Ausweg in die Zukunft

Predigt zum 3. Advent am 14.12.2025 in der EMK Adliswil zu Hebräer 10,19–25

Liebe Gemeinde,

Wir sehen den Abgang zu einem Berg­w­erksstollen. Da unten bauen Bergleute Rohstoffe ab – Kohle, Erze, Dia­man­ten … . Über die Leit­er führt ihr Weg nach der Arbeit zurück ans Licht, zurück ins Leben. – Bergleute leben gefährlich. Man hört und liest immer wieder, dass Bergleute ver­schüt­tet wor­den sind. In der Regel bedeutet das zwar nicht, dass sie selb­st unter Steinen begraben liegen. Meis­tens ist aber ein Stollen einge­brochen und zugeschüt­tet wor­den. Damit ist der Rück­weg abgeschnit­ten. – Das ist, auch wenn sie unver­let­zt geblieben sind, eine verzweifelte Sit­u­a­tion. Denn so ist die Luftzu­fuhr abgeschnit­ten und das heisst: Der Sauer­stoff wird aus­ge­hen. Dann dro­ht der Tod durch Erstick­en.
Was kann da helfen? Die Bergleute kön­nten zwar von ihrer Seite her mit aller Kraft graben. Das ist aber gefährlich und bringt wenig. Schliesslich ist ein einge­broch­en­er Stollen insta­bil. Ver­mut­lich würde ständig neues Geröll in den Gang fall­en und sie wür­den nichts erre­ichen. Ver­schüt­tete Bergleute kön­nen sich nicht sel­ber ret­ten. Ihre einzige Chance ist, Energie und Sauer­stoff zu sparen, damit sie länger durch­hal­ten. Dazu mit Klopfze­ichen auf sich aufmerk­sam machen und … warten, bis Ret­tung kommt.
Wir sind zwar keine ver­schüt­teten Bergleute heute Mor­gen. Aber die Sit­u­a­tion lässt sich auf das Leben über­tra­gen. Es gibt viel, was unseren schein­bar sicheren Weg gefährden und zum Ein­sturz brin­gen kann. Was ist, wenn unser Weg ver­schüt­tet wird? Wer holt uns dann heraus?

Blick­en wir zurück in die Zeit vor Jesu Geburt: Das Volk Israel wartete auf den angekündigten Ret­ter. Die Gläu­bi­gen hofften darauf, dass sich die Ver­heis­sun­gen endlich erfüllen wür­den. Ihre Sit­u­a­tion glich der von eingeschlosse­nen Bergleuten. Israeliten wussten um Bedro­hun­gen des Lebens durch Stol­lenein­brüche aller Art. Vor allem der selb­st verur­sachte Ein­bruch durch Geröll­massen der Sünde war allen bewusst. Wer nicht nach den Geboten Gottes gelebt hat­te – und wer kon­nte das schon rest­los von sich behaupten – sah sich durch aller­lei Geröll fast hoff­nungs­los von Gott, vom Leben abgeschnit­ten. Ich sage fast hoff­nungs­los, weil es ja jedes Jahr den Ver­söh­nungstag gab. An diesem Tag brachte der Hohe­p­riester im Namen des ganzen Volkes ein Opfer dar. Im Bild gesprochen bedeutete dies: An diesem Tag stand dem Hohe­p­riester eine extra Schaufel zur Ver­fü­gung, mit der sich der Schutt eines ganzen Jahres wegschaf­fen liess. Er durfte das Aller­heilig­ste im Tem­pel betreten, durch­schritt den Vorhang und brachte das Opfer für das Volk dar. Damit wurde der Zugang zu Gott jew­eils wieder frei. Bloss hielt das nicht lange vor. Bald nach dem Ver­söh­nungstag riesel­ten bald wieder Steine von der Decke und liessen Gott wieder in weite Ferne rück­en. Leben und Glauben waren müh­sam. Man war immer am Graben und kon­nte sich doch nie darauf ver­lassen, dass der Stollen hielt und der Weg frei blieb.
So wartete das Volk Israel auf den Mes­sias. Der wird, wie die Ret­ter im Fall von ver­schüt­teten Bergleuten, von der sicheren Seite her kom­men und den Weg zu Gott, zum Leben defin­i­tiv frei machen. Dann wird kein Graben und keine Klopfze­ichen mehr nötig sein. Man kann dem Mes­sias fol­gen und von ihm ans Licht, in die Frei­heit, zum Leben – mit einem Wort: zu Gott – geführt werden.

