Predigt am 17.11.2024 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
im Sommer habe ich einen ganzen Tag lang das Dorf Airolo erkundet. Es galt die höchste Gewitterwarnstufe. Deshalb verzichtete ich auf die geplante Wanderung durch die Leventina. Im Notfall wollte ich schnell Schutz finden können. – Es kam zwar dann gar kein Gewitter. Aber das ist eine andere Geschichte.
Airolo – das Dorf am Südportal des Gotthardpasses. Hier konnte man erstmals südliches Flair wahrnehmen. Die Bewohner*innen lebten lange gut vom Verkehr über die direkteste Nord-Süd-Achse. Das sieht man dem Dorf bis heute an.
Doch das ist Vergangenheit. Gotthardautobahn und Eisenbahn-Basistunnel schnitten Airolo vom Verkehrsfluss ab. Heute macht hier kaum mehr jemand Rast. Viele Hotels, Restaurants und Tankstellen sind geschlossen. Die Infrastruktur bröckelt vor sich hin. — Gefühlt alle 10 Schritte lese ich: ‚Vendesi‘, d.h. ‚zu verkaufen‘. Leute trifft man kaum auf der Strasse. Das Dorf wirkt depressiv. Es ist eingehüllt im Staub und Lärm der Baustelle für die 2.Gotthardröhre. Airolo wirkte auf mich, als wäre es aus der Zeit gefallen. Hat man hier die Zeichen der Zeit verkannt? Es zeichnete sich doch ab, dass der Verkehr bald an oder unter Airolo vorbei verlaufen würde. Wurde versäumt, eine neue Grundlage für die Wirtschaft zu suchen?
Der Eindruck von Airolo hat sich für mich schliesslich in einer Kodak-Leuchtreklame verdichtet: Kodak war einmal Weltmarktführer im Bereich der analogen Fotografie. Die Firma hat aber die Digitalisierung verschlafen. Der Konzern geriet darum Anfang 21.Jh in die Krise. Und Anfang 2012 wurde Insolvenz beantragt. Kodak hat die Zeichen der Zeit verkannt und ging unter. — In Airolo aber gibt es noch Werbung für Kodak!? Unter dem Pfeil ein Laden, allerdings kein Fotogeschäft mehr. Sondern verkauft werden billige Uhren und Souvenirs. Sieht nach Ladenhütern aus. Der Laden ist nur noch am Mittwoch ein paar Stunden geöffnet …. Dass darin tatsächlich noch etwas verkauft wird, kann ich mir nach einem Blick durch die Schaufenster kaum vorstellen.
Was sind ‚Zeichen der Zeit‘? Was hat es damit auf sich? Der Begriff stammt aus der Bibel bzw. aus Luthers Übersetzung der Bibel. Im Gesprächskreis haben wir am vergangenen Dienstag schon darüber geredet. Seither habe ich weiter nachgedacht. Und daraus ist diese Predigt entstanden. – Ich lese aus Lk 12,54–57:
Dann sagte Jesus zu den Leuten: »Wenn ihr seht, dass im Westen eine Wolke aufzieht, sagt ihr gleich: ›Es gibt Regen.‹ Und so kommt es auch. Und wenn der Südwind weht, sagt ihr: ›Es wird heiß.‹ Und so kommt es auch. Ihr Scheinheiligen! Das Aussehen von Erde und Himmel könnt ihr einschätzen. Wieso könnt ihr die Ereignisse dieser Zeit (hier steht bei Luther Zeichen der Zeit) nicht genauso gut einschätzen? Könnt ihr denn nicht von selbst erkennen, was Gott jetzt von euch will? Lukas 12,54–57 (Basis Bibel)
Die anschliessenden zwei Verse gehören auch noch zum Abschnitt. Sie mahnen dazu, sich mit Mitmenschen zu versöhnen, so lange noch Zeit ist. Ich habe sie jetzt nicht gelesen, weil die Pointe in V.57 liegt: «Könnt ihr denn nicht von selbst erkennen, was Gott jetzt von euch will?» — Die Zeitgenossen Jesu müssten es können. Wir wohl auch. Jesus traut es uns offensichtlich zu. Und er macht damit klar: Wer die Zeichen der Zeit lesen kann, weiss, was Gott erwartet!
