Herrsch­er regierten autokratisch. Kaiser und Könige ver­standen sich als Stel­lvertreter Gottes auf Erden. Auch Griechen­land hat­te nicht wirk­lich eine Demokratie. – Ist das heute wirk­lich grundle­gend anders? Von Demokratie wird zwar viel gere­det. Aber viele ‚im Volk‘ haben den Ein­druck, je länger je weniger gehört zu wer­den. Nichts zu sagen zu haben. Ver­bre­it­et wird emp­fun­den: ‚Die da oben machen eh, was sie wollen und ihnen in die Hände spielt.‘ Sollte dieses Empfind­en stim­men, wären wir kaum weit­er als vor 2000 Jahren. Und man müsste sich fra­gen: Haben wir denn gar nichts gel­ernt aus den dun­klen Kapiteln der Geschichte? Ich lese nun den ganzen Predigt­text aus Markus 10,35–45

Man kann es kaum glauben. Jesus hat­te es dreimal sehr deut­lich gesagt: Ihm ste­he kein Tri­umphzug bevor, son­dern Lei­den und der Tod. Er gehe nicht den Weg der Macht, son­dern den der Ohn­macht. Trotz­dem hat­ten die Jünger darüber gestrit­ten, wer von ihnen den höch­sten Rang bek­lei­de. Das hat­te Jesus gestoppt, indem er erk­lärte: „Wenn jemand der Erste sein will, dann soll er der Let­zte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35) – Und jet­zt doch diese Geschichte! Jakobus und Johannes wollen, erwarten, dass Jesus ihre Bitte erfüllt. Sie wollen in der Her­rlichkeit auf den Ehren­plätzen links und rechts von Jesus sitzen. Sie geben die Kar­ri­eris­ten, wie sie im Buch ste­hen. An die zehn anderen denken sie nicht. Und sie haben offen­bar auch nicht begrif­f­en, was Jesus meint, als er sagte: „Viele Erste aber wer­den Let­zte sein und Let­zte Erste.“ (Mk 9,31). Oder sie haben es schlicht über­hört. Und erwarten, dass Jesus für sie tut, worum sie ihn bit­ten. Er hat­te doch selb­st ein­mal gesagt: „Bit­tet, so wird euch gegeben!?“ – Also: Nur wer wagt, gewin­nt! Jakobus und Johannes ver­lan­gen: „Lass uns links und rechts von Dir sitzen!“
Erstaunlich geduldig fragt Jesus die Brüder: „Kön­nt ihr denn meinen Lei­densweg mit­ge­hen?“ Und sie antworten, vielle­icht im Über­schwang begeis­tert­er Fans: ‚Ja, kön­nen wir!‘ — „Yes, we can!“ — „Wir schaf­fen das!“ — Was sind denn das für All­macht­sphan­tasien! Jesu Antwort fällt freilich ernüchternd aus: „Tat­säch­lich. Ihr werdet meinen Weg in Schande, in Ohn­macht und Verzwei­flung mit­ge­hen. Aber über die Plätze im Him­mel kann ich nicht ver­fü­gen.“
Später geht die Geschichte so weit­er. Jesus nimmt Jakobus und Johannes, dazu noch Petrus, mit in den Garten Geth­se­mane. Er hofft dort auf ihre Unter­stützung in grösster Anfech­tung. Doch die Nähe der Drei ist keine Hil­fe. Sie ver­schlafen, wie sich Jesus dazu durchringt, den Weg des Lei­dens anzunehmen. – Soviel zu: ‚Ja, wir kön­nen deinen Lei­densweg mit­ge­hen.‘
Es ist eine Sache, Jesus Sol­i­dar­ität in seinem Lei­den zu ver­sprechen. Aus der Begeis­terung für seine Sache und vielle­icht auch aus der Hoff­nung auf Beloh­nung kann das schon mal passieren. Es ist aber eine ganz andere Sache, Gottes Zorn über die Sünde der Welt und Taufe der völ­li­gen Leben­shingabe auch zu verkraften. Es geht ja dabei nicht (nur) um Sühne für eigene Schuld.  Son­dern es geht um stel­lvertre­tendes Lei­den. Es geht um die let­zte Kon­se­quenz gewalt­freien Wider­stands gegen die Struk­turen dieser Welt. Das über­fordert Men­schen. Johannes und Jakobus über­schätzen sich gewaltig.

Allerd­ings, so anmassend ihr Wun­sch, sich Plätze neben Jesus in der Her­rlichkeit zu reservieren, auch sein mag. Er ist doch eigentlich typ­isch men­schlich. Ich kann den Wun­sch, vor­wärts zu kom­men, nachvol­lziehen. Dass man sich ein Kar­ri­ereziel set­zt. Und auch, dass sie dabei nicht an die anderen denken. Ich kenne die heim­liche Hoff­nung auf per­sön­liche Vorteile. Ich kenne auch die Ver­suchung, im Über­schwang, grosse Töne zu spuck­en, an denen man dann später kläglich scheit­ert. Oft geben uns ja schon viel kleinere Stress­fak­toren den Rest. – Ich muss zugeben: In Jakobus und Johannes spiegelt sich mehr von mir, als mir lieb ist.

