Predigt zu Johannes 19,16–30 in der EMK Adliswil am Karfreitag 18.04.2025

Liebe Gemeinde,
als Schriftlesung haben wir gehört, wie das Jh-Ev die Geschichte des Karfreitags erzählt. Es setzt dabei im Vergleich mit den anderen Evangelien ganz eigene Akzente. Vielleicht fällt das so beim Zuhören gar nicht auf. Wenn man die Berichte von Jh und die anderen drei nebeneinander hält, ist es aber offensichtlich: Jh erzählt positiver, hoffnungsvoller. Er hat sich entschieden, seinen Bericht ganz vom Sieg an Ostern her zu gestalten. Dagegen erzählen Mt, Mk und Lk, als wüssten sie noch nicht um das ‚Happy End‘. Ihre Berichte sind geprägt vom Leiden Christi (und der Jünger:innen) im Moment des Geschehens.- Ich versuche heute in der Predigt den Ton des Jh-Ev aufzunehmen.
Über dem Gekreuzigten liess Pilatus eine Tafel anbringen. Wie auch Mt erwähnt, stand darauf: ‘Jesus von Nazareth, der König der Juden’. Auf Lateinisch heisst das: ‚Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum‘. Die Anfangsbuchstaben dieser Worte ergeben das INRI, das auf vielen Passionsbildern zu sehen ist. Das war also die Begründung, weshalb Jesus am Kreuz hing. Weil er ‘der König der Juden’ war.
Damit waren Jesu Gegner allerdings nicht einverstanden, wie das Jh-Ev erzählt. Sie monieren: Jesus habe ’nur’ von sich behauptet, er sei der König der Juden, was er aber gar nicht war. Darauf weisen jene, die den Prozess gegen Jesus angezettelt hatten, hin. Pilatus’ Formulierung stellte sie in ein schlechtes Licht. Schliesslich könnte man daraus ableiten, dass sie ihren König umgebracht hätten. — “So nicht, Pilatus!’ reklamierten sie deshalb und verlangten eine Korrektur. Sie blieben aber erfolglos: “Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.” Pilatus bliebe dabei und bestätigte so ‚amtlich‘: Jesus von Nazareth war der König der Juden.
Im Prozess hatte der Statthalter Jesus ja gefragt, ob er der König der Juden sei. Jesus hatte dies zunächst nur nicht verneint. Erst auf Pilatus‘ Nachfragen bestätigte er ausdrücklich: „Ja, ich bin ein König!“ Aber, so Jesus weiter, sein Königreich sei nicht von dieser Welt. Seine Aufgabe als König sei auch nicht das Regieren. Sondern er müsse die Wahrheit bezeugen. Der Wortwechsel endete mit Pilatus‘ skeptischer Rückfrage: “Was ist Wahrheit?” – Mit der Kreuzesinschrift wurde Pilatus dann in der Sicht des Jh-Ev zum Zeugen der Wahrheit, dass Jesus König sei.
Die Folterknechte nutzten den Königstitel dann, um Jesus zu verspotten und zu quälen. Pilatus spottete nicht. Zwar ist unwahrscheinlich, dass er es selbst glaubte. Aber er wollte festgehalten haben, was Jesus selbst von sich sagte und was ihn ans Kreuz brachte: ‘Jesus Nazarenus Rex Judaeorum’, abgekürzt INRI. — So wurde das veröffentlicht. Übrigens wohl nicht nur in Hebräisch/Aramäisch, sondern auch in den damaligen Weltsprachen Griechisch und Latein. So erhält Jesu Tod von Anfang an nicht lokale, sondern globale Bedeutung: Viele Menschen aus aller Welt werden nachfragen, was für einer der war, der da am Kreuz hing.
‘INRI’ — vier Buchstaben also, ein Tetragramm, genau wie der Gottesname im AT (→ ‚Jhwh‘) aus vier Buchstaben des hebräischen Alphabets besteht. Das ist kein Zufall. Diese vier Buchstaben am Kreuz Christi halten die Gottheit Jesu fest. Das Kreuz wäre eigentlich das Symbol für Schande, Scheitern und ein vernichtendes Urteil. Doch ausgerechnet das Kreuz bezeugt mit seiner Inschrift die Würde und Hoheit Jesu: Er ist der König der Juden.
