Predigt am 01.09.2024 in der EMK Adliswil und in der Regenbogenkirche
Liebe Gemeinde,
berühren sich Himmel und Erde wirklich? Geht das? Die Sonne, die im Meer versinkt, ist eine optische Täuschung. Was sich in unseren Augen für Momente zu berühren scheint, bleibt eben doch 150 Mio. km voneinander entfernt.
Unbestritten ist aber, dass wir uns nach Berührungen des Himmels sehnen. Mit ‚Himmel‘ meine ich dabei, was im Englischen ‚heaven‘ heisst: Der von Gottes Gegenwart erfüllte Himmel. Engl. ‚sky‘ dagegen meint das Blaue über uns, das Firmament oder das weite (und doch sehr leere) Weltall. Das fasziniert zwar, aber wir sehnen uns nicht danach. Wir sehnen uns aber nach dem Zuhause Gottes, eben dem ‚Heaven‘. Gibt es Berührungen damit? – Die Bibel erzählt z.B. vom Besuch Gottes bei Abram und vom Gespräch der Emmausjünger mit dem Auferstandenen. Das sind sehr konkrete Erfahrungen von Berührung durch den Himmel. Doch das war vor langer Zeit. Gibt es so etwas auch heute?
Im Lied, das wir eben gesungen haben (Nr. 568 im EMK Gesangbuch: Wo Menschen sich vergessen), wird das bejaht. Und es wird festgemacht an Erfahrungen wie Umkehr, Liebe und Frieden. Vor allem aber an neuen Anfängen. Wenn und wo Menschen im Namen Gottes neu anfangen, berühren sich Himmel und Erde. Bloss: Solche Berührung durch den Himmel ist für uns nicht machbar, schon gar nicht erzwingbar. Nur auf Initiative des Himmels kommt sie zustande. So wie z.B. in dem Traum, der Jakob auf der Flucht die Verbindung zwischen Himmel und Erde in Form einer Leiter sehen liess. Oder denken wir an die Weihnachtsgeschichte: Es ist eindeutig die Initiative des Himmels, die noch weit mehr als eine flüchtige Berührung bewirkt: In Jesus kommt der Himmel auf die Erde, um zu bleiben. Der Himmel oder das Reich Gottes — wie ihn die Bibel oft nennt – ist also da. Es ist gegenwärtig und wirksam auf der Erde. Jesus erklärte das bei einer Gelegenheit den Pharisäern folgendermassen. Ich lese Lukas 17,20–21:
Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er ihnen: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Lukas 17,20f (Zürcher)
Das Reich Gottes ist da. Hier. Jetzt. Ganz. Dafür verbürgt sich Jesus. Und doch bleibt es in der Schwebe. Jesus sagt eben auch, dass man das Reich Gottes nicht an äusseren Zeichen festmachen könne. Und es lasse sich schon gar nicht festhalten. Dennoch: Das Reich Gottes ist da. Mitten unter uns!
Martin Luther übersetzte: „Das Reich Gottes ist ‚inwendig in euch‘“. Das klingt ziemlich mystisch. Und es war von der Tradition, auf die Luther sich berief, auch so gemeint. Nun liegt mir das Mystische nicht so nahe. Ich finde aber die Formulierung ‚inwendig in euch‘ doch hilfreich. Denn sie lässt erahnen, dass es dem Reich Gottes um Veränderungen geht, die der Himmel in den Menschen bewirkt: Vom Himmel Berührte schauen anders auf die Welt und die Menschen um sich herum. Sie eigenen sich gewissermassen den Blick Jesu an. Ihre Augen sind von Liebe geleitet und von der Verbundenheit mit Gott. Und so lernen sie, sogar im ganz Profanen, Spuren Gottes wahrzunehmen.
Der Himmel bzw. das Reich Gottes lässt sich auf Erden erfahren. Gottes Gegenwart ist wahrnehmbar. Davon bin ich fest überzeugt. Aber es ist eine Frage der Haltung und der Sichtweise. Man muss es sehen wollen. Und als Geschenk annehmen wollen. Dabei bleiben die Erfahrungen und Eindrücke immer hinterfragbar. – Wir haben in letzter Zeit manchmal von Himmelreichsmomenten geredet. Und dann haben wir von Erlebnissen erzählt, die für uns ganz persönlich den Himmel durchscheinen liessen. So lässt sich ganz subjektiv eine Berührung durch den Himmel erleben.
Subjektiv bzw. individuell begegnet uns Gott. So wie wir es sehen und fassen können. Darum ist es wichtig, aus solchen Momenten keine Dogmen abzuleiten. Wenn sich für mich in einem Erlebnis der Himmel spiegelt, muss ich das niemandem beweisen. Ich muss niemandem den Glauben, dass ausgerechnet mich der Himmel berührt hat, aufdrängen. Vielleicht sieht es nämlich für meine Geschwister ganz anders aus. Und dann ist das völlig ok. Es muss mir aber auch niemand den Eindruck auszureden versuchen. Hoffentlich lernen wir dafür immer besser, uns miteinander zu freuen, wenn jemand eine kleine Erfahrung mit Gott gemacht hat.
