Zeichen der Zeit

Lukas 12,54–57

Predigt am 17.11.2024 in der EMK Adliswil

Kodak Leuchtreklame

Liebe Gemeinde,

im Som­mer habe ich einen ganzen Tag lang das Dorf Airo­lo erkun­det. Es galt die höch­ste Gewit­ter­warn­stufe. Deshalb verzichtete ich auf die geplante Wan­derung durch die Lev­enti­na. Im Not­fall wollte ich schnell Schutz find­en kön­nen. – Es kam zwar dann gar kein Gewit­ter. Aber das ist eine andere Geschichte.

Airo­lo – das Dorf am Süd­por­tal des Got­thard­pass­es. Hier kon­nte man erst­mals südlich­es Flair wahrnehmen. Die Bewohner*innen lebten lange gut vom Verkehr über die direk­teste Nord-Süd-Achse. Das sieht man dem Dorf bis heute an.

Doch das ist Ver­gan­gen­heit. Got­thardau­to­bahn und Eisen­bahn-Basis­tun­nel schnit­ten Airo­lo vom Verkehrs­fluss ab. Heute macht hier kaum mehr jemand Rast. Viele Hotels, Restau­rants und Tankstellen sind geschlossen. Die Infra­struk­tur bröck­elt vor sich hin. — Gefühlt alle 10 Schritte lese ich: ‚Vende­si‘, d.h. ‚zu verkaufen‘. Leute trifft man kaum auf der Strasse. Das Dorf wirkt depres­siv. Es ist einge­hüllt im Staub und Lärm der Baustelle für die 2.Gotthardröhre. Airo­lo wirk­te auf mich, als wäre es aus der Zeit gefall­en. Hat man hier die Zeichen der Zeit verkan­nt? Es zeich­nete sich doch ab, dass der Verkehr bald an oder unter Airo­lo vor­bei ver­laufen würde. Wurde ver­säumt, eine neue Grund­lage für die Wirtschaft zu suchen?

Der Ein­druck von Airo­lo hat sich für mich schliesslich in ein­er Kodak-Leuchtreklame verdichtet: Kodak war ein­mal Welt­mark­t­führer im Bere­ich der analo­gen Fotografie. Die Fir­ma hat aber die Dig­i­tal­isierung ver­schlafen. Der Konz­ern geri­et darum Anfang 21.Jh in die Krise. Und Anfang 2012 wurde Insol­venz beantragt. Kodak hat die Zeichen der Zeit verkan­nt und ging unter. — In Airo­lo aber gibt es noch Wer­bung für Kodak!? Unter dem Pfeil ein Laden, allerd­ings kein Foto­geschäft mehr. Son­dern verkauft wer­den bil­lige Uhren und Sou­venirs. Sieht nach Laden­hütern aus. Der Laden ist nur noch am Mittwoch ein paar Stun­den geöffnet …. Dass darin tat­säch­lich noch etwas verkauft wird, kann ich mir nach einem Blick durch die Schaufen­ster kaum vorstellen.
Was sind ‚Zeichen der Zeit‘? Was hat es damit auf sich? Der Begriff stammt aus der Bibel bzw. aus Luthers Über­set­zung der Bibel. Im Gespräch­skreis haben wir am ver­gan­genen Dien­stag schon darüber gere­det. Sei­ther habe ich weit­er nachgedacht. Und daraus ist diese Predigt ent­standen. – Ich lese aus Lk 12,54–57:

Dann sagte Jesus zu den Leuten: »Wenn ihr seht, dass im West­en eine Wolke aufzieht, sagt ihr gle­ich: ›Es gibt Regen.‹ Und so kommt es auch. Und wenn der Süd­wind weht, sagt ihr: ›Es wird heiß.‹ Und so kommt es auch. Ihr Schein­heili­gen! Das Ausse­hen von Erde und Him­mel kön­nt ihr ein­schätzen. Wieso kön­nt ihr die Ereignisse dieser Zeit (hier ste­ht bei Luther Zeichen der Zeit) nicht genau­so gut ein­schätzen? Kön­nt ihr denn nicht von selb­st erken­nen, was Gott jet­zt von euch will? Lukas 12,54–57 (Basis Bibel)

