Predigt in der EMK Adliswil am Ewigkeitssonntag, 23.11.2025 zu Psalm 126

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Liebe Gemeinde,
nur noch selten sagt man dem letzten Sonntag im Kirchenjahr ‚Totensonntag‘. Wir bevorzugen ‚Ewigkeitssonntag‘. Aber auch so trägt dieser Tag eine Schwere in sich. Es wachen kostbare Erinnerungen auf, die zugleich weh tun. Es berührt uns an einer empfindliche Stelle: Wenn wir Menschen wieder vor uns sehen, die einmal mitten im Leben standen. So viel haben wir mit ihnen erlebt. Schönes und Beglückendes konnten wir teilen. Aber auch in Schwerem und Anstrengendem einander beistehen. Nun fehlen sie. Vielleicht schon ganz lange. Doch die Erinnerung an sie ist noch lebendig. Schön und zugleich schwer ist das.
Ich weiss nicht, in welcher Stimmung Sie heute zum Gottesdienst gekommen sind. Vielleicht mit dem Gefühl, dass es heute schwer werden könnte? Oder dankbar für Vieles, was ihr Leben reich macht? Frustriert über Verpasstes? Glücklich über Erlebtes? – Diese und andere Empfindungen sollen Raum finden in diesem Gottesdienst. Dazu helfen die Worte aus Psalm 126. Ich lese ihn gleich aus der Basis Bibel. Der Psalm spricht von Sehnsucht, Trost und Hoffnung:
Ein Lied für die Pilgerreise
1) Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete:
2) Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
3) Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.
4) Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
5) Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
6) Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt. Psalm 126
I. Der Anfang des Lachens: Die Kraft der Erinnerung
Das klingt speziell am Ewigkeitssonntag! Noch einmal in der Sprache Luthers: „Wir werden sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.» Lachen? Jubel? An einem Tag, der von Tränen und Trauer geprägt ist? – Nur das wäre schwierig. Aber Tränen kommen ja auch vor. Darum glaube ich: Psalm 126 kann die Trauer über den Tod mit der Hoffnung auf die Auferstehung verbinden. Das Lied zeigt einen Weg, wie uns Gott vom Weinen zum Jubeln führt.
Interessant ist übrigens: Luther übersetzt in der Zukunftsform. «Wir werden Lachen und Rühmen». Neuere Übersetzungen wählen die Vergangenheitsform: «Wir waren wie in einem Traum, als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete.» Erinnern Sie sich an das Predigtthema vor zwei Wochen? Erinnerung an die Zukunft. Wer sich an das Kommende erinnert, findet Kraft, in die Zukunft aufzubrechen.
Vermutlich denkt der Psalm zunächst tatsächlich an die Vergangenheit. Als er geschrieben wurde, war die Erinnerung noch ganz frisch. Israel hatte ein unvergleichliches Wunder erlebt: Das Volk Israel kehrte zurück aus der Gefangenschaft. Die Freude darüber war und ist noch so überwältigend, dass sie sich anfühlt wie ein Traum. Ein Moment grössten Glücks. Alle Erwartungen waren erfüllt, ja übertroffen.
Auch am Ewigkeitssonntag spielt Erinnerung eine entscheidende Rolle. Und selbst wenn es zunächst traurige Erinnerungen sind. In den Schmerz mischt sich auch Dankbarkeit: Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit, für Liebe und Freude, die wir teilten, für Abenteuer, die wir zusammen erlebten. Sogar Momente des Glücks können noch einmal aufflackern.