Diese Zusam­men­hänge sind wichtig, um zu ver­ste­hen, was der ntl Hebräer­brief (aus dem mein heutiger Predigt­text stammt) zum Kom­men Jesu Christi sagt. Der Brief wurde zur Ermu­ti­gung von Chris­ten mit jüdis­chem Hin­ter­grund geschrieben. Ihre Erfahrun­gen und Prä­gun­gen aus dem Juden­tum wer­den aufgenom­men und weit­erge­führt. Dabei spielt der Tem­pel eine beson­dere Rolle. Der Hebräer­brief erk­lärt mit Ver­gle­ichen aus dem Tem­pelkult, was Jesus Chris­tus bedeutet. Und in dem Abschnitt, den ich jet­zt lesen will, ste­ht der Tem­pel für die Men­schheit und das Aller­heilig­ste darin für Gott, die bei­de durch einen Vorhang voneinan­der getren­nt sind.

Liebe Brüder und Schwest­ern! Wir haben also freien Zutritt zum Aller­heilig­sten! Jesus hat sein Blut geopfert und uns den Weg durch den Vorhang hin­durch frei gemacht, diesen neuen Weg, der zum Leben führt. Der »Vorhang« aber, das ist er selb­st, so wie er in einem irdis­chen Leib gelebt hat. Wir haben also einen ganz unver­gle­ich­lichen Ober­sten Priester, der über das Haus Gottes geset­zt ist. Darum wollen wir vor Gott hin­treten mit offen­em Herzen und in fes­tem Glauben; unser Gewis­sen wurde ja von aller Schuld gere­inigt und unser Leib in reinem Wass­er gewaschen. Wir wollen an der Hoff­nung fes­thal­ten, zu der wir uns beken­nen, und wollen nicht schwanken; denn Gott, der die Zusagen gegeben hat, ste­ht zu seinem Wort. Und wir wollen aufeinan­der Acht geben und uns gegen­seit­ig zur Liebe und zu guten Tat­en ans­pornen. Einige haben sich angewöh­nt, den Gemein­de­v­er­samm­lun­gen fernzubleiben. Das ist nicht gut; vielmehr sollt ihr einan­der Mut machen. Und das umso mehr, als ihr doch merken müsst, dass der Tag näher rückt, an dem der Herr kommt!                                                                       Hebräer 10,19–25

Dieser Abschnitt ist wie der ganze Hebräer­brief in ein­er stark verdichteten Sprache geschrieben. Ich ver­suche, die Ker­naus­sagen her­auszuar­beit­en. Begin­nen wir der guten Nachricht, die in diesem Abschnitt steckt.
V.20 sagt: Jesus hat den Vorhang zum Aller­heilig­sten wegge­zo­gen. Das heisst: Der Ausweg ins Leben, zu Gott, in die Zukun­ft ist dank Jesus frei. Der Hebr bezieht sich dabei auf das Geschehen am Kar­fre­itag. Es heisst, dass in der Todesstunde Jesu der Vorhang im Tem­pel zer­riss und das Aller­heilig­ste frei gab (vgl. Mk 15,38 par). Da lüftete also nicht der Hohe­p­riester den Vorhang für einen flüchti­gen Moment. Son­dern Gott selb­st riss den Vorhang defin­i­tiv entzwei. So war das Aller­heilig­ste nicht mehr ver­schlossen. Das bewirk­te eine grundle­gende Änderung: Die Geröll­massen der Schuld müssen nicht mehr durch priester­lichen Opfer­di­enst abge­tra­gen wer­den. In Jesus hat Gott nicht nur das Geröll ent­fer­nt, son­dern auch den Stollen gesichert. Das Klopfen der Eingeschlosse­nen ist an Gottes Ohr gedrun­gen. Und sein Chris­tus ist als Ret­ter gekom­men.
Der Ret­ter ist jet­zt da. Er nimmt sich aller Angst, allem Kle­inglauben, aller Schuld und aller Verzwei­flung der vor­mals Eingeschlosse­nen an. Er führt sie ans Licht, zum Leben. D.h. er heilt alle Ver­let­zun­gen, die wir anderen und die andere uns zuge­fügt haben. Er deckt Unehrlichkeit auf. Er verän­dert uns so, dass wir authen­tisch leben kön­nen und die Verbindung mit Gott hält. Der Ausweg ist frei. Das Geröll, der Schutt ist weg. Chris­tus ruft uns hin­aus, ans Licht, in die Gemein­schaft mit Gott.
Das ist die Botschaft dieses Abschnittes aus dem Hebr: Der Vorhang ist weg. Der Ret­ter ist da. Ihr müsst nicht mehr warten!

