Predigt am 08.12.2024 (2. Advent) in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
„Komm, du lang ersehnter Jesus!“ haben gerade gesungen. Charles Wesley nimmt in seinem Adventslied einen Gebetsruf der ersten Christ:innen auf. In ihren Gottesdiensten tönte es: „Maranatha! Komm bald, Herr Jesus!“
Ist das auch unser Herzensanliegen? Rufen, beten wir so? – Vielleicht nicht so oft. Aber Ja, es gibt Momente, in denen ich empfinde: „Jetzt reicht’s! Gott, greif mal ein und durch! Komm, Christus, und räum auf, was Menschen durcheinanderbringen!“ – Die Bad News dominieren gefühlt immer mehr: Krieg, Naturkatastrophen, soziale Unruhen, politische Blockaden … Meine Fragen sind oft: Warum dominieren die Hohepriester:innen des Egoismus, die Prophet:innen der Macht und die Lobbyist:innen des Geldes derart? Warum muss aus Wettbewerb immer wieder Krieg werden? Warum sind die Förderer:innen von Miteinander und Füreinander dermassen in der Defensive? — Als Christ:innen kennen wir zwar andere Werte und Lebensmodelle (wie Mitmenschlichkeit; Gemeinschaft, Feindesliebe). Doch mit deren Umsetzung hapert es schon innerhalb der Kirche immer wieder. Und ausserhalb erst recht!
Solche Gedanken lassen mich mit Kopf und Herz ganz dabei sein, wenn wir singen: „Komm, du lang ersehnter Jesus, komm und mach uns Menschen frei!“ Ich würde gerne sogar noch deutlicher formulieren: „Jetzt greif doch mal durch, Gott!“ Oder mit dem Propheten Jesaja rufen (vgl. Jes 63,19): „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab …!“ Wäre es nicht allerhöchste Zeit, den Tanz um das goldene Kalb zu stoppen? Die Götzen Geld, Leistung und Wettbewerb zu entsorgen? Mit den atl Propheten bete ich: „Herr, löse die versteinerten Herzen der Menschen aus ihrer Verkrustung! (vgl. Hes 11,19; 36,26) Giesse deinen Geist aus über Alt und Jung! (vgl. Joel 3,1ff) Lass Liebe und Gerechtigkeit keimen, Wurzeln schlagen, wachsen …!
So etwa würde ich meine adventliche Sehnsucht formulieren. Sie wurzelt nicht zuletzt in alten biblischen Verheissungen. Die prophetischen Schriften Israels erwarten die Ankunft eines Gesandten in Gottes Auftrag. Messias wird er u.a. genannt, d.h. der ‚Gesalbte‘. Er ist der gottgesandter König, der den grossen David himmelweit übertreffen wird. Der Messias (griech: ‚Christus‘) wird die Wende zum Guten bringen.
Im Gegensatz zu allen anderen Herrschern wird der Messias ‚Gerechtigkeit‘ bringen. An diesem Begriff kristallisiert sich die prophetische Hoffnung, z.B. in Jer 23,5f. Ich lese nach der Zürcher Bibel:
„Sieh, es kommen Tage, Spruch des HERRN, da lasse ich für David einen gerechten Spross auftreten, und dieser wird als König herrschen und einsichtig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, und Israel wird sicher wohnen. Und dies ist sein Name, den man ihm geben wird: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit!“ Jer 23,5f
Der Messias bzw. der Christus bringt zuerst und vor allem Gerechtigkeit. Jeremia sagt sogar, dass ‚Gerechtigkeit‘ ein Name des Messias sei.
Wie haben wir es mit der Gerechtigkeit? Wo und wie spielt sie in unserem Leben und Tun eine Rolle? – Beim Nachdenken kommt mir allerlei in den Sinn: Ob die Beurteilung von Schulkindern mit Noten gerecht sei, kann man sich fragen Wer mehrere Kinder hat, steht vor der Herausforderung einer gerechte Erziehung: Allen dasselbe geben? Oder jedem in seiner Eigenart gerecht werden? – In der Arbeitswelt wird über gerechte Löhne diskutiert: Wie gross darf die Differenz zwischen dem Lohn von Manager:innen und dem von Arbeiter:innen sein? ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ ist eine Forderung der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. – Beim Einkaufen achten wir nach Möglichkeit auf gerechte Preise. Produzent:innen sollen angemessen entschädigt werden. Zwischenhändler:innen und Spekulant:innen sich aber keine goldene Nase verdienen können. – Steuergerechtigkeit ist politisch ein ganz heisses Eisen. Welches Steuersystem, welche Progression, welcher Satz ist gerecht? – Dann: Was ist eine gerechte Rechtsprechung? Was wären gerechte Urteile und Strafen? Kriegen Angeklagte einen fairen Prozess? Dürfen auch jene darauf hoffen, die keinen roten Pass besitzen? Täterschutz und Opferschutz sind gerecht auszubalancieren, aber wie …? – Oder noch einmal ein anderes Thema: Wieviel Geld darf, soll, muss ein sehr reiches Land für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben? Was ist gerechtfertigt und was nicht?
