Furcht ist nicht in der Liebe

1. Johannes 4,16b-21

Predigt am 26.05.2024 in der EMK Adliswil

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Liebe Gemeinde,

an der Liebe Gottes kommt man in der Kirche nicht vor­bei. Manch­mal kön­nte es einem fast zu viel wer­den! — Heute ja schon wieder ganz am Anfang: „Die Liebe Gottes sei mit euch allen!“ Immer­hin in der Form eines Zus­pruchs, ein­er Zusage. Und nicht als Forderung: „Liebt einan­der!“„Liebt mehr oder liebt bess­er!“ – Die Forderung kön­nte näm­lich schmer­zliche Erin­nerun­gen weck­en: An Momente, in denen wir anderen Liebe schuldig geblieben sind. Und an Momente, in denen andere Liebe uns gegenüber ver­mis­sen liessen und uns so ver­let­zten.
Tja, die Liebe. Das ganze Jahr 2024 ste­ht unter dem Mot­to: «Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe!» (Jahres­lo­sung aus 1.Kor 16,14). Was für ein hoher Anspruch! Und wie traumhaft, wenn es gelin­gen kön­nte! Aber, ist das realistisch?

Der Predigt­text ste­ht heute in 1. Johannes 4,16b-21. Es ist eine Samm­lung von Sätzen über die Liebe, die klin­gen, als wären sie in Fels gemeis­selt. Zwei dieser Satze haben mich gepackt. Und zwar:
Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.
Vol­lkommene Liebe treibt die Furcht aus
Bei­des wün­sche ich mir sehr: In Gott bleiben. Sich­er. Gewärmt. Angenom­men. Geliebt. Darum fähig, mutig das Richtige zu tun und zu sagen. — Und die Angst los sein. Ganz. Gelassen ver­trauen kön­nen wie Jesus, der mit­ten im Sturm auf dem See Genezareth ein Nick­erchen machen konnte.

Doch so oft gelingt das nicht:
In Gott und in der Liebe bleiben? Wie leicht meine ich, die Dinge selb­st in die Hand nehmen zu müssen! Wie schnell lasse ich mich ärg­ern, ver­let­zen … falle aus der Liebe … gebe mit gle­ich­er Münze zurück und mache mich schuldig!
Keine Angst haben? – Doch, ich habe Angst. Immer wieder. Sog­ar in der Kirche bzw. Gemeinde. Angst, nicht ver­standen zu wer­den. Angst, nicht respek­tiert und geliebt zu wer­den. Angst, auf meine Schwächen und Fehler reduziert zu wer­den. Angst, nicht gut genug zu sein … vol­lkom­men kann meine Liebe also bei weit­em nicht sein. Son­st wäre die Angst ja weg?

Der Predigt­text hat mich zwar sehr ange­sprochen. Aber dann bin ich schnell steck­en geblieben: Wie redet man richtig über die Liebe Gottes? Ohne zu über­fordern? Ermuti­gend? Konkret? Ohne floskel- oder formel­haft zu wer­den. Ohne von anderen zu ver­lan­gen, was man selb­st nicht schafft. – Eine Predigt über die Liebe müsste bewirken, dass Hoff­nung und Zuver­sicht wach­sen. Dass wir Schritte aufeinan­der zu machen kön­nen. Dass Gottes Liebe in uns wächst und uns mehr und mehr bes­timmt. Wie soll das bloss gehen? Lässt sich über diesen Text predi­gen?
Geholfen hat mir eine Predigt von jemand anderem. Eine ev.-luth. Pas­torin hat 2010 über diesen Text gepredigt. Ich kenne sie nicht. Google hat mir ihre Predigt präsen­tiert. Und mich darüber informiert, dass sie früh an ein­er schw­eren Krankheit gestor­ben sei.
Diese Predigt habe ich dann gründlich durch­buch­sta­biert. Dabei ist sie zu mein­er Predigt gewor­den. Das Ergeb­nis hören sie von nun an. Vorher aber lese ich den ganzen Predigt­text aus 1.Johannes 4,16b-21:

