Er bringt Gerechtigkeit

Jere­mia 23,5–6

Predigt am 08.12.2024 (2. Advent) in der EMK Adliswil

Liebe Gemeinde,

„Komm, du lang ersehn­ter Jesus!“ haben ger­ade gesun­gen. Charles Wes­ley nimmt in seinem Adventslied einen Gebet­sruf der ersten Christ:innen auf. In ihren Gottes­di­en­sten tönte es: „Maranatha! Komm bald, Herr Jesus!“

Ist das auch unser Herzen­san­liegen? Rufen, beten wir so? – Vielle­icht nicht so oft. Aber Ja, es gibt Momente, in denen ich empfinde: „Jet­zt reicht’s! Gott, greif mal ein und durch! Komm, Chris­tus, und räum auf, was Men­schen durcheinan­der­brin­gen!“ – Die Bad News dominieren gefühlt immer mehr: Krieg, Naturkatas­tro­phen, soziale Unruhen, poli­tis­che Block­aden … Meine Fra­gen sind oft: Warum dominieren die Hohepriester:innen des Ego­is­mus, die Prophet:innen der Macht und die Lobbyist:innen des Geldes der­art? Warum muss aus Wet­tbe­werb immer wieder Krieg wer­den? Warum sind die Förderer:innen von Miteinan­der und Füreinan­der der­massen in der Defen­sive? — Als Christ:innen ken­nen wir zwar andere Werte und Lebens­mod­elle (wie Mit­men­schlichkeit; Gemein­schaft, Fein­desliebe). Doch mit deren Umset­zung hapert es schon inner­halb der Kirche immer wieder. Und ausser­halb erst recht!

Solche Gedanken lassen mich mit Kopf und Herz ganz dabei sein, wenn wir sin­gen: „Komm, du lang ersehn­ter Jesus, komm und mach uns Men­schen frei!“ Ich würde gerne sog­ar noch deut­lich­er for­mulieren: „Jet­zt greif doch mal durch, Gott!“ Oder mit dem Propheten Jesa­ja rufen (vgl. Jes 63,19): „Ach, dass du den Him­mel zer­riss­est und führest herab …!“ Wäre es nicht aller­höch­ste Zeit, den Tanz um das gold­ene Kalb zu stop­pen? Die Götzen Geld, Leis­tung und Wet­tbe­werb zu entsor­gen? Mit den atl Propheten bete ich: „Herr, löse die ver­stein­erten Herzen der Men­schen aus ihrer Verkrus­tung! (vgl. Hes 11,19; 36,26) Giesse deinen Geist aus über Alt und Jung! (vgl. Joel 3,1ff) Lass Liebe und Gerechtigkeit keimen, Wurzeln schla­gen, wach­sen …!
So etwa würde ich meine adventliche Sehn­sucht for­mulieren. Sie wurzelt nicht zulet­zt in alten bib­lis­chen Ver­heis­sun­gen. Die prophetis­chen Schriften Israels erwarten die Ankun­ft eines Gesandten in Gottes Auf­trag. Mes­sias wird er u.a. genan­nt, d.h. der ‚Gesalbte‘. Er ist der gottge­sandter König, der den grossen David him­mel­weit übertr­e­f­fen wird. Der Mes­sias (griech: ‚Chris­tus‘) wird die Wende zum Guten brin­gen.
Im Gegen­satz zu allen anderen Herrsch­ern wird der Mes­sias ‚Gerechtigkeit‘ brin­gen. An diesem Begriff kristallisiert sich die prophetis­che Hoff­nung, z.B. in Jer 23,5f. Ich lese nach der Zürcher Bibel:

„Sieh, es kom­men Tage, Spruch des HERRN, da lasse ich für David einen gerecht­en Spross auftreten, und dieser wird als König herrschen und ein­sichtig han­deln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet wer­den, und Israel wird sich­er wohnen. Und dies ist sein Name, den man ihm geben wird: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit!“              Jer 23,5f

