Predigt in der EMK Adliswil am 09.11.2025 zu Lukas 9,61f

Copyright Miika Laaksonen on unsplash.com
Liebe Gemeinde,
es wird gleich gefährlich. Sehr gefährlich sogar. Das ist offensichtlich. Wenn sie bleibt, überlebt sie nicht. Nichts wie weg also! Nur: Hier hat sie sich ihr Leben aufgebaut und eingerichtet. Sie will nicht weg! Will ihre Freundinnen nicht zurücklassen. Sie will eigentlich bleiben. Und muss doch gehen! Das zerreisst sie. Immer wieder schaut sie zurück. Wird langsamer und bleibt stecken. Alles wird blockiert. Schliesslich erstarrt sie zur Salzsäule. Das ist die Geschichte von Lots Frau (vgl. Gen 19,26)
Einige Jahrhunderte später: Die Israeliten sind dem Pharao entkommen. Sie sind aus der Versklavung geflohen. Jetzt auf dem Weg ins gelobte Land. Irgendwo im nirgendwo. Sie schleppen sich durch die Wüste. Sie sind hungrig. Müde. Verschwitzt. Sie sind zwar frei, aber zu welchem Preis? Die Erinnerung erscheint in neuem Licht: War es wirklich so schlimm? Natürlich hatten sie hart gearbeitet. Doch wer nicht aufmuckte, konnte sich arrangieren. Sich am Abend ein nahrhaftes Essen gönnen. Und dann ins Bett sinken. Es war doch gar nicht so schlecht. Damals in Ägypten.
Warum nur hatten sie auf Mose gehört? Zu träumen begonnen von einem Land, in dem angeblich Milch und Honig fliessen. Das war doch bloss ein PR-Gag. Von der Wüste, die sie auf dem Weg dahin durchqueren mussten, war dagegen nie die Rede. Auch nicht von der Hitze, vom Hunger, vom Muskelkater. – Es reicht jetzt! Freiheit ist doch überbewertet! Die Israeliten wollen zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens (Ex 16,2f). Sie murren! Und handeln sich einen 40jährigen Umweg ein…
Wir leben auf dem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft. Wir müssen aufbrechen in die Zukunft. An Lots Frau und an den Israeliten in der Wüste u.a. zeigt die Bibel: Wer in der Vergangenheit hängen bleibt, verliert die Zukunft.
Natürlich: Die Vergangenheit prägt uns. Aus Erinnerungen lernen wir. Und wir können daraus Kraft schöpfen. Erinnerung ist ein wichtiger Teil des Menschseins. Doch wenn sie uns an das Vergangene fesselt, wird es schwierig. Dann schauen wir zurück, wo wir längst aufbrechen sollten. Und wir bleiben stecken.
Jesus fasste das ins Bild: Wenn ein Bauer beim Pflügen nur zurückschaut, wird die Furche krumm. Die Orientierung nach hinten macht den Weg vorwärts unsicher und krumm. – Jesus sagt also: Ausrichtung nach vorne ist sehr wichtig. Im Leben überhaupt. Erst recht in der Nachfolge. Im Glauben. Er ermutigt uns zur entschiedenen Ausrichtung nach vorne: Das Alte hinter sich lassen – auch Gewohntes, Liebgewordenes, Sicherheit und Bindungen – und sich ganz auf die Zukunft mit Gott konzentrieren. – Ich lese noch einmal Lk 9,61f:
Wieder ein anderer sagte zu Jesus: »Ich will dir folgen, Herr! Doch erlaube mir, zuerst von meiner Familie Abschied zu nehmen.« Aber Jesus antwortete: »Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der eignet sich nicht für das Reich Gottes.« Lukas 9,61f (Basis Bibel)
Dieser Mann will nach vorne aufbrechen, will Jesus folgen! Er will sich „vorher“ nur noch verabschieden. Das klingt nachvollziehbar. Übergänge sind bewusst zu gestalten, heisst es heute. Man muss loslassen, bevor man Neues ergreifen kann. – Was uns einleuchtet, lehnt Jesus zumindest in diesem Fall ab. — Warum?
Manchmal muss man sich entscheiden! Es gibt nicht den Fünfer und das Weggli. Nachfolge heisst: Prioritäten setzen. Aufbrechen bedeutet auch Loslassen. Man kann nicht alles mitnehmen. – Darüber hinaus lehnt Jesus den gewünschten Abschied aus folgenden Gründen ab:
- In biblischer Zeit konnten Abschiede eine sehr langwierige Angelegenheit sein: Dazu gehörte nämlich nicht nur ein Abschiedsbankett, sondern auch die Klärung von Erbe und anderen Angelegenheiten. Das konnte dauern. — Ausserdem: Die Vergangenheit zu ordnen und das Erbe zu regeln bedeutet auch: Sich absichern statt vertrauensvoll aufbrechen.