1. Johannes 4,16b-21

„Jet­zt aber schnell, wir müssen los! Ähm, kann das sein, das hier etwas riecht?“ Tja, Lea hat der Taufge­sellschaft einen Strich durch die Rech­nung gemacht – die Windel ist voll. Hek­tik kommt auf. Das Windel­wech­seln geht fast so schnell wie ein Reifen­wech­sel in der Formel 1. Und doch wird die Zeit sehr knapp. Mit fliegen­den Fah­nen tre­f­fen sie bei der Kirche ein. Die Mut­ter Sil­via ist schweiss­ge­badet und der Vater Jörg gereizt.
Als die Orgel­musik erklingt, kehrt endlich Ruhe ein. Die Augen der Eltern glänzen. Friedlich schlum­mert die kleine Tochter im Maxi Cosi. Alle sind gekom­men zum beson­deren Fest der kleinen Erden­bürg­erin. „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ Der Pfar­rer sagt seine Gedanken zum Tauf­spruch. Leas Mut­ter denkt an den Moment, als sie ihr Kind zum ersten Mal in den Armen hielt und Jörg die Trä­nen übers Gesicht ran­nen. Ein Moment der Vol­lkom­men­heit.
Die vol­lkommene Liebe treibt die Furcht aus? Manch­mal hat Sil­via das Gefühl, als wollte ihr Herz zer­sprin­gen, wenn sie auf ihre Tochter schaut. So klein und schutzbedürftig ist sie, hineinge­boren in eine Welt, die viele Gefahren birgt. Das fängt schon mit der richti­gen Ernährung an. Und dann erst die grossen Prob­leme in der Welt. Manche Nachricht­en kann sie sich gar nicht anhören. Beson­ders, wenn Kinder an Gewalt lei­den. Und wenn sie Nachricht­en über einen Amok­lauf hört, über Krieg und Ter­ror. Wenn am Bild­schirm die leeren Blicke Hungern­der oder Flüch­t­en­der erscheinen. Und im näch­sten Moment die Kam­era auf ein­er Par­ty der Reichen und Schö­nen zu Gast ist. Und jemand aus der Poli­tik sagt ins Mikrophon, dass man sparen, den Gür­tel enger schnallen müsse. Natür­lich bei denen, die eh schon knapp dran sind…
Dann packt Sil­via ohn­mächtige Wut: In was für eine Welt wächst ihre Tochter hinein?
Was kann da Liebe aus­richt­en?
Den­noch: Lea soll nicht in Angst aufwach­sen. Jörg und Sil­via haben sich vorgenom­men: Unsere Liebe und Für­sorge soll Lea stark und Mut zum Leben machen. Schliesslich sagt Gott ihr in der Taufe zu: „Du bist mein geliebtes Kind“ – Wer so geliebt wird, kann sich selb­st lieben und andere auch. Der Pfar­rer zeich­net mit Wass­er ein Kreuz auf Leas Stirn und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heili­gen Geistes. Da macht die Kleine ganz grosse Augen und die Erwach­se­nen lächeln gerührt.