Der Mes­sias bzw. der Chris­tus bringt zuerst und vor allem Gerechtigkeit. Jere­mia sagt sog­ar, dass ‚Gerechtigkeit‘ ein Name des Mes­sias sei.
Wie haben wir es mit der Gerechtigkeit? Wo und wie spielt sie in unserem Leben und Tun eine Rolle? – Beim Nach­denken kommt mir aller­lei in den Sinn: Ob die Beurteilung von Schulkindern mit Noten gerecht sei, kann man sich fra­gen Wer mehrere Kinder hat, ste­ht vor der Her­aus­forderung ein­er gerechte Erziehung: Allen das­selbe geben? Oder jedem in sein­er Eige­nart gerecht wer­den? – In der Arbeitswelt wird über gerechte Löhne disku­tiert: Wie gross darf die Dif­ferenz zwis­chen dem Lohn von Manager:innen und dem von Arbeiter:innen sein? ‚Gle­ich­er Lohn für gle­iche Arbeit‘ ist eine Forderung der Gerechtigkeit zwis­chen den Geschlechtern. – Beim Einkaufen acht­en wir nach Möglichkeit auf gerechte Preise. Produzent:innen sollen angemessen entschädigt wer­den. Zwischenhändler:innen und Spekulant:innen sich aber keine gold­ene Nase ver­di­enen kön­nen. – Steuerg­erechtigkeit ist poli­tisch ein ganz heiss­es Eisen. Welch­es Steuer­sys­tem, welche Pro­gres­sion, welch­er Satz ist gerecht? – Dann: Was ist eine gerechte Recht­sprechung? Was wären gerechte Urteile und Strafen? Kriegen Angeklagte einen fairen Prozess? Dür­fen auch jene darauf hof­fen, die keinen roten Pass besitzen? Täter­schutz und Opfer­schutz sind gerecht auszubal­ancieren, aber wie …? – Oder noch ein­mal ein anderes The­ma: Wieviel Geld darf, soll, muss ein sehr reich­es Land für Entwick­lungszusam­me­nar­beit aus­geben? Was ist gerecht­fer­tigt und was nicht?
Wir merken dieser unvoll­ständi­gen Aufzäh­lung an: Gerechtigkeit bet­rifft poli­tis­che Fragestel­lun­gen. Es heisst zwar, Poli­tik gehöre nicht auf die Kanzel. Aber: Wenn der Chris­tus Gerechtigkeit bringt, dann darf Poli­tik nicht aus­geklam­mert wer­den. Schliesslich hat Gerechtigkeit zen­tral mit den Ver­hält­nis­sen in der Gesellschaft zu tun.

Da und dort trifft man in Schweiz­er Städten auf soge­nan­nte ‚Gerechtigkeits­brun­nen‘: Da wird die ‚Gerechtigkeit‘, lat. ‚iusti­tia‘,als Frau mit ver­bun­de­nen Augen, Waage und Schw­ert dargestellt. Die Waage ste­ht für aus­gle­ichende Gerechtigkeit, das gute Mass, möglichst grosse Gle­ich­heit, für Aus­ge­wogen­heit. Im Han­del bet­rifft das den angemesse­nen Preis für ein Pro­dukt, im Gerichtswe­sen eine der Schwere der Tat entsprechende Strafe, bei der Arbeit fairen Lohn und in der Bil­dung Chan­cen­gle­ich­heit. — Die ver­bun­de­nen Augen machen deut­lich, dass Gerechtigkeit kein Anse­hen der Per­son zulässt. Alle sind vor dem Gesetz gle­ich, es gibt keine Priv­i­legien auf­grund von Besitz, Beziehun­gen, Herkun­ft, Haut­farbe, Staat­szuge­hörigkeit usw. — Das Schw­ert sym­bol­isiert die staatliche Macht, die für Gerechtigkeit ver­ant­wortlich ist und sie durch­set­zen soll, aus­ge­wogen und ohne Anse­hen der Per­son.
So die ide­ale Vorstel­lung von Gerechtigkeit. Das ist, was sich Men­schen wün­schen. Es ist, wofür schon die Geset­ze in den Mose­büch­ern sor­gen wollen. Die Hoff­nung auf solche Gerechtigkeit verbindet sich mit der Erwartung des Mes­sias.
Lei­der ist solche Gerechtigkeit auf unser­er Welt bei weit­em nicht Real­ität. Es habe nicht alle Kinder dieser Welt die gle­ichen Chan­cen. Die Han­delsstruk­turen bevorzu­gen jene, die schon reich sind. Für die gle­iche Arbeit wer­den ganz unter­schiedliche Löhne bezahlt. Und noch immer gilt: Manche Men­schen wer­den Tag für Tag reich­er ohne einen Fin­ger zu krüm­men, weil das ihnen zuge­fal­l­ene Ver­mö­gen für sie ‚arbeit­et‘. Andere wer­den trotz zwei oder drei Jobs gle­ichzeit­ig kaum satt. Die einen leis­ten sich den Luxus, jedes Jahr die Kranken­ver­sicherung zu wech­seln um ein paar Franken zu sparen. Andere kön­nen es sich gar nicht leis­ten, zum Arzt zu gehen, wenn sie es nötig hät­ten.
Nun ste­ht es in der CH bes­timmt bess­er um die Gerechtigkeit als ander­swo. Das Rechtssys­tem funk­tion­iert und es gibt eine gewisse Rechtssicher­heit. Aber es prof­i­tieren nicht alle davon. Und selb­st die hel­vetis­che Justi­tia schielt manch­mal unter der Augen­binde durch und sieht eben doch die Per­son an. Es spielt eine Rolle, ob jemand den Schweiz­er Pass hat oder nicht. So kann es sein, dass für das gle­iche Delikt die eine Per­son eine zeitlich begren­zte Strafe erhält; die andere aber für immer aus dem Land ver­ban­nt wird, in dem sie geboren und aufgewach­sen ist. Ob das ‚gerecht‘ genan­nt wer­den kann? Jeden­falls wider­spricht es dem bib­lis­chen Recht, das in 3.Mose 24,22 fes­thält: „Ein und das­selbe Recht gilt für euch, für den Frem­den wie für den Ein­heimis­chen. Denn ich bin der HERR, euer Gott.“ -