Mit der Wetterprognose war das nämlich in Galiläa damals eine klare Sache: Wenn im Westen, vom Meer her, auch nur eine kleine Wolke auftauchte, konnte man darauf wetten, dass ein kräftiger Regenguss nicht lange auf sich warten lassen werde. Wenn dagegen der Wind auf Süden drehte, also aus der Wüste wehte, dann war eine kommende Hitzewelle genauso sicher. – So offensichtlich und von selbst müssten nach Jesus auch die Zeichen der Zeit zu verstehen sein.
Spannend ist ausserdem: Hinter der Übersetzung ‘Ereignisse/Zeichen dieser Zeit’ steckt das griechische Wort ‘kairoV’. Es umschreibt in biblischer Sprache den Moment von Gottes Eingreifen. – Knapp zusammengefasst sagt Jesus also: ‘So gut, wie ihr das Wetter lesen könnt, so gut solltet ihr auch die Zeichen der Zeit lesen können. Und darum solltet ihr in der Lage sein, selbst zu erkennen, was Gott jetzt von euch will.’
Nun: Was will Gott von uns? – Auf individueller, persönlicher Ebene geht es darum, sich mit Gott und mit den Mitmenschen zu versöhnen, solange noch Zeit und Gelegenheit dazu ist. Je früher, desto besser. Wenn wir hingegen die kollektive Ebene als Gemeinde bzw. Kirche anschauen, dann ist vom Auftrag Christi her zu lesen. Dann geht es darum, die Liebe Gottes zu bezeugen und anschaulich zu machen. Es geht um die Verwirklichung der Vision, die laut Apg Jesus vor der Himmelfahrt seinen Jünger*innen mitteilte: «Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde (Apg 1,8).» Das zu verwirklichen ist unser Auftrag! Zwischen den Zeilen und doch unüberhörbar sagt Jesus: Ihr wisst doch, was zu tun ist. — Oder etwa doch nicht? Unsere Schwierigkeit ist wohl oft, dass diese Formulierungen sehr allgemein sind. Wir müssen sie konkretisieren und beantworten: Wann, wie, wo … können wir Zeug*innen des Evangeliums sein?
Hierbei spielen die Zeichen der Zeit eine wichtige Rolle … wenn wir damit umzugehen verstehen. Was ist damit gemeint? — Von den apokalyptischen Texten der Bibel her kommend werden oft einzelne, meist negative Ereignisse als Zeichen der Zeit interpretiert: In der Offb Jh z.B. ist ja von Naturkatastophen zu lesen. Also müssen doch Überschwemmungen, Bergstürze, Vulkanausbrüche oder Erdbeben Zeichen dafür sein, dass die Welt nun bald untergeht! – Doch: müssen sie das wirklich? All das gab es doch schon immer. Und der Eindruck, dass es mehr werden, hat viel mit den immer besseren Kommunikationskanälen zu tun. Wer im beschriebenen Sinne nach Anzeichen des kommenden Untergangs Ausschau hält, erinnert mich an Kinogänger*innen, die einen Thriller oder gar einen Horrorfilm anschauen … und dabei den kalten Schauer über den Rücken hinab irgendwie sogar geniessen. Ich gehe davon aus: Wer die Bibel als Drehbuch des kommenden Untergangs liest, verharrt in der Zuschauerrolle. Doch so ist es eben nicht gemeint!
Wo und wie auch immer in der Bibel vom Reich Gottes gesprochen wird: Nie sind wir dabei Zuschauer. Sondern immer Betroffene. Beteiligte. Im Idealfall: Mitarbeiter*innen Christi, die mit ihm am Reich Gottes bauen. Darum ist im Blick auf die Zeichen der Zeit als Erstes wichtig, dass wir sie als Gottes Mitarbeiter*innen und d.h. von Christi Auftrag her lesen.