„Gott ist Liebe, in der Liebe bleiben, in Gott bleiben“– das klingt gut, find­et Mar­co. Aber kann er den Satz wirk­lich als Kon­fir­ma­tion­sspruch nehmen? Ist das nicht eher was für Mäd­chen? Was sagen wohl seine Kumpels dazu? Sich­er wün­scht er sich für sein Leben: Irgend­wann ein­mal die grosse Liebe find­en, die zu ihm gehört, Fre­unde haben, Erfolg natür­lich auch. Vor allem aber: Glück­lich sein. Und wenn Gott dabei mith­il­ft, umso bess­er. Kann bes­timmt nicht schaden, einen starken Ver­bün­de­ten an der Seite zu haben. Oder ist das jet­zt zu ego­is­tisch gedacht? In der Kirche heisst es doch immer wieder, dass man nicht nur an sich sel­ber denken, son­dern auch Gott und Mit­men­schen lieben soll. Wobei ‚lieben‘ schon etwas krass klingt. Obwohl: Nur um sich selb­st kreisen, das will Mar­co gar nicht. Es gibt eine Arbeits­gruppe ‚Schule ohne Ras­sis­mus – Schule mit Courage‘. Da macht Mar­co mit. Anfangs zogen ihnen seine Kumpels etwas damit auf. Unter­dessen fra­gen sie gele­gentlich inter­essiert nach, was Mar­co und die anderen da eigentlich genau machen. ‚Näch­sten­liebe‘ wäre vielle­icht ein gar gross­es Wort dafür. Aber die Stim­mung an der Schule hat sich verbessert.
Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Brud­er und seine Schwest­er liebe.
Mar­ius Name wird aufgerufen. Mit klopfen­d­em Herzen und schweiss­nassen Hän­den geht er nach vorne, zusam­men mit seinem besten Fre­und Yan­nik. Hof­fentlich geht alles gut. Bevor der Pas­tor ihn ein­seg­net, liest ein Kirchen­vorste­her den Kon­fir­ma­tion­sspruch noch ein­mal vor: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“
„Das soll unser Traus­pruch sein!“ Für Sara ist das keine Frage, wie sie im Trauge­spräch sagt. Und ihrem Kevin ist es recht. Naiv sind die bei­den nicht. Sie haben schon je eine zer­broch­ene Beziehung hin­ter sich. Für Sara war eine Welt zusam­menge­brochen, als sie erfuhr, dass ihr Fre­und sie mit ihrer besten Fre­undin bet­ro­gen hat­te. So war sie in ein tiefes Loch gefall­en und kon­nte nicht mehr an eine Zukun­ft glauben. Aus der Liebe gefall­en, hat­te sie keinen fes­ten Boden mehr unter den Füssen. Für ihren Ex und ihre ehe­mals beste Fre­undin hat­te sie nur noch blanke Wut emp­fun­den. Sie wün­schte ihnen, wün­schte sich, dass die bei­den irgend­wie die gerechte Strafe dafür ein­holt, was sie ihr ange­tan hat­ten. Beina­he hätte der Hass sie zer­fressen. Doch nach und nach fand Sara ins Leben zurück. Dann trifft sie Kevin. Wie schön, doch noch lieben zu kön­nen und geliebt zu wer­den! Seit zwei Jahren leben sie jet­zt schon zusam­men. Immer noch haben Sie sich so viel zu sagen. Sie über­raschen sich gegen­seit­ig mit kleinen Geschenken oder kleinen Briefchen. Es hat Spass gemacht, die Woh­nung einzuricht­en und die Hochzeit miteinan­der zu pla­nen. Nie hätte Sara gedacht, wieder so fröh­lich wer­den zu kön­nen. Alle Bit­terkeit ist von ihr abge­fall­en. – Jet­zt ist sie wieder in der Liebe.
Sara und Kevin haben sich ganz fest vorgenom­men: Wir wollen in der Liebe bleiben und wün­schen uns von Gott den Segen. Deswe­gen dieser Traus­pruch, keine Frage: „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm“.

„Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm“. Diesel­ben Worte. Dies­mal aber über der Tode­sanzeige ein­er jun­gen Ehe­frau und Mut­ter von zwei Kindern. Ein tödlich­er Autoun­fall – zurück bleibt eine verzweifelte Fam­i­lie und ein erschüt­tertes Dorf. „Den Vers hat sie immer so gemocht“, sagt der Ehe­mann. Deshalb soll er das Bibel­wort für die Trauer­feier sein. Dabei ist ihm die Wahrheit dieses Satzes unendlich fern. Wie kann Gott Liebe sein und gle­ichzeit­ig zulassen, dass seine Frau so jung ster­ben muss und seine Kinder ohne Mut­ter aufwach­sen müssen? Es ist so sinn­los. Was ist das für ein Gott! Der junge Witwer möchte mit diesem Gott ins Gericht gehen, ihn beschimpfen, ihm seine Ver­ach­tung und seinen Schmerz ins Gesicht schleud­ern. „Tun Sie das!“, sagt der Pfar­rer im Trauerge­spräch. „Gott hält Ihre Wut und Anklage aus. Er teilt Ihren Schmerz.“ Und der Seel­sorg­er nimmt diese Gefüh­le und Gedanken auf im Gebet, das er zum Abschluss seines Besuch­es spricht. Bei der Trauer­feier ist die Kapelle über­füllt. So viele Men­schen nehmen Anteil, sind trau­rig, kön­nen es nicht fassen.
Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm.
Wenn dieser Satz wahr ist, dann gilt er nicht nur für die schö­nen Übergänge des Lebens. Dann muss er auch am Sarg der jun­gen Frau stim­men. Nicht als schneller Trost, natür­lich nicht. Aber als Licht­strahl aus der Welt, in der der Tod nichts mehr zu sagen hat. „Wo ist Mama jet­zt?“, hat­te das Töchter­lein gefragt. Und Ihre Gross­mut­ter hat­te geant­wortet: „Sie ist beim lieben Gott und passt vom Him­mel aus auf Dich auf.“
Es ist so schw­er. Der Wit­twer weiss noch gar nicht, wie er alles schaf­fen soll. Aber irgend­wie tröstet es ihn, dass die Liebe bleibt… Ein klein­er Funke nur. Und doch Licht.