Advent bedeutet: In ein­er Welt voller Ungerechtigkeit warten wir auf den, der Gerechtigkeit für alle bringt. Wobei von Christ:innen ein aktives Warten gefragt ist. D.h. wir sind her­aus­ge­fordert, sein­er Gerechtigkeit Raum zu geben und dafür zu kämpfen. In der Berg­predigt sprach Jesus davon, dass die Gerechtigkeit sein­er Jünger:innen bess­er sein müsse als die der Pharisäer:innen. Er will sog­ar noch mehr als die Justi­tia darstellt. In der Schriftle­sung haben wir gehört: „Ich bin nicht gekom­men, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, son­dern um zu erfüllen.“ (Mt 5,17). Unsere Gerechtigkeit soll also, was bish­er als gerecht ange­se­hen wurde, noch weit übertr­e­f­fen. Was meint Jesus damit?
Ich glaube, es geht darum, dass Gerechtigkeit mehr als eine math­e­ma­tis­che Formel ist. Auszurech­nen, was wem zuste­ht, ist zu wenig. Im Sinn und Geiste Jesu verbindet sich Gerechtigkeit mit Liebe und Treue. Darum wussten auch die Propheten. Schliesslich bedeutet das hebräis­che Wort für Gerechtigkeit u.a. heil­volle Zuwen­dung, Güte und Treue zur Gemein­schaft. Jesus nimmt das kon­se­quent auf. Und das bedeutet dann: Anders als von vie­len erwartet ver­ste­ht sich der Gerechtigkeit brin­gende Mes­sias nicht in erster Lin­ie als der Richter, der Urteile spricht. Zwar gehört das zu seinen Auf­gaben. Wir ken­nen ja z.B. das Gle­ich­nis vom Welt­gericht (vgl. Mt 25,31ff). Da geht es auch um Gerechtigkeit, natür­lich. Vor allem aber wen­det sich der Bringer der Gerechtigkeit den Men­schen zu und nimmt sich ihrer per­sön­lich an. Er nimmt ihre Unfähigkeit zur Gerechtigkeit wahr und hat Erbar­men mit ihnen. Er rech­net ihnen nicht ihre Schuld vor, son­dern er ruft zur Umkehr und bietet so die Chance zu einem neuen Anfang. Der Richter geht auf Täter und Opfer zu. Anders als die Justi­tia mit den ver­bun­de­nen Augen sieht Chris­tus dabei die Per­son sehr wohl an … mit einem unver­gle­ich­lich liebevollen und barmherzi­gen Blick. Er sieht den Men­schen vor sich und erken­nt in jed­er Per­son zuerst das geliebte Eben­bild Gottes. Und dann nimmt der Richter Schuld und Strafe auf sich und stirbt für die Angeklagten den Tod am Kreuz. „Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hät­ten. Und durch seine Wun­den sind wir geheilt.“ (Jes 53,5b)
Chris­tus wird auf alten Bildern immer wieder als Richter dargestellt, aber nicht – wie die Justi­tia – mit Waage und ver­bun­de­nen Augen. Warum? Weil seine Gerechtigkeit eben nicht eine aus­gle­ichende Gerechtigkeit, son­dern die ret­tende Gerechtigkeit ist. – Im Bild eines sein­er Gle­ich­nisse gesagt: Jesus behan­delt als Hirte nicht alle Schafe gle­ich, son­dern er geht dem einen nach, das ver­loren ist. Im Sinne ein­er rein aus­gle­ichen­den Gerechtigkeit ist das ja ungerecht. Doch Jesus ist nicht unpartei­isch wie die Justi­tia mit den ver­bun­de­nen Augen, son­dern er ist sehr partei­isch auf der Seite der Armen, der Aus­gestosse­nen, der Kranken, der Ver­achteten, der Gefal­l­enen, der Sün­der und der Frem­den. Seine Gerechtigkeit zeigt sich darin, dass er der einzel­nen Per­son in ihrer ganz speziellen Sit­u­a­tion gerecht wird.