Damit sind wir beim eigenen Ton/Klang, in dem das Jh-Ev erzählt. Hier ist das Kreuz nicht Symbol der Erniedrigung und des Scheiterns, sondern Ort der Erhöhung Jesu. Der Evangelist Johannes denkt und berichtet von der Ostererfahrung her. Er weiss ja, wie es herauskam. Das lässt er selbst in der Schilderung von Jesu Leiden durchscheinen. In Jh’s Passionsgeschichte schwingt an jeder Stelle der Triumph von Ostern mit. Der Schrei der Gottverlassenheit fehlt. Dafür stellt der Gekreuzigte am Schluss selbst fest: “Jetzt ist es vollbracht!” Das angestrebte Ziel ist erreicht. Und danach, im Bericht des Jh-Ev noch immer ganz Herr des Geschehens, übergibt Jesus seinen Geist (d.h. sein Leben) an Gott. Und vollendet damit das Werk Gottes in diesem Leiden und diesem Tod. Es ist vollbracht.
So wurde Wirklichkeit, was Jesus schon ganz zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit Nikodemus eines Nachts ankündigte (vgl. Jh 3): Der Menschensohn muss erhöht werden. Genauso wie Mose einst in der Wüste die eherne Schlange hoch über das Lager Israels erhöht hatte. Alle, die auf sie schauten, überlebten. Genauso ist es mit Jesus: Wer auf ihn schaut, an ihn glaubt, wird das ewige Leben haben. Das Kreuz bedeutet seine Erhöhung. Damit zeigt das Jh-Ev Jesus schon am Kreuz als Sieger. Sein Tod wird überstrahlt von seiner Erhöhung im Sterben. – Im Jh-Ev bedeutet Jesu Tod nicht Finsternis, sondern Licht. Darum fehlt hier z.B. auch der Hinweis auf die Finsternis im Moment von Jesu Sterben. Schliesslich kommt jetzt ans Licht: Die Todesstunde Jesu ist die Stunde Gottes. In diesem Moment verherrlicht er seinen Sohn am Kreuz.
So erzählt Jh vom Karfreitag. Er betont die Hoheit des Gekreuzigten und redet vom ‘König der Juden’. Jesus hat in seiner Sicht immer alles, das ganze Geschehen, im Griff. Das zeigt sich u.a. auch darin, wie Jesus vom Kreuz herab mit den trauernden Seinen umgeht: Er ruft zwei aus dem Trauerumzug heraus und weist sie aneinander: Maria, seine Mutter, und den Jünger, den er lieb hatte (Die Tradition nimmt an, dass dies Johannes gewesen sei). Das ist eine letztwillige Verfügung mit Symbolcharakter für alle, die an Jesus glauben. Maria und der Jünger werden berufen, Gottes Familie zu sein. Jesu Wort begründet eine familiäre Gemeinschaft: Wer an Jesus glaubt, gehört zu seiner Familie.
Nachdem Gottes Werk vollbracht ist, erhält die Nachfolge eine neue Qualität und Bedeutung: Von jetzt an heisst Nachfolge nicht mehr, als ‘Fan-Klub’ mit einem Prediger übers Land zu ziehen. Sondern nun bedeutet Nachfolge: In (familiärer) Gemeinschaft mit dem erhöhten Gekreuzigten leben, seine Botschaft Christi zu bezeugen und Menschen in die Familie Gottes aufzunehmen.
Man sollte Jh nicht vorwerfen, dass er in seinem Passionsbericht das Kreuz verharmlose. Er weiss genau, dass die Kreuzigung die brutalste Hinrichtungsart war und zugleich die Verfluchung der Verurteilten bedeutete. Er weiss auch, dass es für einen Menschen, der am Kreuz hängt, nichts mehr zu hoffen gab. “Aber” sagt Jh “das ist nicht alles!” Das ist nur die eine Seite der Sache. Da hängt nicht nur ein Mensch. Da hängt eben auch Gott selbst. Das ist die andere Seite: Gott war so sehr mit diesem Menschen Jesus verbunden, dass er jetzt mit am Kreuz hängt. Und so erhöht Gott Jesus zu sich. Darum bedeutet sein Kreuz den Anfang der Hoffnung und die Rettung.
Es ist tatsächlich, wie es schon damals mit der Schlange in der Wüste war: Wer auf sie schaute, war gerettet. Das Volk hatte auf dem langen Weg aus der Knechtschaft in Ägypten die Geduld verloren. Es murrte gegen Gott und Mose. Es wünschte sich die vermeintlichen Bequemlichkeiten des ägyptischen Exils zurück. Diese Gedanken fielen wie giftige Schlangen über die Israeliten her. Wer davon gebissen wurde, war des Todes. Wer sich aber wegdrehte und zum Schlangenbild blickte, das Mose errichtet hatte, blieb am Leben. — So ist es auch mit Christi Kreuz: Zu Nikodemus sagte Jesus: “Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so wird auch der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Wer auf Christus schaut, ist gerettet. Wenig später steht dann im Jh-Ev der bekannte Satz: “So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.”
