Predigt am 07.04.2024 in der EMK Adliswil
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ich habe Anfang Woche ein Mail erhalten. Darin hat mir jemand ausführlich von einer anderen EMK-Gemeinde erzählt. Es ist von vielen Problemen die Rede. Aber der Bericht endet dann so: „Unsere Gemeinde würde es, menschlich gesehen, in dieser Form nicht geben nach allen Problemen, die wir in den letzten Jahren hatten. Und doch gibt es sie. Sie ist lebendig und Vielen eine Heimat. Ostern — Auferstehung, das Ende der Hoffnungslosigkeit, wenn auch anfänglich gar nicht wahrgenommen.“
Wir haben am nächsten Donnerstag Bezirksversammlung. Sie haben die Berichte vielleicht schon gelesen. Die Zahlen zu den Finanzen mitgenommen und studiert. Und dabei wohl entdeckt: Es gibt Herausforderungen, Sorgen und Fragen. Die Zukunft unseres Gemeindebezirks mag – menschlich gesehen – kurzfristig gesichert sein. Mittelfristig steht sie mindestens auf wackligen Füssen. Und langfristig? Na ja, sagen wir mal so: Würde jemand wetten, dass es den Gemeindebezirk in zehn Jahren noch so gibt? – Das wäre menschlich gesehen riskant. Anzeichen eines neuen Aufschwungs drängen sich ja nicht auf.
Aber wir kommen von Ostern her, von der Auferstehung Christi. Sie stehen für die Hoffnung: Es gibt eine Zukunft! Es gibt einen Neuanfang! An Karfreitag war die Situation so hoffnungslos, wie es nur möglich ist. Und doch folgte darauf Ostern! Wagen wir es, darauf zu vertrauen? Gerade im Blick auf unser Miteinander-Gemeinde-sein? Riskieren wir es, auf Christus zu zählen? Auf das Leben, dass er weckt und schafft? Auch bei uns?
Wir sind – das macht den christlichen Glauben vielleicht etwas ‚verrückt‘ – aufgefordert, auf die Kraft der Auferstehung zu vertrauen. Auch wenn davon bei uns aktuell wenig zu sehen sein mag. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ So hat der Auferstandene Christus zum Jünger Thomas, dem sogenannten ‚Zweifler‘ gesagt. Und so sagt er auch zu uns: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Thomas war mir schon immer besonders sympathisch. Ich fühle mich ihm ein wenig verwandt. Weil er auch zu den Stilleren gehörte (weshalb man wenig von ihm weiss). Und weil er wohl ein gründlicher, kritischer Denker war. Thomas liess sich nicht gleich ein U für ein X vormachen. Das hat ihm den Übernamen ‚Zweifler‘ eingebracht. Weil er sich nachzufragen getraute, als ihm zehn Jünger erklärten: „Jesus lebt! Wir haben ihn gesehen!“
Wer war dieser Thomas? Ich habe versucht, mich in ihn hineinzuversetzen. Stellen Sie sich vor, Thomas würde an meiner Stelle auf der Kanzel stehen. Und er würde von sich erzählen:
Ich, Thomas, bin ein Jünger und Apostel Jesu Christi. So bekannt wie Petrus oder Johannes war ich nie. Gott sei Dank. Mir ist im Hintergrund nämlich wohler. Weil ich lieber zweimal nachdenke, bevor ich etwas sage. So falle ich halt weniger auf. Vielleicht würde mich niemand kennen, wäre es nicht zu dieser Geschichte gekommen: Extra für mich ist Jesus noch einmal zu uns gekommen.
Aber schön der Reihe nach. Fangen wir vorne an: Meine Eltern waren nicht gerade steinreich. Aber sie konnte es sich gut leisten, mich in die Schule zu schicken. Sie ermöglichten mir eine gute Ausbildung. Ich habe alles gelernt, was es zu lernen gab: Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichen. Auch Sprachen habe ich gelernt. Vor allem Griechisch. Damals die Sprache der Gebildeten. – Das Lernen ist mir leicht gefallen und hat mir Spass gemacht. Ich dachte: Wenn ich viel lerne, dann verstehe ich die Welt besser. Dann komme ich auch im Leben besser zurecht.