Dafür ist wichtig, dass wir Glaubenserfahrungen, und wenn es sehr subjektive Himmelreichsmomente sein sollten, miteinander teilen. Dass wir einander ermutigen und bestätigen: Ja, der Himmel ist erfahrbar. Ja Gott ist nahe. Das Reich Gottes ist mitten unter uns. Ich habe es z.B. so erlebt ….
Unserer Sprachfähigkeit dafür ist wohl noch ziemlich ausbaufähig: Wie können wir Glaubenserfahrungen miteinander teilen? – Als Beitrag dazu erzähle ich heute einige persönliche Erlebnisse: Da und dort auf meiner Wanderung habe ich nämlich solche Berührungen des Himmels erlebt. Abschliessen will ich danach mit kurzen Gedanken zur Frage: Was hilft, das Reich Gottes mitten unter uns besser wahrzunehmen?
- Eine Berührung des Himmels habe ich jeden Abend erlebt. Ich habe es wohl an den letzten Sonntagen auch schon angedeutet: Die herrliche Dusche nach einem langen und schweisstreibenden Wandertag. Ich behaupte: Kaum etwas kommt in unserer Welt der Erfahrung des Himmels näher als eine Dusche nach einem langen, heissen und ermüdenden Tag. Es ist so belebend. So erfrischend. So wohltuend und erholsam. Schon fast liturgisch habe ich meine Dusche bisweilen gestaltet. Und unter den Wasserstrahlen gesungen: „So wie ne fyne, erfrüschende Räge, … so, Herr, isch dyni Liebe, so Herr, isch dyni Gnad.“
- Begegnungen mit Menschen wurden mir zu starken Himmelreichsmomenten. Ein paar Beispiele:
- Viermal hat mich jemand einen Tag (und einer davon sogar zwei Tage) auf meiner Wanderung begleitet: Miteinander unterwegs zu sein. Zeit zu haben. Zu reden. Zu schweigen. Spass zu haben … Das liess mich viel vom Himmel ahnen. Und gelegentlich fühlte ich: Es ist fast wie bei den Emmausjüngern. Als ob Jesus mit uns mit wanderte und redete.Mit einer Wirtin im Berner Seeland bin ich in ein intensives Gespräch über Gott und die Welt geraten. Einfach so. Sie wollte von mir wissen, was um alles in der Welt mich zu Fuss ausgerechnet in Radelfingen landen und übernachten liesse. Ich habe ihr von meinem Wanderprojekt erzählt. Und sie hat begeistert eingehängt. Sie hatte auch schon Pilgererfahrungen gemacht. Bezeichnete sich zwar, wie sie betonte, als Agnostikerin. Aber Spiritualität interessierte sie sehr. Und so wurde es eine herzliche und intensive Begegnung, in der ich jedenfalls die Nähe Gottes gut zu spüren meinte. — Ob sie es auch gespürt hat? Und wie sie es nennen würde? Das weiss ich nicht….Ein anderes Mal in einem Migros-Restaurant: Ich hatte mich vor einem Regenschauer ans Trockene geflüchtet und mir ein Znüni gegönnt. Der an den Tisch gelehnte Wanderstecken fiel bald um. Ich liess ihn. Nicht aber der Teenager vom Nachbartisch. Er stand auf und reichte mir freundlich den Wanderstab. – Als ich ein paar Minuten später aufstand um weiterzugehen, drehte er sich am Nachbartisch noch einmal zu mir um und wünschte mir herzlich einen guten Tag. – Ich wurde wahrgenommen, gesehen. Die ehemalige Jahreslosung kam mir in den Sinn: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“
- Auch das tägliche Telefonieren mit meiner Frau war für mich während der Wanderzeit jedes Mal ein Himmelreichsmoment. Wir haben festgestellt, dass wir in dieser Zeit wohl ausführlicher miteinander kommuniziert haben als sonst im Alltag. Und suchen jetzt nach Möglichkeiten und Wegen, wie wir das beibehalten können.