Die anschliessenden zwei Verse gehören auch noch zum Abschnitt. Sie mah­nen dazu, sich mit Mit­men­schen zu ver­söh­nen, so lange noch Zeit ist. Ich habe sie jet­zt nicht gele­sen, weil die Pointe in V.57 liegt: «Kön­nt ihr denn nicht von selb­st erken­nen, was Gott jet­zt von euch will?» — Die Zeitgenossen Jesu müssten es kön­nen. Wir wohl auch. Jesus traut es uns offen­sichtlich zu. Und er macht damit klar: Wer die Zeichen der Zeit lesen kann, weiss, was Gott erwartet!
Mit der Wet­ter­prog­nose war das näm­lich in Galiläa damals eine klare Sache: Wenn im West­en, vom Meer her, auch nur eine kleine Wolke auf­tauchte, kon­nte man darauf wet­ten, dass ein kräftiger Regen­guss nicht lange auf sich warten lassen werde. Wenn dage­gen der Wind auf Süden drehte, also aus der Wüste wehte, dann war eine kom­mende Hitzewelle genau­so sich­er. – So offen­sichtlich und von selb­st müssten nach Jesus auch die Zeichen der Zeit zu ver­ste­hen sein.
Span­nend ist ausser­dem: Hin­ter der Über­set­zung ‘Ereignisse/Zeichen dieser Zeit’ steckt das griechis­che Wort ‘kairoV’. Es umschreibt in bib­lis­ch­er Sprache den Moment von Gottes Ein­greifen. – Knapp zusam­menge­fasst sagt Jesus also: ‘So gut, wie ihr das Wet­ter lesen kön­nt, so gut soll­tet ihr auch die Zeichen der Zeit lesen kön­nen. Und darum soll­tet ihr in der Lage sein, selb­st zu erken­nen, was Gott jet­zt von euch will.’

Nun: Was will Gott von uns? – Auf indi­vidu­eller, per­sön­lich­er Ebene geht es darum, sich mit Gott und mit den Mit­men­schen zu ver­söh­nen, solange noch Zeit und Gele­gen­heit dazu ist. Je früher, desto bess­er. Wenn wir hinge­gen die kollek­tive Ebene als Gemeinde bzw. Kirche anschauen, dann ist vom Auf­trag Christi her zu lesen. Dann geht es darum, die Liebe Gottes zu bezeu­gen und anschaulich zu machen. Es geht um die Ver­wirk­lichung der Vision, die laut Apg Jesus vor der Him­melfahrt seinen Jünger*innen mit­teilte: «Ihr werdet die Kraft des Heili­gen Geistes emp­fan­gen, der auf euch kom­men wird, und werdet meine Zeu­gen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde (Apg 1,8) Das zu ver­wirk­lichen ist unser Auf­trag! Zwis­chen den Zeilen und doch unüber­hör­bar sagt Jesus: Ihr wisst doch, was zu tun ist. — Oder etwa doch nicht? Unsere Schwierigkeit ist wohl oft, dass diese For­mulierun­gen sehr all­ge­mein sind. Wir müssen sie konkretisieren und beant­worten: Wann, wie, wo … kön­nen wir Zeug*innen des Evan­geli­ums sein?
Hier­bei spie­len die Zeichen der Zeit eine wichtige Rolle … wenn wir damit umzuge­hen ver­ste­hen. Was ist damit gemeint? — Von den apoka­lyp­tis­chen Tex­ten der Bibel her kom­mend wer­den oft einzelne, meist neg­a­tive Ereignisse als Zeichen der Zeit inter­pretiert: In der Offb Jh z.B. ist ja von Naturkatastophen zu lesen. Also müssen doch Über­schwem­mungen, Bergstürze, Vulka­naus­brüche oder Erd­beben Zeichen dafür sein, dass die Welt nun bald unterge­ht! – Doch: müssen sie das wirk­lich? All das gab es doch schon immer. Und der Ein­druck, dass es mehr wer­den, hat viel mit den immer besseren Kom­mu­nika­tion­skanälen zu tun. Wer im beschriebe­nen Sinne nach Anze­ichen des kom­menden Unter­gangs Auss­chau hält, erin­nert mich an Kinogänger*innen, die einen Thriller oder gar einen Hor­ror­film anschauen … und dabei den kalten Schauer über den Rück­en hinab irgend­wie sog­ar geniessen. Ich gehe davon aus: Wer die Bibel als Drehbuch des kom­menden Unter­gangs liest, ver­har­rt in der Zuschauer­rolle. Doch so ist es eben nicht gemeint!
Wo und wie auch immer in der Bibel vom Reich Gottes gesprochen wird: Nie sind wir dabei Zuschauer. Son­dern immer Betrof­fene. Beteiligte. Im Ide­al­fall: Mitarbeiter*innen Christi, die mit ihm am Reich Gottes bauen. Darum ist im Blick auf die Zeichen der Zeit als Erstes wichtig, dass wir sie als Gottes Mitarbeiter*innen und d.h. von Christi Auf­trag her lesen.
Als Zweites ist genauer anzuschauen, worin denn Zeichen der Zeit beste­hen kön­nen. Ich gehe davon aus, dass es nicht in erster Lin­ie einzelne, katas­trophale (oder auch: pos­i­tive) Ereignisse sind. Son­dern es sind Entwick­lun­gen und Trends, die sich oft über län­gere Zeit anbah­nen. Die Sozial­wis­senschaften reden von Mega­trends. Diese als Zeichen der Zeit zu lesen hil­ft zu begreifen, wann, wie und wo wir den Auf­trag Christi leben kön­nen. Wir sind beauf­tragt, die Gute Nachricht von Chris­tus zu bezeu­gen und weit­erzu­tra­gen. Früher brauchte man das Wort ‘Evan­ge­lisieren’. Oder: Als Vision unseres Bezirks haben wir for­muliert: Wir wollen, dass Gottes Liebe erfahren und gelebt wer­den kann. Das ist im Grunde das­selbe. – Wenn wir uns des Auf­trags Christi bewusst sind, müssen nur noch die Zeichen der Zeit lesen. Und schon wis­sen wir, wie es geht …, hier bei uns und durch uns! — Nein, Spass bei­seite. Ganz so ein­fach ist es nicht. Aber vielle­icht doch weniger schwierig, als wir manch­mal befürcht­en. Ich nenne nun exem­plar­isch einige Trends, die ich wahrzunehmen meine … und skizziere dann, was daraus für unseren Auf­trag fol­gen kön­nte (Anders gesagt: Kodak ver­passt den Trend zur Dig­i­tal­isierung. Was soll­ten wir beacht­en, damit unser ‘Fir­men­ziel’ (= Auf­trag) nicht obso­let wird?)