Unser Predigt­text zieht drei Schlussfol­gerun­gen aus dieser Botschaft, zunächst in V.22: “Wir wollen vor Gott hin­treten mit offe­nen Herzen und fes­tem Glauben.” Wenn der Weg frei ist, dann liegt es nun ganz allein an uns, diesen Aus­gang auch zu nutzen. Wir kön­nen uns aus der Erstar­rung lösen und uns Jesus anver­trauen. Mit ihm weit­erge­hen in die Zukun­ft, die er schafft.
Wir kön­nen gehen. Wir müssen auch gehen. Denn: Den Ausweg zu ken­nen, nützt näm­lich nichts, solange das Wis­sen nicht zur Tat find­et. So ändert auch die Befreiung­stat Jesu noch nichts, solange Men­schen genau da sitzen bleiben, wo sie eingeschlossen waren. Wir müssen gehen, hin­aus zu Chris­tus, der uns ruft. Oder eben, wie Hebr 10,22 sagt: “Lasst uns vor Gott hin­treten mit offen­em Herzen und in fes­tem Glauben.” Der erste Schritt beste­ht darin, dass ich Jesus mein Herz zeige, dass ich offen lege, was da alles drin ist: Freude, Hoff­nung, Begeis­terung, Lei­den­schaft, aber auch (und das wäre in der Sit­u­a­tion eines im Stollen Ver­schüt­teten wohl eher im Vorder­grund) Wut, Verzwei­flung, Schuld, gefühlte Ungerechtigkeit, Angst zu kurz zu kom­men oder Miss­mut. Ich bin her­aus­ge­fordert, ihm alles anzu­ver­trauen, was mich ganz tief innen beschäftigt. Ich bin ein­ge­laden, darauf zu ver­trauen, dass er sich heilend mein­er annehmen wird. Er zeigt mir den Weg und führt mich hin­aus in die Freiheit.

Als 2. Schlussfol­gerung aus der Botschaft vom freien Ausweg for­muliert V.23: “Wir wollen an der Hoff­nung fes­thal­ten und nicht schwanken!“
Der verän­derten Sit­u­a­tion trauen und Chris­tus ent­ge­genge­hen, das ist die Her­aus­forderung. Wie leicht ist man ver­sucht, im Stollen sitzen zu bleiben. Die Frischluftzu­fuhr ist doch wieder gesichert. Wie leicht hal­ten wir uns an dem fest, was wir schon haben. Wie leicht wählen wir Erin­nerun­gen an früher, Erfahrun­gen, Tra­di­tio­nen etc. als das sichere Fun­da­ment, zu dem man nach kleinen Aus­flü­gen immer wieder zurück­kehrt. Aber bedeutete das dann nicht: Wir bleiben im Stollen und geben weit­er Klopfze­ichen … bis die näch­ste Law­ine herun­terkommt?
Der Hebr redet von einem ganz anderen Fes­thal­ten: Nicht an dem, was wir tun oder getan haben, sollen wir uns fes­thal­ten, son­dern an Jesus Chris­tus. Wir blick­en nicht länger auf die paar Meter direkt vor uns und hal­ten die frei von Geröll, son­dern wir ori­en­tieren uns nach vorn, ver­lassen uns nur auf Chris­tus. Es gibt doch genug Sit­u­a­tio­nen im Leben, wo Neuori­en­tierung lebenswichtig ist. Wenn die Schule abgeschlossen und der Beruf zu wählen ist, wenn Kinder kom­men, wenn der Ruh­e­s­tand begin­nt, eine Part­ner­schaft begin­nt, eine Krankheit die alten Sicher­heit­en grundle­gend erschüt­tert. Dann haben wir uns oft von heute auf mor­gen zu entschei­den, ob wir im brüchi­gen Stollen bleiben wollen, oder den Auf­bruch wagen.
Angemah­nt ist freilich nicht irgend ein Auf­bruch. Auf­brechen ist kein Selb­stzweck. Auf­bruch macht nur Sinn, wenn es in die Frei­heit, nach oben ans Licht geht. Diese Frei­heit gewährt nur Jesus Chris­tus. Er ist der von Gott geschick­te Ret­ter, der zum Licht führt und auf den wir uns ver­lassen kön­nen. Er ist selb­st Licht und führt ans Tages­licht, er lässt uns den Weg find­en, der nach Gottes Willen zu uns passt. Aber er zwingt uns zu nichts, son­dern wartet auf unser Fes­thal­ten … und wenn es noch so zögernd und schwach sein sollte. Denn wenn er spürt, dass da eine unsichere Hand nach ihm tastet, wird er zupack­en und uns leit­en, so dass wir nicht zu schwanken und umz­u­fall­en brauchen.

