Predigt am 18.08.2024 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
der Wanderstecken in meiner Hand zeigt an, dass auch heute Bezüge zu meiner Wanderung im Sommer Teil der Predigt sind. Zum Einstieg sehen Sie das Thema eingeblendet: Unterwegs zu Hause. – Was löst diese Formulierung in Ihnen aus? Leuchtet sie ein? Stört sie? Löst sie Widerspruch aus?
Am letzten Sonntag lautete das Thema: Auf dem Weg. Es ging darum, wie sehr unser Glauben und Leben auf dem Weg geschieht. Heute spitze ich das mit ‚unterwegs zu Hause‘ zu. Damit teile ich eine Frage mit Ihnen, die mich schon lange begleitet und die auf dem Weg neue Aktualität gewann. Ohne dass ich sie abschliessend beantworten könnte.
Doch der Reihe nach: Wir sind Auf dem Weg. Jesus nachfolgen bzw. an Christus glauben bedeutet: auf dem Weg sein. Ob uns immer klar ist, wie sehr wir damit herausfordert sind? Mit Jesus auf dem Weg sein ist eigentlich eine nomadische Lebensform. Das Nomadische ist uns aber ziemlich fremd. Als Gesellschaft stehen wir ihm ja ziemlich kritisch oder sogar ablehnend gegenüber: Fahrende werden als ‚Zigeuner‘ beschimpft und auf wenige und kleine Flächen begrenzt. Mit Migration haben wir grosse Schwierigkeiten. Selbst Flüchtende nehmen wir eher grummelnd auf. Unser Lebensstil ist sesshaft. Wir haben uns unser ‚Plätzchen‘ erobert, das wir energisch verteidigen. – Ich habe den Eindruck, dass das nicht nur für unser Wohnen und Leben gilt. Sondern auch für unsere Überzeugungen, Konzepte und Gedanken.
Unser Leben ist von Sesshaftigkeit geprägt. Vom Wunsch und Bemühen, unseren Platz und Standpunkt zu sichern. Zu bleiben, wo wir sind. Zu bewahren, was wir erreicht haben. Und die Erinnerung an das, was war, zu pflegen. Das prägt auch unser Miteinander als Kirche: Wir sind mehr Institution als Bewegung. Die Tradition zu bewahren fällt uns leichter als im Aufbruch zu leben. – Die Frage sei erlaubt: Können wir so Jesus wirklich nachfolgen? Oder verharren wir nicht eher an Ort und Stelle …. und hoffen, dass er uns mal wieder besucht?
Das beschäftigt mich: Wie können wir dem Wesen des Glaubens als Nachfolge, als ‚Auf-dem-Weg-Sein‘ gerecht und treu bleiben? Wie vermeiden wir es als Kirche, zur Institution zu verknöchern und zu versteinern? Wie bleiben wir in Bewegung? Wie bleiben wir eine Gemeinschaft, die sich bewegt und lebt? Eine Gemeinschaft, die andere bewegt und sie zum Leben führt?
Viele grosse Gestalten der Bibel waren ‚Nomaden‘, immer auf dem Weg: Abraham, Moses, Elia, Jeremia, die Apostel, Paulus ganz besonders. Für Gründergestalten unserer Kirche gilt dasselbe, z.B. für John Wesley oder Francis Asbury. Die methodistischen Laienverkündiger waren lange im wörtlichen Sinn ‚Reiseprediger‘. Immer auf dem Weg. Weil sie Jesus, dem sie nachfolgten, wahrnahmen als den, der ihnen immer wieder voranging an neue Orte, d.h. vor allem zu neuen Leuten.
Nicht zuletzt von Jesus selbst heisst oft, dass er ‚auf dem Weg‘ war. Z.B. am Anfang des Abschnittes, den ich als Predigttext für heute ausgewählt habe, Lukas 9,57–62:
Dieser Abschnitt fasziniert mich einerseits sehr. Andererseits möchte ich am liebsten einen grossen Bogen darum herum machen. Denn ich sehe mich gewaltigen Ansprüchen gegenüber. Und frage mich: Muss ich, wenn ich Jesus nachfolgen will, nicht nur eine Nomade, sondern ein Obdachloser sein? Muss ich wirklich höchst berechtigte Erwartungen meiner Allernächsten in den Wind schlagen? Muss ich ohne Rückspiegel, d.h. ohne aus der Vergangenheit zu lernen, unterwegs sein? So klingt das doch!