A pro­pos Stress: Den kriegten Johannes und Jakobus mit den anderen zehn Jüngern. Offen­sichtlich nicht zum ersten Mal. ‚Typ­isch Don­ner­söhne!‘, so tönte es. ‚Die wollen sich ihren Platz im Geschichts­buch sich­ern! Hal­ten sich wohl für etwas Besseres!‘ — Und schon begin­nt – immer wieder die Wurzel des Elends — das Gerangel unter den ‚Alpha-Män­nchen‘. Jesus muss ein­greifen, weil kein­er das Entschei­dende begrif­f­en hat. Er sagt: „Ihr wisst: Diejeni­gen, die als Herrsch­er der Völk­er gel­ten, unter­drück­en die Men­schen, über die sie herrschen. Und ihre Machthaber miss­brauchen ihre Macht. Aber bei euch ist das nicht so: Son­dern wer von euch groß sein will, soll den anderen dienen. Und wer von euch der Erste sein will, soll der Diener von allen sein. Denn auch der Men­schen­sohn ist nicht gekom­men, um sich dienen zu lassen. Im Gegen­teil: Er ist gekom­men, um anderen zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele Men­schen.«
Jesus sieht ganz klar. Die Welt ist von Macht- und Gewalt­struk­turen durch­set­zt. Das ist bis heute so. Selb­st in Europa, wo wir im weltweit­en Ver­gle­ich dies­bezüglich sozusagen auf ein­er Insel der Seli­gen leben. Aber auch bei uns wird Macht rück­sicht­s­los einge­set­zt. Man mag vielle­icht darüber stre­it­en, welche Eliten das Sagen haben: Wirtschaft? Sport? Poli­tik? Jeden­falls ist die Erfahrung: Wer für Ord­nun­gen kämpft, die vie­len zugute kom­men, die Ungle­ich­heit­en ver­min­dern, die dem Kli­ma und der Schöp­fung nützen, muss mit grossem Wider­stand rech­nen. Eliten geben ihre Prof­ite und Vorteile nicht kampf­los auf. Gewin­n­max­imierung scheint das ober­ste Gebot unser­er Zeit. Dafür geht man, wenn es sich nicht ver­mei­den lässt, auch über Leichen. Papst Franziskus hat schon 2015 fest­gestellt: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Enzyk­li­ka Lauda­to Si). Und auch ausser­halb der Wirtschaft ist es ähn­lich.
Dabei ist der Wider­stand oft klein. Die Schwierigkeit, über die in den west­lichen Demokra­tien viele stolpern, ist: Wir sehen oder ahnen zwar manche Zusam­men­hänge. Wir wollen aber unseren eige­nen Wohl­stand nicht gefährden. Und so haben die Macht- und Prof­it­vers­esse­nen oft leicht­es Spiel …

Jesu Rat dage­gen heisst: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener!“ In seinem Reich wer­den Herrschaftsstruk­turen auf den Kopf gestellt. Man kann gar nicht genug beto­nen und unter­stre­ichen, wie sehr Jesus in unserem Predigt­text, vor allem aber mit dem Weg der Pas­sion, den er gegan­gen ist, die Macht­struk­turen der Welt radikal in Frage stellt und rev­o­lu­tion­iert. Statt Herrschaft Dienst, statt Gewalt Für­sorge, statt Selb­stan­mas­sung Förderung von Gaben und Begabun­gen, statt Ego-Trips Sol­i­dar­ität. – Nicht, dass es das auf der Welt nicht auch gäbe. Oft im Ver­bor­ge­nen. Manch­mal auch sicht­bar. In sozialen und medi­zinis­chen Berufen, in Schulen, auch im Jour­nal­is­mus dienen viele engagiert der men­schlichen Gemein­schaft. Auch in kirch­lichen Ein­rich­tun­gen wie Hil­f­swerken, in Mis­sion und Diakonie (‚Con­nexio‘), auch in vie­len Kirchge­mein­den geschieht viel echter Dienst an der Gemein­schaft. Es kommt sog­ar vor, dass im Geiste der Worte Jesu gear­beit­et wird, ohne dass dies benan­nt wird. Z.B. wenn in Katas­tro­phen und Krisen die Hil­fs­bere­itschaft der Zivil­bevölkerung Berge zu ver­set­zen ver­mag. Es ist dur­chaus nicht so, dass Jesu Herrschaftsstruk­turen, dass die Werte seines Reich­es unbeachtet bleiben. Aber sie dürften viel häu­figer das Kri­teri­um sein. Deut­lich­er gefordert, selb­stver­ständlich­er gelebt werden.