- So kann der Aufbruch überhaupt in Gefahr geraten. Der Blick zurück kann zur Folge haben, dass man hängen bleibt. Bindungen, Verpflichtungen und Sicherheiten der Vergangenheit werden so womöglich Bremse oder gar Blockade.
- Und heute: Wovon will ich mich zuerst verabschieden, wenn Jesus ruft? Was will ich zuerst erledigen? Was will ich nicht loslassen? Was hindert uns, Jesus ganz zu folgen? – Ich komme auf diese Fragen noch zurück. Zunächst ist wichtig festzuhalten: Jesus ruft nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft.Sein Reich liegt nicht hinter uns, sondern vor uns.
1. Erinnerung: Gefahr und Gabe zugleich
Wie schon angedeutet, ist Erinnerung (→ Zurückschauen) nicht grundsätzlich schlecht. Wenn sie Dankbarkeit nährt. Wenn sie Lernschritten dient. Wenn sie Kraft und Freude weckt. Wenn sie uns zeigt, wo und wie Gott schon gewirkt hat. Dann ist Erinnerung nicht nur gut, sondern wichtig, ja nötig. Dann schenkt Erinnerung Leben und bewahrt Identität. Dann leitet sie uns an, im Vertrauen auf Gottes Wirken weiterzugehen.
Doch Erinnerung kann auch fesseln: Wenn wir zulassen, dass die Vergangenheit die Gegenwart überstrahlt. Wenn wir in die Nostalgie kippen und zu glauben beginnen, dass ‘früher alles besser war’. Wenn die Erinnerungen an vergangene Grösse den Blick auf die Herausforderungen heute und die Möglichkeiten morgen verdecken. Wenn Schuld und Verletzungen uns daran hindern, Neues zu wagen. Dann versteifen wir. Erstarren wie Lots Frau. Lassen uns blockieren von geschönten Erinnerungen wie die Israeliten in der Wüste. Und dann trifft uns Jesu Wort: «Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, eignet sich nicht für das Reich Gottes!» Das Reich Gottes nämlich ist auf die Zukunft ausgerichtet. Streckt sich aus nach den Möglichkeiten, die Gott schafft. Und so fragt uns Jesus sehr direkt: «In welche Richtung schaust du – zurück oder nach vorne? Willst Du im Gestern verharren oder auf das Morgen hin aufbrechen?»
Es ist nicht ganz einfach, dabei die Balance zu halten: Dankbare Erinnerung kann Kraft und Mut für die Zukunft generieren. Nostalgie aber macht das Vergangene zum Mass aller Dinge und bremst uns aus. Jesus nachfolgen bedeutet: Aufbrechen. Loslassen und Vertrauen. Selbst liebgewonnene Beziehungen, Pläne und Sicherheiten loslassen, um für das Neue offen zu werden, das Jesus schenkt.
2. Erinnerung an die Zukunft
Der Trick besteht darin, sich an die Zukunft zu erinnern. Das mag paradox klingen. Gemeint ist: Nicht vergessen, was Gott versprochen hat. Nicht glorifizieren, was war. Sondern sich ausmalen, was werden kann. Sich auf das Gelobte Land fokussieren statt auf die Fleischtöpfe Ägyptens. Aufbrechen in die Zukunft, die Gott schaffen wird.
Die Bibel ist ja voll von Erinnerungen an die Zukunft: Wenn sie vom verheissenen Land redet. Wenn sie das kommende Reich Gottes ausmalt. Wenn sie vom kommenden Retter und Erlöser spricht. Wenn sie die neue Schöpfung besingt. Gott hat so unendlich viele und grosse Möglichkeiten, die er uns eröffnet. Und auch wenn die Zukunft noch nicht exakt beschrieben ist. Es ist gewiss, dass Gott zum Guten wenden wird, was jetzt schief, krumm oder falsch ist. Dass Gott die Zukunft schaffen wird ist so sicher, dass wir uns im Glauben an sie erinnern können, als wäre sie schon Vergangenheit. – Ein gutes Beispiel dafür ist das Abendmahl:
- Wir erinnern uns an das, was Jesus getan hat – und zugleich feiern wir eigentlich schon die himmlische Tischgemeinschaft, die erst kommt.
- Wir erinnern uns an Gottes Treue – und daraus wächst Vertrauen in seine Zukunft.
Erinnerung an die Zukunft heisst also: Ich schaue zurück, um Mut für vorne zu bekommen. Ich erinnere mich an Gottes Zusagen, um mich nach seiner Zukunft auszustrecken.
Jesu Ruf ist auf die Zukunft gerichtet. Das Reich Gottes ist im Kommen und hat doch schon begonnen, überall wo Gott in der Kraft seines Geistes gegenwärtig ist und wirkt. So sind wir eingeladen, den Blick konsequent nach vorne zu richten. Das ist radikal, in mehrfacher Hinsicht.
