Weihnachtspredigt am 25.12.2025 in der EMK Adliswil zu Matthäus 1,18–25

Liebe Gemeinde,
wir stellen uns Weihnachten gerne harmonisch vor: Besinnliche Ruhe; Lichter, die das Dunkel verzaubern; wohltuend berührende Geschichten; herzerwärmende Musik – kurz: die perfekte Idylle. Heile Welt. Doch die biblischen Weihnachtsgeschichten beginnen anders. Wir haben gehört, wie Mt erzählt: Er tut es aus der Sicht Josefs. Erzählt von einer ungeplanten Schwangerschaft. Von einem Mann, der sich fragt, ob er seiner Verlobten noch trauen kann. Die Situation hat das Potenzial, zum handfesten Skandal im Dorf zu werden. Aber auch davon, dass dieser Mann anders reagieren kann als zu erwarten wäre. Dank Gott. Weihnachten beginnt also mit einer Krise. Marias und Josefs Leben wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Josef erfährt, dass Maria schwanger ist. Er weiss genau: ‘Von mir kann dieses Kind nicht sein!’ Für ihn bricht die Welt zusammen. Das Vertrauen bricht: Was werden die Leute sagen? Wie kann ich mich je im Dorf wieder sehen lassen?
In die Krise hinein redet Gott. Das ist ein wesentliches Element der Weihnachtsbotschaft: Wenn Menschen nicht mehr weiterwissen, Vertrauen zerbricht, Angst und Scham gross werden, beginnt Gott zu handeln. Er wartet nicht, bis alles in Ordnung ist. Er kommt mitten hinein in das Chaos menschlichen Lebens.
Das passt gut zum Weihnachtsfest. Schliesslich glänzt in unserem Leben auch nicht alles. Es gibt ungelöste Konflikte und vielleicht unausgesprochene Spannungen. Da sind Sorgen um Gesundheit, Zukunftsängste, Einsamkeit. Weihnachten sagt nicht: «Versteck das alles hinter einem schönen Baum!» Weihnachten sagt: «Mitten in alles hinein kommt Gott. Ins Chaos leuchtet der Name: ‘Immanuel – Gott mit uns’!»
Wie ist das bei Josef? Mt nennt ihn ‘gerecht’. Das heisst: Er ist einer, der Gottes Willen ernst nimmt. Josef will das Richtige tun. Deshalb zerreisst es ihn fast. Einerseits liebt er Maria. Andererseits scheint klar: Sie ist untreu geworden. Nach damaligem Recht hätte er sie öffentlich blossstellen können. Das Gesetz erlaubte ihm, sich zu rächen. Damit sein Gesicht zu wahren, seine Ehre zu schützen.
Doch Josef entscheidet anders. Er will Maria nicht der Schande aussetzen (was für sie übrigens lebensgefährlich gewesen wäre). Er beschliesst, sich „im Stillen“ von ihr zu trennen. Auch das ein schmerzhafter Schritt, der aber zeigt: Josef denkt nicht zuerst an sich. Er will Maria schützen, soweit es in seiner Macht steht. Gerechtigkeit bedeutet für ihn nicht Härte, sondern Barmherzigkeit.
Josef steht im Konflikt, den viele kennen: Was ist zu tun, das Richtige oder das Gute? Den Regeln folgen, dem, was alle sagen? Oder das Gute tun, d.h. das, was für den Mitmenschen am besten wäre? Immer wieder diese Spannung: zwischen dem, was man ‘eigentlich müsste’, und dem, was der Liebe entspricht; zwischen Recht und Barmherzigkeit; zwischen Selbstschutz und Hingabe.
In die Zerrissenheit hinein spricht Gott. Er lässt ihn mit seiner Entscheidung nicht allein. Nimmt Josefs Kampf ernst. Gott gibt Orientierung in die Situation und begegnet ihm im Traum: «Josef, du Nachkomme Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen. Denn das Kind, das sie erwartet, ist aus dem Heiligen Geist.» — Gott bietet Josef eine andere Deutung der Situation an: Was katastrophal scheint, ist Gottes Idee, ist Teil von Gottes grosser Geschichte.
«Fürchte dich nicht!» Das ist ein Schlüsselsatz in der Weihnachtsgeschichte. Der Engel sagte es zu Maria. Auch die Hirten hören es. Und hier eben Josef. Die erste Reaktion auf Gottes Nähe ist oft Angst. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor den Reaktionen der anderen. Angst, dass das eigene Leben aus der Bahn gerät. Gott nimmt diese Angst ernst. Er tut nicht, als wäre sie nicht da. Aber er stellt ihr seine Zusage entgegen: «Du musst dich nicht fürchten, wenn ich komme. Mein Kommen zerstört dich nicht – es rettet dich.»