- Gottes Nähe nehme ich auch wahr, wenn ich in Situationen komme, die für mich zwar zufällig sind und dennoch gut vorbereitet wirken. Zwei Beispiele:
- Ich hatte ganz zu Beginn meiner Wanderung einen Post von einem Pfarrkollegen auf Instagram gesehen. Er machte deutlich, dass er um jemanden trauert, der ihm nahe gestanden war. Ich kannte die Umstände aber nicht. – Einen Tag später war ich mit einem anderen Kollegen unterwegs. Und ich fragte ihn, ob er Genaueres wisse. Er konnte mir sagen, dass der Vater des trauernden Kollegen nach langer Krankheit gestorben sei. — Zwei Tage später treffe ich vor meiner Unterkunft in Biel den trauernden Kollegen zusammen mit seiner Mutter. Wir froh war ich da um die ‚Vorbereitung‘. Es hat das Gespräch mit den beiden speziell und intensiv gemacht, dass ich gleich zum Einstieg mein Beileid ausdrücken konnte. – Das meine ich mit ‚vorbereiteten Situationen‘
- Das Wetter hat mir ja einige Streiche gespielt. Unter anderem konnte ich nicht wie geplant durchs Maggiatal wandern, weil dort alle Wanderweg gesperrt waren. Via Internet habe ich in Giornico eine Unterkunft gefunden. Sie wirkte vertrauenswürdig. Gut im Schuss. Als ich ankam, sah auch alles gut eingerichtet und unterhalten aus. Aber es war niemand zu sehen. Es wirkte ziemlich ausgestorben. – Eine Wirtin tauchte aber bald auf und zeigt mir mein Zimmer. Sie bestätigte, dass ich auch bei ihr zu Abend essen könne. Wie sich dann zeigte, war ich der einzige Gast im Hotel. Sie führte es in dritter Generation, war unterdessen nahe am Pensionsalter und ausserdem gesundheitlich angeschlagen. Meine Übernachtung dort hat sie sicher nicht gerettet und ihr auch nicht die Fragen beantwortet, wie es denn weitergehen könne. Aber das Gespräch tat ihr offenbar gut. Und als ich mich für die Nacht zurückzog, hörte ich wie sie mit einer Freundin telefonierte. Und sie sagte: „Heute ist ein guter Tag. Heute habe ich Arbeit.“ – Ich hatte diese Begegnung nicht geplant. Und wenn ich es im Voraus gewusst hätte, wäre ich vielleicht sogar ausgewichen. Aber ich ging mit dem Gefühl zu Bett, an diesem Tag genau dort zu sein, wo ich sein sollte. — Vorbereitet von Gott? Ich will gerne davon ausgehen
- Die Schöpfung, in der ich unterwegs war, wurde mir immer wieder zum Hinweis auf die Nähe Gottes. Auch so erlebte ich Himmelreichsmomente. Der Bergfrühling z.B., wie ich ihn auf Grindelwald-First und auf dem Grimselpass erlebte, war unbeschreiblich. Alle Alpenblumen miteinander am Blühen. So dicht an dicht, dass es wie ein bunter Teppich aussah. Dazu herrlich klares und auch angenehm warmes Wetter. Wie heisst es bei Paul Gerhard: „Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerzeit!“ Genau so war es.
- Ein anderes Mal war das Wetter weniger stabil. Abschnitte mit Sonnenschein wechselten sich mit kurzen Regenschauern. Aber ich war am Trockenen, hatte mein Tagesziel schon erreicht. Und plötzlich überspannte ein Regenbogen das Tal. Das Bundeszeichen Gottes. Die Erinnerung und Bestätigung: Gott ist uns wohlgesonnen. Er sorgt für uns. Er ist da. – Was gibt es Schöneres zu Sehen beim Ausklingen eines Sommertages in den Bergen als einen Regenbogen?
Himmelreichsmomente, Berührungen des Himmels, Hinweise auf die Nähe und Liebe Gottes – es spielt keine Rolle, wie genau wir solche Erfahrungen nennen und einordnen. Wir müssen auch nicht darüber streiten, ob sie echt seien. Also: Ob wirklich Gott solches direkt für mich inszeniert habe. Oder ob der Eindruck einer Himmelsberührung doch eher aus meinem Bemühen, mit Gott unterwegs zu sein und ihn wahrzunehmen gewachsen sei. — Beweisen können wir Gott eh nicht. Aber wir glauben an ihn. Wir halten uns daran, dass die Botschaft der Bibel uns einen liebevollen Gott näher bringt. Und wir entscheiden uns dafür, diesen Gott sehen, wahrnehmen zu wollen. Diese Entscheidung für Gott, dieser Glaube ist ein wichtiges Element für die Fähigkeit, den Himmel zu erfahren.
Hilfreich ist ausserdem, Zeit zu haben. Viel Zeit. Und in einem guten Rhythmus, in einem angenehmen Tempo unterwegs zu sein. So, dass ich gut vorwärtskomme lässt und doch offen sein kann für Wahrnehmungen und Impulse von aussen.
Das Wichtigste aber, so scheint mir, ist die Erlösung von unseren selbstdefinierten Dringlichkeiten und Notwendigkeiten. Die Relativierung unserer To-Do-Listen. Und die Bewahrung davor, ständig mit starrem Blick nach vorne und unten den kürzesten Weg gehen zu müssen. – Ich sehne mich selbst nach meiner Wanderung in dieser Beziehung nach viel mehr Freiheit. Nach Erlösung. Wir können in unserem Alltag viel von Gottes Nähe, Liebe und Begleitung wahrnehmen. Wir können ungeplant in gute Begegnungen und Gespräche geraten. Wenn wir nur fähig sind oder werden, etwas flexibler mit unseren Plänen umzugehen und etwas offener für die Impulse Gottes zu sein. Es ist so, wie Jesus sagt: Das Reich Gottes ist mitten unter uns. Mein Gebet und meine Hoffnung für uns alle ist, dass wir besser lernen, das auch wahrzunehmen und uns davon inspirieren und ermutigen zu lassen. Amen