Es geht heute nicht nur um Vergänglichkeit. Sondern wir erkennen und feiern das ‘Grosse’, das uns Gott durch diese Menschen geschenkt hat. Die Völker damals staunten über Spuren von Gottes Handeln in Israels Geschick. Wir kommen ins Staunen über Spuren, die Gott durch Menschen, an die wir uns erinnern, in unsere Herzen gelegt hat. Vielleicht macht bringt uns die Erinnerung an eine besondere Eigenheit sogar zum Lächeln. Wie es im Psalm heisst: ‘Lachen füllt unseren Mund’. – Mir fällt gerade ein: Die letzte Begegnung mit meinem Grossvater mütterlicherseits. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Dabei war es an unserem Hochzeitstag. Wir verweilten in einem Park. Ich hatte mich gerade ein wenig aus dem Rummel zurückgezogen. Da stand er plötzlich vor mir, drückte mir ein Hunderternötli in die Hand und murmelte dazu: «Ich habe Dir da noch etwas für Dich und Deine Frau!» Er war Bauer. Hatte nie viel geredet und war in Beziehungen unbeholfen. Aber er hatte ein grosses Herz. Und weil er es sehr gut mit den Zahlen konnte, hatte er auch immer und überall ein ‘Nötli’, dass er jemandem zustecken konnte. Nachdem er gestorben war, kam in seinem Zimmer viel Bargeld zum Vorschein. Nötli für Nötli versteckt in Socken, Büchern, Heften …: Erinnerungen, die einen Lächeln machen. Das ist das Lachen über Wirken Gottes, das im Leben unserer Lieben sichtbar wurde.
Noch einmal: Der Psalm beginnt mit der Erinnerung an eine Befreiung. Israel denkt daran, wie Gott in sein Leben eingegriffen hat: Überraschend, unwahrscheinlich, lebensverändernd.
Solche Momente kennen wir doch auch: Ein Satz von jemandem, der Mut machte. Ein Gebet, das unerwartet Kraft schenkte. Ein Moment, in dem wir spürten: Jetzt trägt mich etwas, das grösser ist als ich.
Wenn ich mich auf eine Beerdigung vorbereite, staune ich immer wieder: In den Lebensläufen werden oft Spuren sichtbar, die Gott in ihrem Leben Spuren hinterlassen hat. Manchmal nur ganz leise, manchmal sehr deutlich: In einem Lächeln, das sich trotz Krankheit durchkämpfte. In Versöhnung, die im letzten Moment möglich wurde. In der Liebe, die weiter wirkte, als Worte schon schwer wurden. – Vielleicht, hoffentlich können Sie sich heute an solche Spuren erinnern. Es tut so gut, auf das zu schauen, was geglückt ist, was getragen hat. Erinnerungen können wohl schmerzen – aber sie können auch wärmen.
Im Psalm heisst es: „Da waren wir wie die Träumenden.“ Manchmal sind es unsere Erinnerungen, die uns das Träumen wieder lehren.
II. “Die mit Tränen säen” – Gott verschweigt das Leid nicht
Doch Glück und Lachen halten zu Beginn des Psalmes noch nicht stand: Die Realität holt seine ersten Beter schnell ein. Die Heimat ist noch öde, der Tempel eine Ruine. Sie sehnen sich nach vollständiger Wiederherstellung, nach einem wirklichen Neuanfang, und so rufen sie: «Herr, wende unser Schicksal zum Guten, so wie du die Bäche in der Wüste füllst nach langer Trockenzeit. Wer unter Tränen mit der Saat beginnt … Das ist ehrlich und realistisch. Tränen gehören dazu. Der Psalm nimmt die Wirklichkeit ernst. Unser Leben ist kein gerader Weg, kein ununterbrochenes Gelingen. Es gibt Abschiede, die uns den Boden wegziehen. Es gibt Nächte, die nicht enden wollen. Es gibt stille Fragen, die niemand beantwortet.
Dabei denke ich an Menschen, die noch mitten in der Trauerphase stecken. Sie haben jemanden verloren, der ihnen Halt war: Kinder vermissen ihre Eltern. Menschen standen am Grab ihrer Liebe des Lebens. Und sie wussten nicht, wie auch nur der nächste Tag zu überstehen sei. So viele fühlen sich heute einsam, weil kein vertrautes Gesicht mehr am Kaffeetisch sitzt.