Über die Liebe zu reden, zu debat­tieren, ist schwierig. Aber wir kön­nen von der Liebe erzählen. Die Liebe schreibt Geschicht­en wie jene, die ich eben erzählt habe.
Die Liebe kön­nen wir nur leben. Wir kön­nen ihr Raum geben in unserem Tun! — Kri­tik­er wen­den ein: Im Pri­vat­en mag es ja stim­men. Aber in den grossen poli­tis­chen Zusam­men­hän­gen braucht es Ver­stand und küh­le Ver­nun­ft. Da ist für christliche Liebe kein Platz!
Doch: Gottes Liebe lässt sich nicht ein­schränken. Nicht auf das Pri­vate. Nicht auf per­sön­lichen Glauben. Die vol­lkommene Liebe ken­nt so enge Gren­zen nicht. Alles ist miteinan­der ver­bun­den. Alles von Gott geschaf­fen. Und alles geht ihn etwas an.
Vor rund 15 Jahren hat die dama­lige lutherische Bis­chöfin Mar­got Käß­mann den Afghanistan-Ein­satz der dt. Bun­deswehr öffentlich hin­ter­fragt. Die Reak­tio­nen liessen nicht lange auf sich warten. Naiv sei sie und welt­fremd. Sie könne es ja mal ver­suchen: Lichter­ket­ten gegen den Ter­ror, Tee trinken mit den Tal­iban – sie werde dann schon sehen, dass das nichts bringe.
Käß­mann liess das nicht auf sich sitzen und kon­terte: “Ich lasse mich gern lächer­lich machen, wenn Men­schen mir sagen, ich sollte mich mit Tal­iban in ein Zelt set­zen und bei Kerzen­licht beten. In der dor­ti­gen Kul­tur ist das dur­chaus eine Form, Frieden zu schliessen, jeden­falls wesentlich eher als das Bom­barde­ment von Tanklastzügen.”

Es ist ein riesiges Dilem­ma: Wer nur rein mil­itärisch Frieden schaf­fen will, mit den besseren Waf­fen, mit der besseren Strate­gie, erre­icht besten­falls Ruhe durch Abschreck­ung. Aber der men­schliche Aspekt geht dabei vergessen und ver­loren. Lieben heisst doch eigentlich: Den anderen ihre Würde zugeste­hen, ohne die Rechte der Schwächeren aufzugeben. Ein schwieriger Balanceakt.

Wie geht das: in der Liebe bleiben?
Es gibt keine all­ge­mein anwend­bare Regel. Man muss immer neu einzeln durch­buch­sta­bieren, Schritt für Schritt. Klar ist: Wir sind nicht ein für alle Mal in der Liebe. Auch als Christin­nen und Chris­ten nicht. Wir müssen immer wieder darum rin­gen, in der Liebe zu bleiben. Manch­mal dauert es lange, manch­mal braucht es zähe Ver­hand­lun­gen und Auseinan­der­set­zung, mit Gott, mit den Mit­men­schen, auch mit mir selb­st. Und es braucht – auch eine Woche nach Pfin­g­sten – die Kraft des Heili­gen Geistes. Denn:
Immer wieder hat mich die Angst im Griff.
Immer wieder ver­liere ich die Mit­men­schen aus dem Blick.
Mein Ver­trauen in die Liebe Gottes bleibt wack­e­lig.
Meine Liebe ist nie vol­lkom­men: Nicht die zu Gott, nicht die zu meinem Näch­sten, nicht ein­mal die zu mir selb­st.
Aber ich kann mich in die Arme Gottes wer­fen. Mich in seine Hände befehlen.
Er ist die vol­lkommene Liebe.
Genau da ist der richtige Platz für mich. Der vol­lkom­men richtige Platz. Da will ich bleiben.  – Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Amen.

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