Predigt am 26.05.2024 in der EMK Adliswil
Copyright: Sammie Chaffin on unsplash.com
Liebe Gemeinde,
an der Liebe Gottes kommt man in der Kirche nicht vorbei. Manchmal könnte es einem fast zu viel werden! — Heute ja schon wieder ganz am Anfang: „Die Liebe Gottes sei mit euch allen!“ Immerhin in der Form eines Zuspruchs, einer Zusage. Und nicht als Forderung: „Liebt einander!“ – „Liebt mehr oder liebt besser!“ – Die Forderung könnte nämlich schmerzliche Erinnerungen wecken: An Momente, in denen wir anderen Liebe schuldig geblieben sind. Und an Momente, in denen andere Liebe uns gegenüber vermissen liessen und uns so verletzten.
Tja, die Liebe. Das ganze Jahr 2024 steht unter dem Motto: «Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe!» (Jahreslosung aus 1.Kor 16,14). Was für ein hoher Anspruch! Und wie traumhaft, wenn es gelingen könnte! Aber, ist das realistisch?
Der Predigttext steht heute in 1. Johannes 4,16b-21. Es ist eine Sammlung von Sätzen über die Liebe, die klingen, als wären sie in Fels gemeisselt. Zwei dieser Satze haben mich gepackt. Und zwar:
Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.
Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus
Beides wünsche ich mir sehr: In Gott bleiben. Sicher. Gewärmt. Angenommen. Geliebt. Darum fähig, mutig das Richtige zu tun und zu sagen. — Und die Angst los sein. Ganz. Gelassen vertrauen können wie Jesus, der mitten im Sturm auf dem See Genezareth ein Nickerchen machen konnte.
Doch so oft gelingt das nicht:
In Gott und in der Liebe bleiben? Wie leicht meine ich, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen! Wie schnell lasse ich mich ärgern, verletzen … falle aus der Liebe … gebe mit gleicher Münze zurück und mache mich schuldig!
Keine Angst haben? – Doch, ich habe Angst. Immer wieder. Sogar in der Kirche bzw. Gemeinde. Angst, nicht verstanden zu werden. Angst, nicht respektiert und geliebt zu werden. Angst, auf meine Schwächen und Fehler reduziert zu werden. Angst, nicht gut genug zu sein … vollkommen kann meine Liebe also bei weitem nicht sein. Sonst wäre die Angst ja weg?
Der Predigttext hat mich zwar sehr angesprochen. Aber dann bin ich schnell stecken geblieben: Wie redet man richtig über die Liebe Gottes? Ohne zu überfordern? Ermutigend? Konkret? Ohne floskel- oder formelhaft zu werden. Ohne von anderen zu verlangen, was man selbst nicht schafft. – Eine Predigt über die Liebe müsste bewirken, dass Hoffnung und Zuversicht wachsen. Dass wir Schritte aufeinander zu machen können. Dass Gottes Liebe in uns wächst und uns mehr und mehr bestimmt. Wie soll das bloss gehen? Lässt sich über diesen Text predigen?
Geholfen hat mir eine Predigt von jemand anderem. Eine ev.-luth. Pastorin hat 2010 über diesen Text gepredigt. Ich kenne sie nicht. Google hat mir ihre Predigt präsentiert. Und mich darüber informiert, dass sie früh an einer schweren Krankheit gestorben sei.
Diese Predigt habe ich dann gründlich durchbuchstabiert. Dabei ist sie zu meiner Predigt geworden. Das Ergebnis hören sie von nun an. Vorher aber lese ich den ganzen Predigttext aus 1.Johannes 4,16b-21:
„Jetzt aber schnell, wir müssen los! Ähm, kann das sein, das hier etwas riecht?“ Tja, Lea hat der Taufgesellschaft einen Strich durch die Rechnung gemacht – die Windel ist voll. Hektik kommt auf. Das Windelwechseln geht fast so schnell wie ein Reifenwechsel in der Formel 1. Und doch wird die Zeit sehr knapp. Mit fliegenden Fahnen treffen sie bei der Kirche ein. Die Mutter Silvia ist schweissgebadet und der Vater Jörg gereizt.
Als die Orgelmusik erklingt, kehrt endlich Ruhe ein. Die Augen der Eltern glänzen. Friedlich schlummert die kleine Tochter im Maxi Cosi. Alle sind gekommen zum besonderen Fest der kleinen Erdenbürgerin. „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ Der Pfarrer sagt seine Gedanken zum Taufspruch. Leas Mutter denkt an den Moment, als sie ihr Kind zum ersten Mal in den Armen hielt und Jörg die Tränen übers Gesicht rannen. Ein Moment der Vollkommenheit.
Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus? Manchmal hat Silvia das Gefühl, als wollte ihr Herz zerspringen, wenn sie auf ihre Tochter schaut. So klein und schutzbedürftig ist sie, hineingeboren in eine Welt, die viele Gefahren birgt. Das fängt schon mit der richtigen Ernährung an. Und dann erst die grossen Probleme in der Welt. Manche Nachrichten kann sie sich gar nicht anhören. Besonders, wenn Kinder an Gewalt leiden. Und wenn sie Nachrichten über einen Amoklauf hört, über Krieg und Terror. Wenn am Bildschirm die leeren Blicke Hungernder oder Flüchtender erscheinen. Und im nächsten Moment die Kamera auf einer Party der Reichen und Schönen zu Gast ist. Und jemand aus der Politik sagt ins Mikrophon, dass man sparen, den Gürtel enger schnallen müsse. Natürlich bei denen, die eh schon knapp dran sind…
Dann packt Silvia ohnmächtige Wut: In was für eine Welt wächst ihre Tochter hinein?
Was kann da Liebe ausrichten?
Dennoch: Lea soll nicht in Angst aufwachsen. Jörg und Silvia haben sich vorgenommen: Unsere Liebe und Fürsorge soll Lea stark und Mut zum Leben machen. Schliesslich sagt Gott ihr in der Taufe zu: „Du bist mein geliebtes Kind“ – Wer so geliebt wird, kann sich selbst lieben und andere auch. Der Pfarrer zeichnet mit Wasser ein Kreuz auf Leas Stirn und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Da macht die Kleine ganz grosse Augen und die Erwachsenen lächeln gerührt.
„Gott ist Liebe, in der Liebe bleiben, in Gott bleiben“– das klingt gut, findet Marco. Aber kann er den Satz wirklich als Konfirmationsspruch nehmen? Ist das nicht eher was für Mädchen? Was sagen wohl seine Kumpels dazu? Sicher wünscht er sich für sein Leben: Irgendwann einmal die grosse Liebe finden, die zu ihm gehört, Freunde haben, Erfolg natürlich auch. Vor allem aber: Glücklich sein. Und wenn Gott dabei mithilft, umso besser. Kann bestimmt nicht schaden, einen starken Verbündeten an der Seite zu haben. Oder ist das jetzt zu egoistisch gedacht? In der Kirche heisst es doch immer wieder, dass man nicht nur an sich selber denken, sondern auch Gott und Mitmenschen lieben soll. Wobei ‚lieben‘ schon etwas krass klingt. Obwohl: Nur um sich selbst kreisen, das will Marco gar nicht. Es gibt eine Arbeitsgruppe ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘. Da macht Marco mit. Anfangs zogen ihnen seine Kumpels etwas damit auf. Unterdessen fragen sie gelegentlich interessiert nach, was Marco und die anderen da eigentlich genau machen. ‚Nächstenliebe‘ wäre vielleicht ein gar grosses Wort dafür. Aber die Stimmung an der Schule hat sich verbessert.
Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder und seine Schwester liebe.
Marius Name wird aufgerufen. Mit klopfendem Herzen und schweissnassen Händen geht er nach vorne, zusammen mit seinem besten Freund Yannik. Hoffentlich geht alles gut. Bevor der Pastor ihn einsegnet, liest ein Kirchenvorsteher den Konfirmationsspruch noch einmal vor: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“
„Das soll unser Trauspruch sein!“ Für Sara ist das keine Frage, wie sie im Traugespräch sagt. Und ihrem Kevin ist es recht. Naiv sind die beiden nicht. Sie haben schon je eine zerbrochene Beziehung hinter sich. Für Sara war eine Welt zusammengebrochen, als sie erfuhr, dass ihr Freund sie mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. So war sie in ein tiefes Loch gefallen und konnte nicht mehr an eine Zukunft glauben. Aus der Liebe gefallen, hatte sie keinen festen Boden mehr unter den Füssen. Für ihren Ex und ihre ehemals beste Freundin hatte sie nur noch blanke Wut empfunden. Sie wünschte ihnen, wünschte sich, dass die beiden irgendwie die gerechte Strafe dafür einholt, was sie ihr angetan hatten. Beinahe hätte der Hass sie zerfressen. Doch nach und nach fand Sara ins Leben zurück. Dann trifft sie Kevin. Wie schön, doch noch lieben zu können und geliebt zu werden! Seit zwei Jahren leben sie jetzt schon zusammen. Immer noch haben Sie sich so viel zu sagen. Sie überraschen sich gegenseitig mit kleinen Geschenken oder kleinen Briefchen. Es hat Spass gemacht, die Wohnung einzurichten und die Hochzeit miteinander zu planen. Nie hätte Sara gedacht, wieder so fröhlich werden zu können. Alle Bitterkeit ist von ihr abgefallen. – Jetzt ist sie wieder in der Liebe.
Sara und Kevin haben sich ganz fest vorgenommen: Wir wollen in der Liebe bleiben und wünschen uns von Gott den Segen. Deswegen dieser Trauspruch, keine Frage: „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm“.
„Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm“. Dieselben Worte. Diesmal aber über der Todesanzeige einer jungen Ehefrau und Mutter von zwei Kindern. Ein tödlicher Autounfall – zurück bleibt eine verzweifelte Familie und ein erschüttertes Dorf. „Den Vers hat sie immer so gemocht“, sagt der Ehemann. Deshalb soll er das Bibelwort für die Trauerfeier sein. Dabei ist ihm die Wahrheit dieses Satzes unendlich fern. Wie kann Gott Liebe sein und gleichzeitig zulassen, dass seine Frau so jung sterben muss und seine Kinder ohne Mutter aufwachsen müssen? Es ist so sinnlos. Was ist das für ein Gott! Der junge Witwer möchte mit diesem Gott ins Gericht gehen, ihn beschimpfen, ihm seine Verachtung und seinen Schmerz ins Gesicht schleudern. „Tun Sie das!“, sagt der Pfarrer im Trauergespräch. „Gott hält Ihre Wut und Anklage aus. Er teilt Ihren Schmerz.“ Und der Seelsorger nimmt diese Gefühle und Gedanken auf im Gebet, das er zum Abschluss seines Besuches spricht. Bei der Trauerfeier ist die Kapelle überfüllt. So viele Menschen nehmen Anteil, sind traurig, können es nicht fassen.
Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm.
Wenn dieser Satz wahr ist, dann gilt er nicht nur für die schönen Übergänge des Lebens. Dann muss er auch am Sarg der jungen Frau stimmen. Nicht als schneller Trost, natürlich nicht. Aber als Lichtstrahl aus der Welt, in der der Tod nichts mehr zu sagen hat. „Wo ist Mama jetzt?“, hatte das Töchterlein gefragt. Und Ihre Grossmutter hatte geantwortet: „Sie ist beim lieben Gott und passt vom Himmel aus auf Dich auf.“
Es ist so schwer. Der Wittwer weiss noch gar nicht, wie er alles schaffen soll. Aber irgendwie tröstet es ihn, dass die Liebe bleibt… Ein kleiner Funke nur. Und doch Licht.
Über die Liebe zu reden, zu debattieren, ist schwierig. Aber wir können von der Liebe erzählen. Die Liebe schreibt Geschichten wie jene, die ich eben erzählt habe.
Die Liebe können wir nur leben. Wir können ihr Raum geben in unserem Tun! — Kritiker wenden ein: Im Privaten mag es ja stimmen. Aber in den grossen politischen Zusammenhängen braucht es Verstand und kühle Vernunft. Da ist für christliche Liebe kein Platz!
Doch: Gottes Liebe lässt sich nicht einschränken. Nicht auf das Private. Nicht auf persönlichen Glauben. Die vollkommene Liebe kennt so enge Grenzen nicht. Alles ist miteinander verbunden. Alles von Gott geschaffen. Und alles geht ihn etwas an.
Vor rund 15 Jahren hat die damalige lutherische Bischöfin Margot Käßmann den Afghanistan-Einsatz der dt. Bundeswehr öffentlich hinterfragt. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Naiv sei sie und weltfremd. Sie könne es ja mal versuchen: Lichterketten gegen den Terror, Tee trinken mit den Taliban – sie werde dann schon sehen, dass das nichts bringe.
Käßmann liess das nicht auf sich sitzen und konterte: “Ich lasse mich gern lächerlich machen, wenn Menschen mir sagen, ich sollte mich mit Taliban in ein Zelt setzen und bei Kerzenlicht beten. In der dortigen Kultur ist das durchaus eine Form, Frieden zu schliessen, jedenfalls wesentlich eher als das Bombardement von Tanklastzügen.”
Es ist ein riesiges Dilemma: Wer nur rein militärisch Frieden schaffen will, mit den besseren Waffen, mit der besseren Strategie, erreicht bestenfalls Ruhe durch Abschreckung. Aber der menschliche Aspekt geht dabei vergessen und verloren. Lieben heisst doch eigentlich: Den anderen ihre Würde zugestehen, ohne die Rechte der Schwächeren aufzugeben. Ein schwieriger Balanceakt.
Wie geht das: in der Liebe bleiben?
Es gibt keine allgemein anwendbare Regel. Man muss immer neu einzeln durchbuchstabieren, Schritt für Schritt. Klar ist: Wir sind nicht ein für alle Mal in der Liebe. Auch als Christinnen und Christen nicht. Wir müssen immer wieder darum ringen, in der Liebe zu bleiben. Manchmal dauert es lange, manchmal braucht es zähe Verhandlungen und Auseinandersetzung, mit Gott, mit den Mitmenschen, auch mit mir selbst. Und es braucht – auch eine Woche nach Pfingsten – die Kraft des Heiligen Geistes. Denn:
Immer wieder hat mich die Angst im Griff.
Immer wieder verliere ich die Mitmenschen aus dem Blick.
Mein Vertrauen in die Liebe Gottes bleibt wackelig.
Meine Liebe ist nie vollkommen: Nicht die zu Gott, nicht die zu meinem Nächsten, nicht einmal die zu mir selbst.
Aber ich kann mich in die Arme Gottes werfen. Mich in seine Hände befehlen.
Er ist die vollkommene Liebe.
Genau da ist der richtige Platz für mich. Der vollkommen richtige Platz. Da will ich bleiben. – Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Amen.