Wir sind immer wieder angewiesen auf diesen Zuspruch: «Fürchte dich nicht!» Fürchte dich nicht vor einem neuen Anfang. Fürchte dich nicht vor dem Schritt, der dir schwerfällt, obwohl er richtig ist. Fürchte dich nicht, wenn du es nicht mehr im Griff hast. Wenn dir alles entgleitet. Fürchte dich nicht, Gott in dein persönliches Chaos hineinzulassen. Gott ist kein zusätzlicher Druck, stellt keine Ansprüche, die man auch noch befriedigen muss. Er kommt als Retter, nicht als Bewerter.
Der Engel geht noch weiter. Er verrät ihm, welchen Namen das Kind haben soll: «Du sollst ihm den Namen Jesus geben. Denn er wird sein Volk retten: Er befreit es von aller Schuld.« Der Name Jesus bedeutet ‘Gott rettet’. Schon im Namen steckt das ganze Evangelium: «Er wird sein Volk retten von ihrer Sünde.» Das ist das Programm von Jesu Leben und Wirken.
Sünde meint hier nicht böse Taten oder falsches Verhalten. Das sind ‘nur’ Folgen der Sünde. Sünde ist die Erfahrung, nicht im Reinen zu sein. Nicht mit Gott. Nicht mit den Mitmenschen. Nicht einmal mit sich selbst. ‘Sünde’ umschreibt, was uns von Gott trennt, von anderen Menschen entfernt und uns selbst blockiert. Es hat mit Misstrauen zu tun. Mit gestörter Beziehungsfähigkeit. Mit dem Reflex, sich selbst zum Mittelpunkt der Welt zu machen … und so zu vereinsamen, aus der Gemeinschaft herauszufallen.
Diesem Problem begegnet Gott nicht mit einem Katalog von verschärften Regeln. Sondern er schickt den Retter, der alles grundlegend ändert. Der betreibt keine Kosmetik, kein notdürftiges Ausbessern und provisorisch Flicken. Es geht um Heilung. Um Befreiung. Die Macht der Sünde soll gebrochen werden. Darum wird Gott in Jesus selbst aktiv. Er begibt sich mitten in die Not und wird Mensch. Er wird verletzlich, erträgt die Zerrissenheit und verbindet, heilt sie von der Wurzel her. Am Kreuz überwindet Christus alle Verlassenheit und macht Menschen wieder gemeinschaftsfähig.
Weihnachten ist also nicht in erster Linie die rührende Geschichte von einem Kind, dessen erstes Bett eine Krippe war. Weihnachten bedeutet vor allem den Beginn von Gottes Rettungsaktion. Gott rettet – auch uns. Auch dich und mich. Wäre es vielleicht Zeit, wieder einmal für sich zu überlegen: Wo brauche ich Rettung? In welchen Verhaltensmustern bin ich eingeklemmt? Wo brauche ich einen Neuanfang? Befreiung? Das Name des Kindes in der Krippe spricht uns zu: Dafür ist er gekommen. Jesus – Gott rettet.
Mittels eines Zitates aus Jesaja 7,14 gibt Mt dem Kind einen zweiten Namen: Immanuel, das heisst: Gott mit uns.“ Auch dieser zweite Name taugt als Titel über alles, was Jesus tat und sagte: Gott mit uns.
Immanuel bedeutet: Gott bleibt nicht bei sich. Er bleibt nicht fern, in einem vom Schicksal der Erde unberührten Himmel. Er wird Teil unseres Lebens und unserer Geschichte. Nicht als Machtmensch, nicht als General, nicht als reicher König, sondern als Kind. Wehrlos, angewiesen, verletzlich. ‘Gott mit uns’ heisst: Gott kennt das Menschsein von innen, aus eigener Erfahrung. Er kennt Freude und Trauer, Nähe und Ablehnung, Erfolg und Scheitern, Leben und Sterben.
‚Immanuel — Gott mit uns’: Dieses Programm prägt das ganze Mt-Ev. Es schliesst ja mit der Zusage des Auferstandenen: «Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.» Am Anfang: ‘Immanuel – Gott mit uns’. Am Ende: ‘Ich bin bei euch.’ Dazwischen das Leben Jesu, seine Worte, seine Taten, sein Sterben, seine Auferstehung – alles Ausdruck der Wahrheit: Gott lässt uns nicht allein.
Für unseren Glauben bedeutet das: Christlicher Glaube ist weniger ein System von Regeln oder Lehren. Er ist Beziehung. Beziehung zu dem, der sagt: Ich bin mit dir. In deiner Freude – ja. Aber auch in deiner Dunkelheit. In deiner Schuld. In deiner Angst. Immanuel – Gott mit uns – heisst: Es gibt keinen Ort in deinem Leben, an den Gott nicht kommen könnte.
Gott kommt als Kind in einem Stall zur Welt. Damit zeigt er: Kein Ort ist ihm zu gering. Kein Leben ist ihm zu kompliziert. Keine Geschichte ist ihm zu schmutzig oder zu zerbrochen. Er will nichts als einfach bei uns sein.