Ich wollte alles wissen: Was es auf der Welt gibt. Warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum die Menschen sich so verhalten, wie sie es tun. Und vor allem wollte ich wissen, wer und wie Gott ist. — Zwar war die römische Provinz Syrien-Palästina nicht gerade der Nabel der Welt. Gelehrte waren eher dünn gesät. Aber man konnte doch Lehrer zu finden, die schon in Griechenland und sogar in Rom waren. Auch die Schriften der grossen griechischen Denker waren vorhanden.
Ich habe alles gelesen, was ich kriegen konnte. Mathematik habe ich gelernt. Mich mit den Sternen, mit Astronomie beschäftigt. Und die Kunst der Rhetorik gelernt. Aber am meisten beschäftigte mich die Philosophie. Sie stellte die wichtigsten Fragen: Was ist der Mensch? Wie soll der Mensch leben? Wie kann der Mensch glücklich werden? Was ist der Tod? Können wir die Wahrheit erkennen?
Seltsam war nur: Je mehr ich las und je länger ich nachdachte, desto verwirrter wurde ich. Die griechischen Philosophen redeten so anders über Gott als Mose und die Propheten Israels. Dabei waren sie sich alles andere als einig. Es gab unterschiedliche philosophische Schulen. Die konkurrenzierten sich bei der Suche nach Wahrheit. Wer hat denn recht? Warum finden Menschen ausgerechnet bei den grossen Fragen des Lebens nicht eindeutige Antworten?
Auf lange Sicht half mir nicht, was ich alles gelesen, gehört und studiert hatte. Im Gegenteil: Die Philosophen überzeugten mich nicht mehr. Ihre Formulierungen klangen zwar wunderschön. Aber sie fühlten sich hohl an. Weit weg vom Leben. Ähnlich ging es mir aber auch mit Mose und den Propheten. So viele Fragen blieben offen! Und erst die Wunder, von denen die alten Schriften erzählten: Konnte das denn stimmen? — Alles schien so weit weg von meinem Leben.
Schliesslich nahm ich nur noch ernst, was sich sozusagen aufdrängte: Die Mathematik z.B. Sie war logisch und tolerierte keine Widersprüche. Mit dem Verstand konnte ich sie begreifen. – Dann die Freude am Essen und Trinken und an schönen Dingen. Das war handfest, konkret. – Und meine Freunde waren wichtig: Mit ihnen konnte ich mich vergnügen und die Langeweile vertreiben. – Dabei blieb aber das Gefühl, dass etwas fehlte. Ich wollte an etwas glauben können, das mir Boden unter die Füsse gab. Aber ich wusste nicht, woran und wie.
Dann kam der Moment, als Jesus von Nazareth in die Nähe meines Wohnortes kam. Sehr viele gingen hin und hörten ihm zu. Sie erzählten begeistert von ihm. – Ich war natürlich sehr skeptisch: Ein Rabbi aus Nazareth, ein kleiner Dorfprediger? Was sollte der mir schon zu sagen haben? Die Leere in mir war aber gross genug, dass ich mich doch auch auf den Weg machte. Nur um auch mitreden zu können. Und dann hörte ich Jesus reden.
Von Gottes Herrschaft sprach er. Davon, dass sie hier und jetzt – mitten unter uns — wachse. Seine Auslegung des Gesetzes überzeugte. Auch sein Aufruf zu Liebe und Vergebung. Heuchelei verurteilte er. Er brachte Gottes Liebe zu denen, die niemand sonst beachtet. Jesus predigte gegen Lebensangst und beklemmende Sorge an. — Und wie er erst mit den Menschen umging! Er nahm alle ernst, die zu ihm kamen. Und staunend sah ich, wie Menschen, die ihm vertrauten, an Leib und Seele gesund wurden.