Ja! Jesus stellt Ansprüche an seine NachfolgerInnen. Die will ich nicht vorschnell relativieren, sondern ernst nehmen: Er macht deutlich, dass Nachfolge im Leben der JüngerInnen höchste Priorität haben soll. Sie kann alles und jedes im Leben beeinflussen. Damit ist zu rechnen. Das ist ernst zu nehmen. Dennoch darf, ja muss beachtet werden: Wir haben es hier mit rhetorischen Zuspitzungen zu tun (® ‚Hyperbolik‘). Sie machen deutlich und unterstreichen: Die Beziehung zu Jesus setzt den Massstab für die ihm Nachfolgenden. Er gibt den Takt vor. Die Richtung. Das Tempo. Den Zeitpunkt. Als seine Jüngerinnen und Jünger soll uns nichts wichtiger sein als sein Vorbild, seine Richtung, sein Weg. – Aber wir haben in Lk 9 keine Gesetzestexte vor uns. Es sind keine Gebote: Ich muss nicht obdachlos werden. Ich darf und soll mir nahe stehende Menschen ehren. Ich darf, ja soll sogar aus der Geschichte, aus der Erfahrung, aus der Vergangenheit lernen. Dabei aber stets bereit sein und bleiben, die Schritte zu gehen, die Christus mir vorangeht … und wenn es mal hart auf hart kommt, nicht ihn, sondern andere warten lassen.
«Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.» — Dieser Satz beschäftigt mich zur Zeit am stärksten. Kann ich so sehr Auf dem Weg (Christus nach) sein, dass ich auch mal auf das Dach über dem Kopf verzichte? – Auf meiner Wanderung habe ich das nicht geschafft. Den Stress, am Morgen noch nicht zu wissen, wo ich abends schlafen könnte und das Risiko, nichts zu finden, vermied ich. Weit im Voraus buchte ich Unterkünfte für alle Nächte. Dabei würde ich mich eigentlich als nicht extrem sesshaft einschätzen. Anders als mein Grossvater z.B. war. Er wohnte sein Leben lang im selben Haus im Emmental. Uns einmal in Aarau zu besuchen, brachte ihn schon an die Grenze. Da bin ich doch viel mehr unterwegs zu Hause: Für mich ist Adliswil der 11. Ort im Leben, an dem ich zu Hause bin. In meinem Dialekt spiegeln sich etliche meiner früheren Wohnorte. Ich kann mich an vielen Orten schnell akklimatisieren und zu Hause sein. Ferien jedes Jahr am selben Ort sind für mich unvorstellbar. Und unterwegs im Wohnmobil fühle ich mich wirklich überall daheim.
Ich klebe also wirklich nicht an der Scholle. Und doch sehne ich mich immer wieder danach, an einem Ort anzukommen um zu bleiben. Es hat mich in den ersten Tagen meiner Wanderung richtig gestresst, immer wieder weitergehen zu müssen. Am Morgen war jeweils viel Widerstand zu überwinden um in die Gänge zu kommen. Mit der Zeit wurde es besser und ich fand einen guten Rhythmus. Aber in den anschliessenden Ferien nahm die Reiselust dann wieder deutlich ab. Zum Glück war auch Pia in diesem Jahr nicht allzu unternehmungslustig. So kehrten wir fast eine Woche vor Ferienende nach Hause zurück. Es tat uns wohl, zu Hause noch etwas zu sein, zu bleiben, zu verweilen. Das gab uns Geborgenheit und Sicherheit. Es tat gut, langsam wieder anzukommen und uns auf die Aufgaben hier einzustellen.