  • Viele neigen in der CH zu gross­er Vor­sicht, wenn nicht gar Ängstlichkeit. Sicher­heit wird bei uns sehr gross geschrieben. Wir riskieren möglichst wenig und rech­nen Vorhaben pein­lich genau durch. Wäre nicht oft etwas mehr Mut, Risikobere­itschaft und let­ztlich Ver­trauen gefragt? – Sog­ar in Kirchen sind wir oft gefährdet, das ‘Richtige’ nur dann zu tun, wenn es sich rech­net. Wir wollen sich­er sein, dass es funk­tion­iert, nicht zulet­zt in finanzieller Hin­sicht. – In der Kirche reden wir aber auch oft von Ver­trauen. – Kön­nten, ja müssten wir das nicht leben, d.h. Vor­bilder des Ver­trauens wer­den? Mit mehr Mut und Ver­trauen wagen, was uns wichtig und richtig scheint? Der Über­vor­sicht und dem Pes­simis­mus unser­er Zeit etwas ent­ge­gen hal­ten? Und fröh­lich aus der Hoff­nung auf die Aufer­ste­hung etwas gestalten?
  • Der Ton im zwis­chen­men­schlichen Umgang wird, seit langem schon, rauher. Anstand und Respekt für Mit­men­schen wer­den immer sel­tener. Nicht nur in den sozialen Medi­en. Aber dort ist es beson­ders offen­sichtlich. – Wir aber glauben an den Gott, der Men­schen sieht. Der alle respek­tiert. Wahrn­immt. Ja, liebt. – Also kön­nte es ganz beson­ders unsere Auf­gabe sein, Respekt und Liebe den Men­schen gegenüber zu leben. Vor­bilder wer­den für einen respek­tvollen Umgang miteinan­der. Zeigen, wie man ger­ade den ganz anderen, die uns fremd sind oder verun­sich­ern, liebevoll begegnet.
  • Die Kon­fes­sion­slosen sind längst zur grossen Mehrheit gewor­den. Das heisst aber nicht, dass das Inter­esse für Spir­i­tu­al­ität gesunken wäre. Im Gegen­teil. Das Spir­ituelle inter­essiert sehr. Nur suchen die Men­schen immer weniger im insti­tu­tionellen Bere­ich danach. Also müssen wir wohl sehr viel flex­i­bler wer­den im Blick auf den Rah­men, in dem wir Spir­i­tu­al­ität zum The­ma machen. Die Eingliederung in die Insti­tu­tion Kirche ist nicht mehr der Königsweg. – Ver­ste­hen wir dieses Zeichen der Zeit? Es bedeutet näm­lich auch: So wichtig der Gottes­di­enst uns selb­st ist und wohl auch bleibt: Wenn wir Men­schen mit Gott in Kon­takt brin­gen wollen, müssen wir uns anderes ein­fall­en lassen. Es braucht neue Mit­tel und Wege. Mit dem Gottes­di­enst erre­ichen wir Men­schen, die nicht kirch­lich sozial­isiert sind, in der Regel nicht mehr.
  • Indi­vid­u­al­is­mus gehört zu den stärk­sten Trends unser­er Zeit. ‘Haupt­sache, es stimmt für mich!’ wird viel zu oft zum Mot­to. Wir erleben, wie dieser Trend den Zusam­men­halt in der Gesellschaft unter­gräbt. Dem müsste man vielle­icht etwas ent­ge­gen­hal­ten. – Ich glaube, dass in dem Zusam­men­hang Ökumene im Sinne von lokaler zwis­chenkirch­lich­er Zusam­me­nar­beit eine grosse Bedeu­tung haben kön­nte. – Viele kön­nen eh nicht mehr unter­schei­den, was reformiert, was katholisch, was methodis­tisch etc. ist. Das kön­nte und sollte es uns erle­ichtern, als ver­schiedene Gemein­den miteinan­der vor Ort dem Auf­trag Christi zu fol­gen (wie es z.B. in der öku­menis­chen Kin­der­mu­si­cal­woche geschieht). Das wäre viel sin­nvoller, als wenn jede Kirche ihr eigenes, kon­fess­sionell gewürztes Süp­pchen kocht.
  • Zulet­zt zur Ein­samkeit: Sie ist eine direk­te Folge des Trends zum Indi­vid­u­al­is­mus. Viele Men­schen vere­in­samen, lei­den darunter und wer­den deswe­gen krank. Was haben wir dage­gen einzubrin­gen. Das Evan­geli­um, dem wir dienen, bedeute doch nicht zulet­zt: «Du bist nicht allein!» Die Botschaft, mit der wir betraut sind, ist nicht weniger als ein Medika­ment gegen Ein­samkeit! Gäbe es da nicht sehr viel zu tun?