Menschen neigen zum Gedanken: ‘Wenn Gott bei mir sein soll, muss ich zuerst alles in Ordnung bringen. Ich muss glaubwürdiger, frommer, konsequenter werden.’ Doch die Weihnachtsgeschichte erzählt etwas anderes: Gott kommt, bevor Josef etwas Großartiges leisten kann. Gott kommt, bevor Maria beweisen kann, dass sie vertrauenswürdig ist. Gott kommt mitten in die Vorwürfe, Vermutungen und Missverständnisse hinein.
Das heisst also: Du musst nicht zuerst dein Leben aufräumen, bevor Gott sich dir zuwendet. Es ist eher umgekehrt: Wo Gott einzieht, da beginnt Veränderung. Wo Jesus aufgenommen wird, da wächst neues Vertrauen, neue Liebe, neue Hoffnung. Aber die Reihenfolge bleibt: zuerst Immanuel – Gott mit uns. Dann verändert sich das Leben – Schritt für Schritt, Tag für Tag.
Vielleicht ist das die grösste Entlastung an Weihnachten: Gott sagt nicht ‘Du sollst’, sondern ‘Ich bin bei dir.’ Er fordert nicht, sondern schenkt. Sein Wort an uns ist Zuspruch, nicht Forderung oder Urteil.
Mt’s Weihnachtsgeschichte endet unspektakulär: «Josef wachte auf und tat, was ihm der Engel des Herrn befohlen hatte: Er nahm seine Frau zu sich.» Josef traut dem Traum, traut Gott, und folgt: Er nimmt Maria zu sich. Er gibt dem Kind den Namen Jesus. Er stellt sich an die Seite dieser Frau, deren Schwangerschaft viele Fragen aufwirft. Er riskiert seinen Ruf, seine Ehre, seine Sicherheit – weil er Gott vertraut.
Josef lebt seinen Glauben vorbildlich. Wichtig ist dabei nicht sein Gefühl. Auch nicht seine Zustimmung zu Lehrsätzen. Wichtig ist, was er tut. Glaube drängt zur Tat. Josef tut, was er glaubt. Mag sein, dass dabei sein Ruf bei vielen im Dorf litt. Josefs Gewinn aber ist: Er wird Teil von Gottes Geschichte.
Gott ist mit uns. Das verändert das Leben. Gottes Nähe drängt zu Entscheidungen. Vielleicht braucht jemand Beistand, der in Verruf geraten ist. Vielleicht ist ein Schritt der Versöhnung dran. Vielleicht gibt es eine Aufgabe, die schon lange auf mich wartet. Glaube an den Immanuel bedeutet das Vertrauen, Schritte bzw. den Aufbruch zu wagen.
Gott ist mit uns. Das wirkt sich auf andere aus. Wer Gott in Jesus an seiner Seite weiss, ist eingeladen, anderen zur Seite zu stehen. Gott mit uns – darum wir mit den anderen. Das kann ganz verschieden aussehen, z.B. so:
- Zeit mit anderen teilen, d.h.
- Ein Besuch bei einem Menschen, der sich einsam fühlt.
- Ein Anruf, eine Nachricht, ein Zeichen: „Du bist nicht vergessen.“
- Ein offenes Ohr für jemanden, der gerade in einer eigenen „Josef-Situation“ steckt, im Konflikt, im Zweifel, im Ringen um den richtigen Weg.
- Praktische Hilfe, wo Not ist – im Haus, im Alltag, in finanzieller Sorge.
Gott kommt uns so nahe, dass er selbst Mensch wird. Darum können Christ:innen nicht distanziert bleiben. Wir sind berufen, Gottes Nähe sichtbar und spürbar werden zu lassen. Die Kirche/Gemeinde soll in dieser Welt Zeichen von „Immanuel – Gott mit uns“ setzen. Nicht perfekt, nicht fehlerlos, aber hingegeben.
Weihnachten erzählt vom Kind, das zwei Namen trägt: Jesus – Gott rettet. Immanuel – Gott mit uns. Sie drücken Gottes Angebot aus. Wer sich Jesus anvertraut, sagt: Ja, ich brauche Rettung. Ich brauche Versöhnung. Ich brauche jemanden, der meine Angst, meine Begrenzung überwindet. Und er sagt zugleich: Ich will nicht mehr allein unterwegs sein. Ich will mit dem leben, der versprochen hat, bei mir zu sein – alle Tage.
Wir feiern heute, dass der Immanuel bei uns ist. Übrigens seit seiner Selbstvorstellung Mose gegenüber das innerste Wesen Gottes. Damals nannte er sich Jhwh = Ich bin da. In Jesus als Immanuel kommt er noch näher. Und bleibt für immer. Wie er versprochen hat: «Ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt!»
Immanuel – Gott ist mit uns. Darum kann kein Dunkel, keine Schuld, keine Angst mehr das letzte Wort behalten. Darum wird selbst unsere unsichere, zerrissene Welt zum sicheren Ort. Zum Ort der Hoffnung. Weil er da ist und bleibt. Amen.