Ständig in Bewegung zu bleiben, immer unterwegs zu sein ist anstrengend und kostet Energie. Wenn Nachfolge Jesu bedeutet, auf dem Weg zu leben, dann bleibt sie eine Herausforderung für uns. Wir reden ja in Kirche und Gemeinde gerne und oft von Aufbrüchen und Neuanfängen. Verweisen gerne z.B. auf Abraham, den Vater des Glaubens, der auf Gottes Ruf hin ins Unbekannte aufbrach. Aber im Aufbruch zu leben bedeutet zugleich, das Vertraute hinter sich zu lassen. Es verlangt, die eigene Komfortzone immer wieder zu verlassen. Neue Schritte zu wagen.
Wie verträgt sich das mit unserem Grundbedürfnis, anzukommen um zu bleiben? Wo und wie finden wir Sicherheit und Geborgenheit? Wie kann ich zu Hause sein, wenn ich immer wieder aufbrechen und neue Schritte wagen muss?
Die Einladung lautet: Lerne unterwegs zu Hause zu sein! Was nach einem Widerspruch klingt, aber keiner sein muss. Was macht denn ein Zuhause aus? Wann fühle ich mich geborgen und sicher? Ist es wirklich eine bestimmte Örtlichkeit? Macht die Einrichtung, machen die Möbel einen Ort zu meinem Ort und zum Zuhause? Natürlich kann das helfen. Aber entscheidend ist doch: Nicht alleine sein. Akzeptiert, respektiert und geliebt sein. Sinnvolles tun können. Durchatmen können. Bei sich selber und bei Gott sein. Sich als integralen Bestandteil der Schöpfung wahrnehmen und erleben. Das alles ist auf dem Weg genauso gut möglich wie in meinen eigenen vier Wänden.
So gesehen ist das Zuhause weniger ein Ort als ein In-Beziehung-Sein: Zu Menschen, zu Gott, zu sich selbst, zur Schöpfung. Auf meiner Wanderung durch die CH ging es mir am besten, wenn ich mit anderen Menschen unterwegs war oder neuen Leuten begegnen konnte. Ausserdem in bewussten Gebetszeiten. – Ich kann und darf Unterwegs zu Hause sein. Wenn ich Christus nachfolge, bin von ihm gehalten und getragen. Ich kann Schritte wagen, die mich zu Begegnungen mit Menschen führen. Ich bin nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen unterwegs. Die Beziehung zu Christus wird mir unterwegs zum Ort der Geborgenheit, zum Zuhause.
Ein Selbstläufer ist das nicht. Ich muss es immer wieder üben und trainieren. Und um den Schritt aus der Komfortzone heraus komme ich nicht herum. – Nachfolge ist eine herausfordernde Einladung. Aber auch eine, die sich lohnt. Weil ich mich auf diesem Weg als radikal geliebt und respektiert erfahre. Weil mir so bereichernde Begegnungen geschenkt werden. Und weil ich so das Leben und mein Engagement als sinnvoll erleben kann.
Nachfolge bedeutet die Einladung, unterwegs zu Hause zu sein. Das gilt nicht nur für einzelne, sondern auch für Gemeinschaften. Es gilt für uns als Kirche. Wir sind eingeladen, aufzubrechen vom Ort, den wir erreicht haben und weiter zu gehen, Schritt für Schritt, Jesus nach. Nicht Regeln, nicht Gewohnheiten und Traditionen, nicht in Stein gemeisselte Glaubenssätze machen unser Zuhause aus. Sondern nur die Liebe Christi. Sie bewegt uns und leitet uns an, weiter zu gehen. Ihm zu folgen zu Menschen, die ihn und uns suchen und brauchen.
Wir sind auch als Kirche/Gemeinde nicht nur eingeladen, sondern herausgefordert, unterwegs zu Hause zu sein. Aufzubrechen und die Komfortzone hinter uns zu lassen. Jesus nachzufolgen. – Dazu ist uns versprochen, dass wir auf dem Weg unterstützt, getragen, gehalten und geleitet werden von ihm, von Jesus Christus, der uns vorangeht. Amen