Die Zeichen der Zeit erken­nen. Das hat für mich sehr viel damit zu tun, Entwick­lun­gen und Trends in der Gesellschaft sorgfältig zu beobacht­en, zu lesen und vom Evan­geli­um Christi her darauf zu reagieren. Darum geht es.

Nun ist das ja immer noch wenig konkret. Darum ver­suche ich abschliessend, eine Idee zu skizzieren. Vielle­icht ist es nur ein Spleen, nur eine Flause von mir? Dann regt Euch nicht auf. Es wird schnell wieder vergessen sein. – Vielle­icht ist es aber mehr. Dann kön­nte meine Idee Euer Denken anre­gen. Sie würde konkreter. Oder sie regt einen Gegen­vorschlag an. Jeden­falls begänne die Idee Kreise zu ziehen und es entstünde ein Pro­jekt daraus? Wer weiss?
Also, hier ist die Idee: Ich bleibe beim Prob­lem der Ein­samkeit. Immer wieder, wenn ich in Adliswil über den Brugge­platz gehe, sehe ich die Räume, in denen mal Covid-Tests und ‑Imp­fun­gen durchge­führt wur­den. In denen noch früher wohl eine Bank zu Hause war. Der Ort ist so gut gele­gen. Da kom­men so viele Leute vor­bei. Viel mehr als bei unser­er Kapelle, die ver­steckt im Quarti­er liegt. Und dann denke ich: Wenn Geld gar keine Rolle spie­len würde, dann würde ich diese Räume mieten und Leute suchen, die mir helfen wür­den, darin einen Begeg­nung­sort zu gestal­ten. Ganz nieder­schwellig. Wenn möglich öku­menisch oder sog­ar noch bre­it­er abgestützt. Ein Begeg­nung­sort an ein­er so zen­tralen Stelle kön­nte z.B. Men­schen erre­ichen, die ein­sam sind und ihnen die Gele­gen­heit zu Begeg­nun­gen geben. Vielle­icht kön­nten sie sog­ar Beziehun­gen knüpfen. Das Evan­geli­um bzw. der Glaube würde dabei fast von selb­st auch zum The­ma. – Wie gesagt: Wenn Geld gar keine Rolle spie­len würde … Oder hat jemand eine Idee, einen Weg, warum das kein Hin­derungs­grund sein müsste und wie man es ange­hen könnte?

Was ich mir auf jeden Fall wün­sche, ist Fol­gen­des: Als Beauf­trage von Chris­tus ler­nen wir mehr und mehr, im Grossen und im Kleinen auf Sig­nale und Trends zu reagieren. Wir ler­nen mit Gottes Hil­fe, die Zeichen der Zeit zu lesen. Dann entwick­eln wir eine Sicht dafür, wie wir darauf reagieren. Und wagen ver­trauensvoll Schritte.
Vielle­icht ‘nur’ ein Traum. Doch als Men­schen, die sich an der Bibel ori­en­tieren, wis­sen wir ja: Aus Träu­men kön­nen grosse Dinge wach­sen. Amen

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