- Priorisierung: Die Antwort Jesu macht deutlich: Ihm nachzufolgen hat oberste Priorität. Dem Weg folgen, den er vorausgeht. Das soll uns in allem bestimmen. Nachfolge ist nicht ein Lebensbereich neben vielen anderen. Nachfolge soll das ganze Leben prägen und ihm die Richtung geben.
- Die Vergangenheit kann das Starthaus sein. Aus der Erinnerung an Gottes Geschenke gewinnen wir Mut und Kraft, vorwärts zu gehen.
- Wir richten uns aber an der Zukunft aus. Das Kommen von Gottes Reich gibt uns die Richtung vor. Wir gehen der Zukunft Gottes entgegen
- Dabei sind wir in der Gegenwart aktiv. Mit Blick nach vorne legen wir die Hand an den Pflug. D.h. wir handeln jetzt. Wir stellen uns den Aufgaben, die Gott uns stellt. Wir leben unsere Berufung, üben Liebe, und bezeugen die Gute Nachricht von Christus. Die Arbeit am Reich Gottes findet im Hier und Jetzt statt.
3. Anwendung: Nachfolge heute
Jesus sagt: «Schau nicht zurück, sondern nach vorne – ich gehe mit dir.» Was heisst das konkret?
- Als Gemeinde/Kirche: Uns macht nicht aus, was einmal war. Wir nähren uns weder von der Tradition noch von der grossartigen Vergangenheit. Beides war gut und prägt uns bis heute. Doch wir sind nicht dazu da, die Erinnerung zu bewahren. Sondern wir fragen: Was will Gott heute? Was ist jetzt unsere Aufgabe? Was können wir tun? In welche Richtung geht er uns voran? – Den Chor, der so wichtig war, gibt es nicht mehr. Die vielen Menschen, die hier ein- und ausgingen, fehlen heute. Aber noch immer sind wir überzeugt von Gottes Evangelium. Und wir suchen danach, wie wir heute die Liebe Gottes erfahrbar machen können – für uns genauso wie für andere Menschen. Wir wollen im Leben umsetzen, was seine Liebe uns zeigt. Mit weniger Geld als früher. In einer Gesellschaft, denen die traditionellen Formen nichts mehr sagen. Aber überzeugt, dass Gottes Angebot auch heute entscheidend wichtig ist. Und im Wissen, dass viele ihn suchen. Bewegt von seinem Geist und inspiriert von seiner Liebe gehen wir zu den Menschen. Christus nach. Und verbunden miteinander: Weil wir es brauchen, uns gegenseitig an Gottes Versprechen zu erinnern. Weil wir es brauchen, voneinander ermutigt zu werden. Weil wir Schritte der Hoffnung und des Glaubens miteinander viel besser tun können als je für uns allein. Darum halten wir fest: „Das beste von allem ist, dass Gott mit uns ist!“ Und brechen so auf in die Zukunft. Immer wieder.
- Im persönlichen Leben und Glauben: Ich will nicht zurückschauen. Nicht immer wieder fragen: Was wäre, wenn? Aufhören, Entscheidungen zu bereuen und Schicksalsschläge zu verwünschen. Ich bin, wo ich jetzt bin. Egal, was alles war und was hätte besser sein können oder sogar müssen: Ich lasse es zurück. Ich vergebe, was mir andere angetan haben. Und – ganz wichtig – ich vergebe mir. Denn Christus hat mir schon lange vergeben. Er ist da geblieben. Gott ist mit mir gekommen. Jeden Schritt. Er ist auch jetzt da. Nicht nur neben mir, sondern vor mir. Christus geht mir voraus. Auf ihn kann und will ich vertrauen. Ich schaue vorwärts, breche auf und gehe ihm nach.
Die Vergangenheit brauche ich nicht zu verleugnen. Aber ich kann sie neu gewichten und zurück lassen im Licht der Zukunft Gottes. So werde ich frei, um vorwärts zu gehen, immer weiter, der Zukunft entgegen, die Gott für mich schafft.
Wir erinnern uns an die Zukunft, weil wir Gottes Versprechen kennen. Wir wissen, dass Jesus das Ziel ist, und dass das Reich Gottes kommen wird. Diese Gewissheit macht es uns möglich, den Pflug gerade zu führen.
In Erinnerung an die Zukunft aufbrechen. Darauf liegt Gottes Segen. — Wir leben also aus dem, was Gott versprochen hat. Und was in Christus längst begonnen hat. Daraus wächst die Kraft heute. Und daraus wird morgen immer noch genug Kraft wachsen. Wir sind Menschen auf dem Weg: Die Hände am Pflug. Die Augen auf die kommende Ernte gerichtet.
Erinnerung hält uns verwurzelt – aber die Hoffnung treibt uns vorwärts. So leben wir zwischen Gestern und Morgen – mit dem Blick auf Gottes Zukunft.
Wir erinnern uns an das Reich Gottes, das Gott erst schaffen wird. Und handeln doch schon jetzt nach den Kriterien dieses Reiches. men