Jesus war anders als alles, was ich bis dahin kannte. Vielleicht auch deshalb, weil seine Worte von Taten begleitet waren. Seine Taten erklärten seine Worte, und umgekehrt. Und plötzlich wusste ich: Bei ihm finde ich, was ich solange gesucht hatte. So wurde ich sein Jünger, gehörte zum engen Kreis der Zwölf. Einfach war das aber nicht. Mit den anderen Jünger hatte ich meine Schwierigkeiten. Ok, mit Johannes konnte man reden. Aber die anderen? Einige von ihnen waren Fischer, die noch nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben konnten. Andere kamen von den Zeloten und hatten einen gewalttätigem Hintergrund.
Ich war wohl sehr überheblich. Bildete mir viel auf mein Wissen, auf meinen Verstand, auf meine Urteilskraft ein. Und so wurde ich ein Aussenseiter unter den zwölf Jüngern. Mir schien, die anderen wären viel näher bei Jesus als ich. Sie konnten auch besser mit Menschen umgehen als ich. Wenn Leute zu Jesus kamen und eine Zeit warten mussten, sprachen sie eher mit den anderen als mit mir. «Wer versteht mich schon?», dachte ich. Und manchmal auch: «Worauf habe ich mich eingelassen? Ist Jesus wirklich so anders als alle anderen? Wer ist er eigentlich?» — Die Stimme der Zweifel begleitete mich noch immer.
Jesus begeisterte nicht alle. Es gab auch Gegner, sogar Feinde. Darum waren wir Jünger auch alles andere als begeistert, als er sagte: «Wir gehen zum Passafest nach Jerusalem.» Dort hatten nämlich seine Gegner die Oberhand. Sie hatten Macht und Einfluss auf den römischen Statthalter.
Aber Jesus liess es sich nicht ausreden. Viel Merkwürdiges sagte er in diesen Tagen. Dinge, die wir Jünger alle nicht verstanden. Erst im Nachhinein begriffen wir dann, dass er von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen sprach. Bevor das geschah, waren wir wie Blinde. Und als es passierte, waren wir nicht nur blind, sondern auch noch gelähmt — vor Angst. Jesus wurde verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Für uns bedeutete dies das Ende. Wenigstens hatten wir in einem Haus gastfreundliche Aufnahme gefunden. Doch in diesem Haus sassen wir nun fest. Alle hatten Angst, dass jemand uns entdecken könnte. Wenn wir dann als Anhänger Jesu angezeigt worden wären: Wer weiss, was mit uns hätte passieren können!
So verschlossen wir Türen und Fenster und versteckten uns. Die Tage und Nächte vergingen quälend langsam. Am dritten Tag, dem Sonntag war, die Stimmung war am absoluten Nullpunkt. Einige von den Frauen gingen zum Grab, um Jesu Leichnam zu salben. Unter uns Zurückbleibenden war die Atmosphäre zum Zerreissen gespannt. Und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus. Egal, wie gefährlich das sein mochte. Und so verliess ich das Haus, irrte ziellos in den Gassen Jerusalems herum, den ganzen Tag lang. Erst spät am Abend kehrte ich hungrig und erschöpft zu den anderen Jüngern zurück. Doch es war merkwürdig: In ihren Augen leuchtete wieder Hoffnung und Zuversicht. Der Schleier der Verzweiflung schien zerrissen … für sie, jedenfalls.
«Wir haben den Herrn gesehen!» sagten sie nur. Doch in mir blieb alles tot. So sehr wie in diesem Moment hatte ich mich noch nie als Aussenseiter wahrgenommen. Jesus sollte auferstanden sein? Und er sollte die anderen besucht haben? Ausgerechnet, als ich weg war? – Wie sollte ich das glauben können? Ich, mit meiner Bildung und meinem Verstand, sollte dem Wort von Fischern vertrauen? Wie sollte ich mich in einer so wichtigen Sache auf das Wort anderer verlassen können? – «Nein», sagte ich darum. «Wenn ich ihn nicht selbst anfassen kann — seine Wunden spüren, in seinen Händen, an seiner Seite — dann kann ich das nicht glauben.» Ich wollte Jesus nicht nur sehen. Ich musste ihn anfassen, begreifen. Nur so wäre das Unglaubliche fassbar.