Wir merken dieser unvollständigen Aufzählung an: Gerechtigkeit betrifft politische Fragestellungen. Es heisst zwar, Politik gehöre nicht auf die Kanzel. Aber: Wenn der Christus Gerechtigkeit bringt, dann darf Politik nicht ausgeklammert werden. Schliesslich hat Gerechtigkeit zentral mit den Verhältnissen in der Gesellschaft zu tun.
Da und dort trifft man in Schweizer Städten auf sogenannte ‚Gerechtigkeitsbrunnen‘: Da wird die ‚Gerechtigkeit‘, lat. ‚iustitia‘,als Frau mit verbundenen Augen, Waage und Schwert dargestellt. Die Waage steht für ausgleichende Gerechtigkeit, das gute Mass, möglichst grosse Gleichheit, für Ausgewogenheit. Im Handel betrifft das den angemessenen Preis für ein Produkt, im Gerichtswesen eine der Schwere der Tat entsprechende Strafe, bei der Arbeit fairen Lohn und in der Bildung Chancengleichheit. — Die verbundenen Augen machen deutlich, dass Gerechtigkeit kein Ansehen der Person zulässt. Alle sind vor dem Gesetz gleich, es gibt keine Privilegien aufgrund von Besitz, Beziehungen, Herkunft, Hautfarbe, Staatszugehörigkeit usw. — Das Schwert symbolisiert die staatliche Macht, die für Gerechtigkeit verantwortlich ist und sie durchsetzen soll, ausgewogen und ohne Ansehen der Person.
So die ideale Vorstellung von Gerechtigkeit. Das ist, was sich Menschen wünschen. Es ist, wofür schon die Gesetze in den Mosebüchern sorgen wollen. Die Hoffnung auf solche Gerechtigkeit verbindet sich mit der Erwartung des Messias.
Leider ist solche Gerechtigkeit auf unserer Welt bei weitem nicht Realität. Es habe nicht alle Kinder dieser Welt die gleichen Chancen. Die Handelsstrukturen bevorzugen jene, die schon reich sind. Für die gleiche Arbeit werden ganz unterschiedliche Löhne bezahlt. Und noch immer gilt: Manche Menschen werden Tag für Tag reicher ohne einen Finger zu krümmen, weil das ihnen zugefallene Vermögen für sie ‚arbeitet‘. Andere werden trotz zwei oder drei Jobs gleichzeitig kaum satt. Die einen leisten sich den Luxus, jedes Jahr die Krankenversicherung zu wechseln um ein paar Franken zu sparen. Andere können es sich gar nicht leisten, zum Arzt zu gehen, wenn sie es nötig hätten.
Nun steht es in der CH bestimmt besser um die Gerechtigkeit als anderswo. Das Rechtssystem funktioniert und es gibt eine gewisse Rechtssicherheit. Aber es profitieren nicht alle davon. Und selbst die helvetische Justitia schielt manchmal unter der Augenbinde durch und sieht eben doch die Person an. Es spielt eine Rolle, ob jemand den Schweizer Pass hat oder nicht. So kann es sein, dass für das gleiche Delikt die eine Person eine zeitlich begrenzte Strafe erhält; die andere aber für immer aus dem Land verbannt wird, in dem sie geboren und aufgewachsen ist. Ob das ‚gerecht‘ genannt werden kann? Jedenfalls widerspricht es dem biblischen Recht, das in 3.Mose 24,22 festhält: „Ein und dasselbe Recht gilt für euch, für den Fremden wie für den Einheimischen. Denn ich bin der HERR, euer Gott.“ -
Advent bedeutet: In einer Welt voller Ungerechtigkeit warten wir auf den, der Gerechtigkeit für alle bringt. Wobei von Christ:innen ein aktives Warten gefragt ist. D.h. wir sind herausgefordert, seiner Gerechtigkeit Raum zu geben und dafür zu kämpfen. In der Bergpredigt sprach Jesus davon, dass die Gerechtigkeit seiner Jünger:innen besser sein müsse als die der Pharisäer:innen. Er will sogar noch mehr als die Justitia darstellt. In der Schriftlesung haben wir gehört: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern um zu erfüllen.“ (Mt 5,17). Unsere Gerechtigkeit soll also, was bisher als gerecht angesehen wurde, noch weit übertreffen. Was meint Jesus damit?