Als Zweites ist genauer anzuschauen, worin denn Zeichen der Zeit bestehen können. Ich gehe davon aus, dass es nicht in erster Linie einzelne, katastrophale (oder auch: positive) Ereignisse sind. Sondern es sind Entwicklungen und Trends, die sich oft über längere Zeit anbahnen. Die Sozialwissenschaften reden von Megatrends. Diese als Zeichen der Zeit zu lesen hilft zu begreifen, wann, wie und wo wir den Auftrag Christi leben können. Wir sind beauftragt, die Gute Nachricht von Christus zu bezeugen und weiterzutragen. Früher brauchte man das Wort ‘Evangelisieren’. Oder: Als Vision unseres Bezirks haben wir formuliert: Wir wollen, dass Gottes Liebe erfahren und gelebt werden kann. Das ist im Grunde dasselbe. – Wenn wir uns des Auftrags Christi bewusst sind, müssen nur noch die Zeichen der Zeit lesen. Und schon wissen wir, wie es geht …, hier bei uns und durch uns! — Nein, Spass beiseite. Ganz so einfach ist es nicht. Aber vielleicht doch weniger schwierig, als wir manchmal befürchten. Ich nenne nun exemplarisch einige Trends, die ich wahrzunehmen meine … und skizziere dann, was daraus für unseren Auftrag folgen könnte (Anders gesagt: Kodak verpasst den Trend zur Digitalisierung. Was sollten wir beachten, damit unser ‘Firmenziel’ (= Auftrag) nicht obsolet wird?)
- Viele neigen in der CH zu grosser Vorsicht, wenn nicht gar Ängstlichkeit. Sicherheit wird bei uns sehr gross geschrieben. Wir riskieren möglichst wenig und rechnen Vorhaben peinlich genau durch. Wäre nicht oft etwas mehr Mut, Risikobereitschaft und letztlich Vertrauen gefragt? – Sogar in Kirchen sind wir oft gefährdet, das ‘Richtige’ nur dann zu tun, wenn es sich rechnet. Wir wollen sicher sein, dass es funktioniert, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. – In der Kirche reden wir aber auch oft von Vertrauen. – Könnten, ja müssten wir das nicht leben, d.h. Vorbilder des Vertrauens werden? Mit mehr Mut und Vertrauen wagen, was uns wichtig und richtig scheint? Der Übervorsicht und dem Pessimismus unserer Zeit etwas entgegen halten? Und fröhlich aus der Hoffnung auf die Auferstehung etwas gestalten?
- Der Ton im zwischenmenschlichen Umgang wird, seit langem schon, rauher. Anstand und Respekt für Mitmenschen werden immer seltener. Nicht nur in den sozialen Medien. Aber dort ist es besonders offensichtlich. – Wir aber glauben an den Gott, der Menschen sieht. Der alle respektiert. Wahrnimmt. Ja, liebt. – Also könnte es ganz besonders unsere Aufgabe sein, Respekt und Liebe den Menschen gegenüber zu leben. Vorbilder werden für einen respektvollen Umgang miteinander. Zeigen, wie man gerade den ganz anderen, die uns fremd sind oder verunsichern, liebevoll begegnet.
- Die Konfessionslosen sind längst zur grossen Mehrheit geworden. Das heisst aber nicht, dass das Interesse für Spiritualität gesunken wäre. Im Gegenteil. Das Spirituelle interessiert sehr. Nur suchen die Menschen immer weniger im institutionellen Bereich danach. Also müssen wir wohl sehr viel flexibler werden im Blick auf den Rahmen, in dem wir Spiritualität zum Thema machen. Die Eingliederung in die Institution Kirche ist nicht mehr der Königsweg. – Verstehen wir dieses Zeichen der Zeit? Es bedeutet nämlich auch: So wichtig der Gottesdienst uns selbst ist und wohl auch bleibt: Wenn wir Menschen mit Gott in Kontakt bringen wollen, müssen wir uns anderes einfallen lassen. Es braucht neue Mittel und Wege. Mit dem Gottesdienst erreichen wir Menschen, die nicht kirchlich sozialisiert sind, in der Regel nicht mehr.