Wir blieben vorläufig in Jerusalem. Und ich blieb bei den anderen Jüngern. Obwohl ich es kaum aushielt. Das ständige Reden davon, dass er lebe, auferstanden sei, den Tod besiegt habe. Es wollte keinen Sinn machen für mich. Und doch blieb ich…
Eine Woche später, wieder am Sonntag, passierte es. Wir waren beieinander. Die Türen waren verriegelt. Doch plötzlich war Jesus bei uns drin. «Friede sei mit euch!» sagte er. Und dann sah er mich an und sagte zu mir: «Leg deinen Finger auf meine Hände, leg deine Hand auf meine Seite. Thomas, fass mich an! Begreife, dass es wahr ist, was du siehst und was du fühlst. Sei nicht ungläubig, sondern gläubig.»
Eigenartig! Das musste ich gar nicht. Ich musste ihn nicht anfassen. Vermutlich huschte ein Lächeln über mein Gesicht. In diesem Moment, als ich begriff, wie wenig meine Hände und meine Augen mir die Wahrheit beweisen können. Und wie wenig mein Verstand mich von der Wahrheit überzeugen kann.
«Mein Herr und mein Gott!», hörte ich mich sagen. Jetzt war ich sicher: Durch Jesus kommt Gottes Wahrheit zu mir. Und noch lange klang Jesus letzter Satz in meinen Ohren nach: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!»
Das ist mir seither ganz klar: Ich hätte dem Wort der anderen Jünger vertrauen können ohne Jesus selbst gesehen zu haben. Denn den Glauben machen nicht unsere Augen oder unser Verstand. Den Glauben macht Jesus selbst in uns. Ich hatte nicht gezweifelt, weil ich nichts gesehen hatte, sondern weil ich mich vor Jesus verschlossen hatte, weil ich meine Bildung, meinen Verstand als Mass aller Dinge genommen hatte. Doch Bildung und Verstand haben mich nicht froh werden lassen. Sondern der Glaube an Jesus Christus, den Auferstandenen. – Es kommt bis heute vor, dass mich Zweifel angreifen. Aber irgendwie sind sie auf verlorenen Posten. Denn immer wieder erlebe ich: Jesus weckt den Glauben in mir. Und dann sage ich mir wieder vor: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!» — So weit Thomas.
Jesus weckt Leben. Weckt Hoffnung. Weckt Glauben. Schenkt neue Anfänge, wo das aussichtlos scheint. – Der Auferstandene ist das personifizierte Aber auf all unsere Ängste, Sorgen, auf unseren gut begründeten Pessimismus. Wo es menschlich gesehen nicht mehr weiter geht, hilft das Vertrauen auf die Auferstehung. Es mag herausfordernd sein. Aber es ist wichtig, ja entscheidend! Darum: Vergessen wir nicht, in unserem Miteinander-Gemeinde-Sein auf die Kraft des Auferstandenen zu bauen und mit ihr zu rechnen!
Ganz zum Schluss lese ich jetzt noch den Bibeltext, der dieser Predigt zugrunde liegt: Jh 20,24–29, in der Übersetzung der Zürcher Bibel: Thomas aber, einer der Zwölf, der auch Didymus (=Zwilling) genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sagte zu ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und nicht meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite legen kann, werde ich nicht glauben. Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drinnen, und Thomas war mit ihnen. Jesus kam, obwohl die Türen verschlossen waren, und er trat in ihre Mitte und sprach: Friede sei mit euch! Dann sagt er zu Thomas: Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagt zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht mehr sehen und glauben! Amen