Die dritte Schlussfol­gerung aus der guten Nachricht zieht V.24: “Lasst uns aufeinan­der acht­geben und uns gegen­seit­ig zur Liebe und zu guten Tat­en ans­pornen.” – Da kommt nun noch ein neuer Aspekt in den Blick: Wir sind nicht allein, son­dern als Mannschaft unter­wegs auf dem Weg ans Licht. Wenn ein­er oder eine fehlt, kom­men wir langsamer vor­wärts. Darum soll­ten wir aufeinan­der Acht geben. Denn das ist wie ein Ver­längerungsk­a­bel der Liebe Jesu zu uns. Wir wollen es doch miteinan­der bis ans Ziel schaf­fen.
Aber wie machen wir das konkret? Wie kön­nen wir aufeinan­der Acht geben? – Es mag, ger­ade in ein­er kleinen Gemeinde, dur­chaus eine Grat­wan­derung sein. Aufeinan­der Acht geben, aneinan­der Anteil nehmen, das kann leicht auch mal als Kon­trol­lver­such ankom­men. C’est le ton, qui fait la musique. Nachzufra­gen, warum jemand let­ztes Mal nicht da war, soll ja nicht als Vor­wurf, son­dern eben als Anteil­nahme ankom­men. Ob das geht? – Ja, ich bin fest überzeugt, dass es geht. Und dass es sog­ar etwas von dem ist, was eine Gemeinde zu ein­er beson­deren Gemein­schaft macht. Es gilt, sich an Jesu Art mit den Men­schen umzuge­hen zu ori­en­tieren. Ihm gelang es sog­ar, Men­schen auf die heiklen Punk­te ihres Lebens anzus­prechen, ohne dass sie dies unangemessen emp­fan­den und sich wehren mussten (z.B. Zachäus (Lk 19) oder die Frau am Jakob­s­brun­nen (Jh 4)). Er ging mit den Men­schen so um, wie es vom Gottesknecht in Jes 42,3 heisst: „Das geknick­te Schil­frohr zer­bricht er nicht, den glim­menden Docht löscht er nicht aus.“ Nach seinem Vor­bild, in seinem Geist ‚aufeinan­der Acht geben‘, davon redet der Hebräer­brief. Das gehört zum Christ- bzw. zum Gemeinde-Sein. –Es ist wichtig, dass wir da dran bleiben: “Lasst uns aufeinan­der acht­geben und uns gegen­seit­ig zur Liebe und zu guten Tat­en ans­pornen.” Liebevoll, behut­sam und engagiert aneinan­der Anteil nehmen. Sich gegen­seit­ig ermuntern, stützen und , falls nötig, auch mal eine kri­tis­che Frage stellen (vgl. C.Bittlinger: „Fre­unde, die stehn auf der Mat­te, auch wenn sie grad störn“).
Das Ziel von alle­dem ist laut Hebr 10, 19ff klar: Es soll nicht nur ans Tages­licht gehen, son­dern dem Tag Christi ent­ge­gen. Das wird ein Freuden­tag für alle, die an ihm fest­ge­hal­ten haben und ihm gefol­gt sind. Dann wird näm­lich gar nichts mehr da sein, keine Geröll, kein Stollen, nichts, was uns von Gottes Gegen­wart tren­nt. Wir wer­den ganz bei ihm und ganz am Licht sein. Darauf hof­fen wir. Darauf ver­trauen wir. Darauf freuen wir uns. Amen

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