Wie kom­men wir da hin? – Die Antwort des Glaubens lautet: Indem wir Jesus nach­fol­gen. Indem wir seinen Weg mit­ge­hen. Indem wir ‚dienen‘ und nicht ‚herrschen‘. Indem wir, u.a. in der Kirche/Gemeinde, bewusst ein Gegen­mod­ell leben zu den Herrschaftsstruk­turen der ‚Welt‘. Indem wir im Miteinan­der die Werte Jesu und seines Reich­es umset­zen.
Das ist leicht gesagt. Aber schwierig umzuset­zen und durchzuhal­ten. Jakobus und Johannes sind uns mit ihrem Beispiel eine ern­ste War­nung, wie leicht man dabei in Stolpern gerät. Jesus sagt auch uns: „Bei euch soll es anders sein. Kopiert nicht das Mod­ell der Mächti­gen eur­er Zeit. Ori­en­tiert euch am Prinzip des Reich­es Gottes, das da heisst: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller.“ Das ist mein Weg, sagt Jesus. Wenn ihr mit mir gehen wollt, geht auch ihr diesen Weg. Lernt: Echte Frei­heit bedeutet, frei zu sein von der Angst um sich selb­st. Keine Sor­gen mehr um die Kar­riere, um den eige­nen Ein­fluss, die eigene Macht. Lasst solche Sor­gen los! Werdet frei für die Bedürfnisse und Sehn­süchte eur­er Mit­men­schen, für die Anliegen Gottes. Das ist echte Frei­heit! Wenn ich von mir selb­st abse­he und mich ganz auf Gott ver­lasse! Wenn ich nicht mehr gefan­gen bin von der Sorge um meine Stel­lung! Wenn ich darauf ver­trauen kann, dass für mich gesorgt ist. Das ist der Weg, der zum Reich Gottes führt: Heute schon so zu leben, wie die Men­schen einst zusam­men und mit Gott leben wer­den. Nicht gegeneinan­der, son­dern radikal miteinan­der und füreinan­der.
So hat es Jesus gehal­ten und gemacht. So ist er seinen Weg gegan­gen. Er ist dabei geblieben, als dieser Weg ihn ans Kreuz führte. — Doch Gott hat Christi Weg nicht dort enden lassen. Und so wurde Jesu Weg tat­säch­lich zum Durch­bruch des Lebens und zur Erlö­sung für viele. — Im bewaffneten Kampf woll­ten die Jünger schon bei der Gefan­gen­nahme Jesu das durch­set­zen, was man Chris­ten­tum nen­nen kön­nte. Viele nach ihnen woll­ten das­selbe und tat­en es nicht sel­ten auch. Men­schen, die sich Chris­ten nan­nten, gin­gen den Weg der Macht, kamen auch zu Ein­fluss und Ruhm … und geri­eten doch gründlich neben die Spur, die Chris­tus gelegt hat.
Jesus macht näm­lich klar: Nur der andere Weg führt zum Ziel —  der Weg der Nach­folge Jesu, der Ori­en­tierung an seinem Beispiel und Vor­bild. Das ist der Weg, auf dem man im Namen Christi kon­se­quent liebevoll und gewalt­los han­delt, egal wieviel das kosten mag. Auch dieser Weg führt in Kämpfe und erfordert jede Menge Tapfer­keit und Mut. — Geht diesen Weg! So fordert Jesus mit seinen Jüngern auch uns auf. Engagiert Euch für den Auf­bau ein­er anderen, ganz neuen Gemein­schaft, in der Liebe und gegen­seit­iger Respekt die Leitwerte sind. Geht und lebt den Weg des Friedens, den Jesus selb­st vorgeze­ich­net, vorgelebt hat. „Wer von euch gross sein will, soll den anderen dienen. Und wer von euch der Erste sein will, soll der Sklave von allen sein.“

Zum Schluss eine Anek­dote von Leonard Bern­stein (1918–1990), bekan­nter amerikanis­ch­er Kom­pon­ist und Diri­gent: In einem Inter­view wurde er gefragt: “Welch­es Instru­ment wird im Sym­phonieorch­ester am wenig­sten gern gespielt?” — Ver­schmitzt lächel­nd antwortete der Meis­ter, ohne zu zögern: “Die zweite Geige. Jed­er möchte furcht­bar gern die erste Geige spie­len, und es gibt nur wenige, welche die gle­iche Begeis­terung und das gle­iche Inter­esse für die zweite Geige auf­brin­gen. Alle streben nur nach der Stel­lung des ersten Geigers, und nur wenige ver­ste­hen, wie wichtig der zweite Geiger ist. Die berühmtesten Orch­ester der Welt sind die, welche die besten zweit­en Geiger haben — denn alle Orch­ester haben aus­geze­ich­nete erste Geiger. Doch ohne die zweite Geige gibt es keine Har­monie!“
Ich glaube, man kann es auch so sagen: Jesus nach­fol­gen heisst, mit grossem Engage­ment und Enthu­si­as­mus die zweite Geige zu spie­len. Amen

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