Es ist die Liebe Gottes, die Christus ans Kreuz bringt. Natürlich weiss Johannes um die Sünde. Er würde aber nie sagen, dass Sünde Jesus ans Kreuz bringt. Sünde wird nämlich nicht durch Strafe, sondern durch Liebe überwunden. Nicht ‚Gottes Gerechtigkeit‘ muss befriedigt werden, sondern Gottes Liebe. Diese geht den Menschen nach bis zum Letzten. Wenn es sein muss, eben bis in den Tod. Die Liebe nimmt alles auf sich, weil Gott seine Menschen nicht mehr vermissen will. Darum werden nicht Menschen mit dem Tod bestraft. Sondern Gott geht in den Tod und holt Menschen von dort zurück zu sich, zum Leben. Darum wird im Jh-Ev das Kreuz zum Zeichen des Sieges. Ostern ist hier schon an Karfreitag voll mit drin.
Mir gefällt, wie das Jh-Ev im Symbol des Kreuzes beide Pole zusammenbringt: Leiden und Überwindung, Schuld und Erlösung, Sterben und Ewiges Leben. Für diese Zusammenhänge gibt es ein zweites — vom Kreuz Christi geprägtes Symbol: Das Abendmahl, das wir in diesem Gottesdienst miteinander feiern.
Darin geht es um unsere Gemeinschaft mit Gott. Diese Gemeinschaft macht er neu. Das ist nötig, weil wir sie haben zerbrechen lassen, indem wir Gott ausgewichen sind, uns vor ihm versteckt haben und immer wieder getan haben, als ob wir Gott nicht brauchen würden. Wir tragen in uns eine Neigung, uns von Gott zu entfernen. Die Bibel nennt das Sünde und macht klar: Daraus können wir uns aus eigener Kraft nicht befreien. Da helfen keinen guten Vorsätze und keine Anstrengung. Wir können das Problem nicht lösen, wir können nur auf Erlösung warten. Verdrängung nützt nichts und abtragen können wir unsere Schuld auch nicht. Es funktioniert auch nicht, die Schuld auf Gott abzuschieben und zu sagen: “Ich bin halt so, und so wie ich bin, bin ich Gottes Geschöpf…‘
Wir sind Gottes Geschöpfe – das ist wahr. Gott hat uns nach seinem Bild geschaffen. Doch wir erleben immer wieder, dass wir hinter diesem Bild zurückbleiben. Wir sind nicht die, die wir sein wollen und sollen. Unser Gewissen sagt uns, dass wir immer zurückbleiben hinter dem, was wir sein sollen und wollen. Das ist der Graben, den wir nicht überbrücken, die Differenz, die wir nicht ausgleichen können. Darum geht es wenn wir von der Sünde reden.
Und darum geht es, wenn wir von Erlösung reden. Das Kreuz Christi gleicht die Differenz aus, überbrückt die Lücke, schafft Gemeinschaft, stiftet Frieden, führt uns zurück zu Gott und stellt das Bild Gottes in uns wieder her: Dass wir Gott erkennen, wie er ist. Und dass wir uns erkennen, in Entsprechung zu ihm. Das ist ja das Erstaunliche: In Christus wendet Gott sich nicht ab von Sündern, sondern er wendet sich ihnen zu. Er richtet sie auf und nimmt sie in sein Haus und in seine Familie.
Man hört oft: Das Kreuz ist der Vollzug der Gerechtigkeit Gottes. Und das wird so verstanden: Damit Gott Recht behält gegen die Sünde muss einer sterben. — Das Jh-Ev dagegen erklärt Jesus Tod am Kreuz von der anderen Seite her. Es spricht von der Liebe Gottes, die grösser ist als seine Gerechtigkeit und sie überbietet. Ja, Gottes neue Gerechtigkeit ist nichts anderes als seine Liebe. Und die ist eben nicht dem Tod verpflichtet, sondern dem Leben. Martin Luther sagt einmal: “Bei Gott ist Leben und Lieben dasselbe”. Und er spricht von Gott als dem “glühenden Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht.” Das war die Entdeckung, die für ihn die Wende brachte. Das befreite ihn vor der Angst vor Gottes Zorn und schenkte ihm die Gewissheit: Gottes Liebe sucht, findet und hält uns. Und im Kreuz Christi ist diese Liebe da.
Wenn wir jetzt Abendmahl feiern miteinander, ist mir wichtig: Dabei spielt unsere Schuld zwar eine Rolle. Aber eine Nebenrolle. Die Hauptrolle spielt Gottes Liebe. Sie hat in Christi Sterben und Auferstehen unsere Schuld überwunden. Seine Liebe spricht uns zu: Es geht um dich, du bist gemeint, du bist erlöst. Es ist vollbracht. Gottes Liebe hat es vollbracht. Amen