- Individualismus gehört zu den stärksten Trends unserer Zeit. ‘Hauptsache, es stimmt für mich!’ wird viel zu oft zum Motto. Wir erleben, wie dieser Trend den Zusammenhalt in der Gesellschaft untergräbt. Dem müsste man vielleicht etwas entgegenhalten. – Ich glaube, dass in dem Zusammenhang Ökumene im Sinne von lokaler zwischenkirchlicher Zusammenarbeit eine grosse Bedeutung haben könnte. – Viele können eh nicht mehr unterscheiden, was reformiert, was katholisch, was methodistisch etc. ist. Das könnte und sollte es uns erleichtern, als verschiedene Gemeinden miteinander vor Ort dem Auftrag Christi zu folgen (wie es z.B. in der ökumenischen Kindermusicalwoche geschieht). Das wäre viel sinnvoller, als wenn jede Kirche ihr eigenes, konfesssionell gewürztes Süppchen kocht.
- Zuletzt zur Einsamkeit: Sie ist eine direkte Folge des Trends zum Individualismus. Viele Menschen vereinsamen, leiden darunter und werden deswegen krank. Was haben wir dagegen einzubringen. Das Evangelium, dem wir dienen, bedeute doch nicht zuletzt: «Du bist nicht allein!» Die Botschaft, mit der wir betraut sind, ist nicht weniger als ein Medikament gegen Einsamkeit! Gäbe es da nicht sehr viel zu tun?
Die Zeichen der Zeit erkennen. Das hat für mich sehr viel damit zu tun, Entwicklungen und Trends in der Gesellschaft sorgfältig zu beobachten, zu lesen und vom Evangelium Christi her darauf zu reagieren. Darum geht es.
Nun ist das ja immer noch wenig konkret. Darum versuche ich abschliessend, eine Idee zu skizzieren. Vielleicht ist es nur ein Spleen, nur eine Flause von mir? Dann regt Euch nicht auf. Es wird schnell wieder vergessen sein. – Vielleicht ist es aber mehr. Dann könnte meine Idee Euer Denken anregen. Sie würde konkreter. Oder sie regt einen Gegenvorschlag an. Jedenfalls begänne die Idee Kreise zu ziehen und es entstünde ein Projekt daraus? Wer weiss?
Also, hier ist die Idee: Ich bleibe beim Problem der Einsamkeit. Immer wieder, wenn ich in Adliswil über den Bruggeplatz gehe, sehe ich die Räume, in denen mal Covid-Tests und ‑Impfungen durchgeführt wurden. In denen noch früher wohl eine Bank zu Hause war. Der Ort ist so gut gelegen. Da kommen so viele Leute vorbei. Viel mehr als bei unserer Kapelle, die versteckt im Quartier liegt. Und dann denke ich: Wenn Geld gar keine Rolle spielen würde, dann würde ich diese Räume mieten und Leute suchen, die mir helfen würden, darin einen Begegnungsort zu gestalten. Ganz niederschwellig. Wenn möglich ökumenisch oder sogar noch breiter abgestützt. Ein Begegnungsort an einer so zentralen Stelle könnte z.B. Menschen erreichen, die einsam sind und ihnen die Gelegenheit zu Begegnungen geben. Vielleicht könnten sie sogar Beziehungen knüpfen. Das Evangelium bzw. der Glaube würde dabei fast von selbst auch zum Thema. – Wie gesagt: Wenn Geld gar keine Rolle spielen würde … Oder hat jemand eine Idee, einen Weg, warum das kein Hinderungsgrund sein müsste und wie man es angehen könnte?
Was ich mir auf jeden Fall wünsche, ist Folgendes: Als Beauftrage von Christus lernen wir mehr und mehr, im Grossen und im Kleinen auf Signale und Trends zu reagieren. Wir lernen mit Gottes Hilfe, die Zeichen der Zeit zu lesen. Dann entwickeln wir eine Sicht dafür, wie wir darauf reagieren. Und wagen vertrauensvoll Schritte.
Vielleicht ‘nur’ ein Traum. Doch als Menschen, die sich an der Bibel orientieren, wissen wir ja: Aus Träumen können grosse Dinge wachsen. Amen