Psalm 126 sagt nicht: „Reiss dich zusammen!“ Er sagt auch nicht: „Glaube macht immun gegen Schmerz.“ Sondern er sagt: Tränen gehören zum Leben. Und sie gehören zu Gott. — Das bedeutet: Deine Tränen sind nicht vergeblich. Sie gehen nicht verloren im Staub. Gott nimmt sie ernst – so ernst, dass er aus ihnen etwas Neues wachsen lassen wird. Unsere Tränen sind Saatkörner, die wir heute ausstreuen. Der Schmerz, der Verlust, die offenen Fragen – das alles ist wie der Samen, der in die dunkle Erde fällt. — Im Hintergrund der Formulierungen stehen damalige Vorstellungen über Saat und Ernte. Die Saatzeit galt als Trauerzeit. Man legte den Samen in die Erde, begrub ihn dort, wo er sterben musste. Auch Jesus redet ja in Jh 12.24 davon, dass das Weizenkorn in der Erde sterbe. Doch dann: Aus dem gestorbenen Samen wächst eine neue Pflanze heraus; es entsteht neues Leben, viel mehr als nur ein Samenkorn.
Es gibt keinen Weg des Glaubens, der um das ‘Säen mit Tränen’ herumführt. Tränen sind Teil des Prozesses. Wir sind wie der Landwirt, der bei Wind und Wetter, mit schwerem Herzen, auf den Acker geht und den Samen ausstreut, weil er weiss: Trotz allem muss ich handeln, ich muss säen. Wir säen unsere Tränen. Das heisst: Wir legen unsere Trauer, unsere Liebe, unsere Hoffnung in Gottes Hand.
III. Die grosse Hoffnung – Gottes Zukunft wächst leise
Nach dem Säen vergehen viele Tage. Doch dann kommt die Ernte: Damals schnitt man die Halme von Hand ab, bündelte sie zu Garben und brachte sie nach Hause. Dann stieg ein grosses Fest. Ernte bedeutete ein Freudenfest.
Psalm 126 kleidet das ins Bild: «Sie werden mit Freuden ernten. Unser Mund wird voll Lachens sein.» — Das klingt schon fast übermütig. Zugleich drückt es die Sehnsucht aus, die wir alle kennen: Wir wollen glauben, dass das Leben nicht im Dunkel endet. Wir wollen hoffen, dass unsere Verstorbenen geborgen sind – wirklich geborgen. Wir wollen vertrauen, dass Liebe stärker ist als der Tod.
Das Versprechen von Psalm 126 und unseres Glaubens ist genau das: Gott bleibt nicht beim Schmerz stehen. Er sagt: Ich werde neu machen. Ich werde wiederherstellen. Ich werde abwischen alle Tränen. — Darum schauen wir am Ewigkeitssonntag nicht nur zurück – wir schauen auch nach vorn: Wir hoffen auf ein Wiedersehen. Glauben an ein Zuhause, das nicht mehr bedroht ist. Vertrauen auf ein Licht, das keinen Schatten mehr wirft.
Solcher Glaube hat Tragkraft. Er trägt, wenn das Leben brüchig ist. Er trägt, wenn die Erinnerungen uns wehtun. Er trägt sogar, wenn wir selbst nicht viel zum Glauben beitragen können. Denn es ist Gottes Treue, die zählt – nicht die Stärke unseres Glaubens. Entscheidend ist, dass auf seine Versprechen Verlass ist.
IV. Ein Weg durch die Zeit – gehalten und begleitet
So sind wir heute vor Gott. Jede und jeder mit einer eigenen Geschichte, mit eigenen Wunden, eigenen Hoffnungen. Gottes Versprechen aber hält uns zusammen: «Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.» — Das ist kein billiger Trost. Keine Vertröstung. Sondern es ist der Weg: Mit Gott durch die Tränen hindurch zur Freude.
Vielleicht können wir diesen Weg heute nicht vollständig vor uns sehen. Aber wir vertrauen darauf, dass wir ihn gehen können: Schritt für Schritt. Im Wissen: Gott geht mit. Er ist da, wenn wir uns erinnern. Er trägt uns, wenn uns der Schmerz übermannt. Er begründet unsere Hoffnung. Und er geht uns voran: Im Leben. Und bis in die Ewigkeit.
Wenn ein Mensch stirbt, bleibt ein Stuhl leer. Manchmal geht unser Blick wieder dorthin, und will sich in uns verkrampfen. Doch wir glauben. Bei Gott ist dieser Stuhl nicht leer. Er ist besetzt – vom Menschen, den wir vermissen, von der Liebe, die bleibt. Und irgendwann, wenn unsere Zeit vollendet ist, wird Gott uns an diesen Tisch rufen. Und unser Mund wird voll Lachens sein. Amen