Was für eine Gerechtigkeit der Mes­sias bringt, wird am deut­lich­sten in der Geschichte, in der ver­sucht wird, Jesus in die Rolle des Richters zu drän­gen, in Jh 7,53–8,11: In dieser Geschichte läuft alles nach Recht und Gesetz: Fromme Män­ner brin­gen eine beim Ehe­bruch ertappte Frau und zitieren aus dem Gesetz des Mose, dass sie dem­nach gesteinigt wer­den müsse. Jesus soll dazu ein Urteil abgeben, während sie die Steine ja schon in der Hand hal­ten. Und Jesus Urteil lautet: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ – Da begreifen die Kläger, dass kein­er von ihnen dieser Erste sein kann. Die Steine fall­en zu Boden, weil nie­mand das Recht hat, über das Leben eines Men­schen zu urteilen, solange Gott diesen noch mit gnädi­gem, barmherzi­gen Blick im Auge hat. Jesus, der Mes­sias Gottes entschei­det, dass diese Frau eine neue Chance haben soll (übri­gens damit auch der in der Geschichte gar nicht erwäh­nte am Ehe­bruch beteiligte Mann, der nach dem Gesetz eben­falls hätte gesteinigt wer­den müssen). — Das meint Jesus mit der besseren Gerechtigkeit. Nicht dass sie Schuld auf die leichte Schul­ter nehmen und Geset­ze lock­er mis­sacht­en würde. Aber diese Gerechtigkeit weiss, dass jed­er schuldig und deshalb auf Erbar­men angewiesen ist. Sie macht ernst mit der Gnade und wird den Men­schen gerecht, indem sie ihnen eine neue Chance bietet. Jed­er hat das Recht, von nun an mit Gottes Hil­fe sein Leben gut zu gestalten.

Wir sind mit­ten im Advent. Wir warten auf den, dem der Prophet Jere­mia den Namen gibt: „Gott ist unsere Gerechtigkeit!“ Seine Gerechtigkeit sollen wir verkündi­gen. Seine Gerechtigkeit soll als Licht aufleucht­en in unser­er dun­klen Welt. Wir sind beauf­tragt, mit Gottes Hil­fe gerechter zu wer­den und zu leben. D.h. vor allem: denen gerecht wer­den, die Opfer unser­er oft so ungerecht­en Welt gewor­den sind.
Wichtig ist aber auch: Bei all unseren Entschei­dun­gen im Kleinen und im Grossen soll nie vergessen gehen, dass wir selb­st wie alle anderen nicht von uns aus rechte oder gerechte Men­schen sind. Von unser­er Herkun­ft her sind wir Sünder:innen, die auf Erbar­men angewiesen sind. Gerecht, gerecht gesprochen sind wir allein durch die Gnade Christi, auf die wir ver­trauen. Wir sind gerettet allein durch die bessere Gerechtigkeit, die der Chris­tus bringt. Und wir sind beauf­tragt, genau im Sinne dieser besseren Gerechtigkeit unseren Mit­men­schen zu begeg­nen und ihnen jede mögliche Chance (bzw. ‚Kred­it‘) zu geben. Amen

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