Ich glaube, es geht darum, dass Gerechtigkeit mehr als eine mathematische Formel ist. Auszurechnen, was wem zusteht, ist zu wenig. Im Sinn und Geiste Jesu verbindet sich Gerechtigkeit mit Liebe und Treue. Darum wussten auch die Propheten. Schliesslich bedeutet das hebräische Wort für Gerechtigkeit u.a. heilvolle Zuwendung, Güte und Treue zur Gemeinschaft. Jesus nimmt das konsequent auf. Und das bedeutet dann: Anders als von vielen erwartet versteht sich der Gerechtigkeit bringende Messias nicht in erster Linie als der Richter, der Urteile spricht. Zwar gehört das zu seinen Aufgaben. Wir kennen ja z.B. das Gleichnis vom Weltgericht (vgl. Mt 25,31ff). Da geht es auch um Gerechtigkeit, natürlich. Vor allem aber wendet sich der Bringer der Gerechtigkeit den Menschen zu und nimmt sich ihrer persönlich an. Er nimmt ihre Unfähigkeit zur Gerechtigkeit wahr und hat Erbarmen mit ihnen. Er rechnet ihnen nicht ihre Schuld vor, sondern er ruft zur Umkehr und bietet so die Chance zu einem neuen Anfang. Der Richter geht auf Täter und Opfer zu. Anders als die Justitia mit den verbundenen Augen sieht Christus dabei die Person sehr wohl an … mit einem unvergleichlich liebevollen und barmherzigen Blick. Er sieht den Menschen vor sich und erkennt in jeder Person zuerst das geliebte Ebenbild Gottes. Und dann nimmt der Richter Schuld und Strafe auf sich und stirbt für die Angeklagten den Tod am Kreuz. „Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten. Und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5b)
Christus wird auf alten Bildern immer wieder als Richter dargestellt, aber nicht – wie die Justitia – mit Waage und verbundenen Augen. Warum? Weil seine Gerechtigkeit eben nicht eine ausgleichende Gerechtigkeit, sondern die rettende Gerechtigkeit ist. – Im Bild eines seiner Gleichnisse gesagt: Jesus behandelt als Hirte nicht alle Schafe gleich, sondern er geht dem einen nach, das verloren ist. Im Sinne einer rein ausgleichenden Gerechtigkeit ist das ja ungerecht. Doch Jesus ist nicht unparteiisch wie die Justitia mit den verbundenen Augen, sondern er ist sehr parteiisch auf der Seite der Armen, der Ausgestossenen, der Kranken, der Verachteten, der Gefallenen, der Sünder und der Fremden. Seine Gerechtigkeit zeigt sich darin, dass er der einzelnen Person in ihrer ganz speziellen Situation gerecht wird.
Was für eine Gerechtigkeit der Messias bringt, wird am deutlichsten in der Geschichte, in der versucht wird, Jesus in die Rolle des Richters zu drängen, in Jh 7,53–8,11: In dieser Geschichte läuft alles nach Recht und Gesetz: Fromme Männer bringen eine beim Ehebruch ertappte Frau und zitieren aus dem Gesetz des Mose, dass sie demnach gesteinigt werden müsse. Jesus soll dazu ein Urteil abgeben, während sie die Steine ja schon in der Hand halten. Und Jesus Urteil lautet: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ – Da begreifen die Kläger, dass keiner von ihnen dieser Erste sein kann. Die Steine fallen zu Boden, weil niemand das Recht hat, über das Leben eines Menschen zu urteilen, solange Gott diesen noch mit gnädigem, barmherzigen Blick im Auge hat. Jesus, der Messias Gottes entscheidet, dass diese Frau eine neue Chance haben soll (übrigens damit auch der in der Geschichte gar nicht erwähnte am Ehebruch beteiligte Mann, der nach dem Gesetz ebenfalls hätte gesteinigt werden müssen). — Das meint Jesus mit der besseren Gerechtigkeit. Nicht dass sie Schuld auf die leichte Schulter nehmen und Gesetze locker missachten würde. Aber diese Gerechtigkeit weiss, dass jeder schuldig und deshalb auf Erbarmen angewiesen ist. Sie macht ernst mit der Gnade und wird den Menschen gerecht, indem sie ihnen eine neue Chance bietet. Jeder hat das Recht, von nun an mit Gottes Hilfe sein Leben gut zu gestalten.
Wir sind mitten im Advent. Wir warten auf den, dem der Prophet Jeremia den Namen gibt: „Gott ist unsere Gerechtigkeit!“ Seine Gerechtigkeit sollen wir verkündigen. Seine Gerechtigkeit soll als Licht aufleuchten in unserer dunklen Welt. Wir sind beauftragt, mit Gottes Hilfe gerechter zu werden und zu leben. D.h. vor allem: denen gerecht werden, die Opfer unserer oft so ungerechten Welt geworden sind.
Wichtig ist aber auch: Bei all unseren Entscheidungen im Kleinen und im Grossen soll nie vergessen gehen, dass wir selbst wie alle anderen nicht von uns aus rechte oder gerechte Menschen sind. Von unserer Herkunft her sind wir Sünder:innen, die auf Erbarmen angewiesen sind. Gerecht, gerecht gesprochen sind wir allein durch die Gnade Christi, auf die wir vertrauen. Wir sind gerettet allein durch die bessere Gerechtigkeit, die der Christus bringt. Und wir sind beauftragt, genau im Sinne dieser besseren Gerechtigkeit unseren Mitmenschen zu begegnen und ihnen jede mögliche Chance (bzw. ‚Kredit‘) zu geben. Amen