Nicht sehen und doch glauben

Johannes 20,19–29

Predigt am 07.04.2024 in der EMK Adliswil

Copy­right: Bilder­saal EMK

ich habe Anfang Woche ein Mail erhal­ten. Darin hat mir jemand aus­führlich von ein­er anderen EMK-Gemeinde erzählt. Es ist von vie­len Prob­le­men die Rede. Aber der Bericht endet dann so: Unsere Gemeinde würde es, men­schlich gese­hen, in dieser Form nicht geben nach allen Prob­le­men, die wir in den let­zten Jahren hat­ten. Und doch gibt es sie. Sie ist lebendig und Vie­len eine Heimat. Ostern — Aufer­ste­hung, das Ende der Hoff­nungslosigkeit, wenn auch anfänglich gar nicht wahrgenommen.“

Wir haben am näch­sten Don­ner­stag Bezirksver­samm­lung. Sie haben die Berichte vielle­icht schon gele­sen. Die Zahlen zu den Finanzen mitgenom­men und studiert. Und dabei wohl ent­deckt: Es gibt Her­aus­forderun­gen, Sor­gen und Fra­gen. Die Zukun­ft unseres Gemein­de­bezirks mag – men­schlich gese­hen – kurzfristig gesichert sein. Mit­tel­fristig ste­ht sie min­destens auf wack­li­gen Füssen. Und langfristig? Na ja, sagen wir mal so: Würde jemand wet­ten, dass es den Gemein­de­bezirk in zehn Jahren noch so gibt? – Das wäre men­schlich gese­hen riskant. Anze­ichen eines neuen Auf­schwungs drän­gen sich ja nicht auf.

Aber wir kom­men von Ostern her, von der Aufer­ste­hung Christi. Sie ste­hen für die Hoff­nung: Es gibt eine Zukun­ft! Es gibt einen Neuan­fang! An Kar­fre­itag war die Sit­u­a­tion so hoff­nungs­los, wie es nur möglich ist. Und doch fol­gte darauf Ostern! Wagen wir es, darauf zu ver­trauen? Ger­ade im Blick auf unser Miteinan­der-Gemeinde-sein? Riskieren wir es, auf Chris­tus zu zählen? Auf das Leben, dass er weckt und schafft? Auch bei uns?

Wir sind – das macht den christlichen Glauben vielle­icht etwas ‚ver­rückt‘ – aufge­fordert, auf die Kraft der Aufer­ste­hung zu ver­trauen. Auch wenn davon bei uns aktuell wenig zu sehen sein mag. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ So hat der Aufer­standene Chris­tus zum Jünger Thomas, dem soge­nan­nten ‚Zwei­fler‘ gesagt. Und so sagt er auch zu uns: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Thomas war mir schon immer beson­ders sym­pa­thisch. Ich füh­le mich ihm ein wenig ver­wandt. Weil er auch zu den Stilleren gehörte (weshalb man wenig von ihm weiss). Und weil er wohl ein gründlich­er, kri­tis­ch­er Denker war. Thomas liess sich nicht gle­ich ein U für ein X vor­ma­chen. Das hat ihm den Über­na­men ‚Zwei­fler‘ einge­bracht. Weil er sich nachzufra­gen getraute, als ihm zehn Jünger erk­lärten: „Jesus lebt! Wir haben ihn gese­hen!“
Wer war dieser Thomas? Ich habe ver­sucht, mich in ihn hineinzu­ver­set­zen. Stellen Sie sich vor, Thomas würde an mein­er Stelle auf der Kanzel ste­hen. Und er würde von sich erzählen:

Ich, Thomas, bin ein Jünger und Apos­tel Jesu Christi. So bekan­nt wie Petrus oder Johannes war ich nie. Gott sei Dank. Mir ist im Hin­ter­grund näm­lich wohler. Weil ich lieber zweimal nach­denke, bevor ich etwas sage. So falle ich halt weniger auf. Vielle­icht würde mich nie­mand ken­nen, wäre es nicht zu dieser Geschichte gekom­men: Extra für mich ist Jesus noch ein­mal zu uns gekommen.

Aber schön der Rei­he nach. Fan­gen wir vorne an: Meine Eltern waren nicht ger­ade stein­re­ich. Aber sie kon­nte es sich gut leis­ten, mich in die Schule zu schick­en. Sie ermöglicht­en mir eine gute Aus­bil­dung. Ich habe alles gel­ernt, was es zu ler­nen gab: Lesen, Schreiben, Rech­nen, Zeichen. Auch Sprachen habe ich gel­ernt. Vor allem Griechisch. Damals die Sprache der Gebilde­ten. – Das Ler­nen ist mir leicht gefall­en und hat mir Spass gemacht. Ich dachte: Wenn ich viel lerne, dann ver­ste­he ich die Welt bess­er. Dann komme ich auch im Leben bess­er zurecht.

Ich wollte alles wis­sen: Was es auf der Welt gibt. Warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum die Men­schen sich so ver­hal­ten, wie sie es tun. Und vor allem wollte ich wis­sen, wer und wie Gott ist. — Zwar war die römis­che Prov­inz Syrien-Palästi­na nicht ger­ade der Nabel der Welt. Gelehrte waren eher dünn gesät. Aber man kon­nte doch Lehrer zu find­en, die schon in Griechen­land und sog­ar in Rom waren. Auch die Schriften der grossen griechis­chen Denker waren vorhanden.

Ich habe alles gele­sen, was ich kriegen kon­nte. Math­e­matik habe ich gel­ernt. Mich mit den Ster­nen, mit Astronomie beschäftigt. Und die Kun­st der Rhetorik gel­ernt. Aber am meis­ten beschäftigte mich die Philoso­phie. Sie stellte die wichtig­sten Fra­gen: Was ist der Men­sch? Wie soll der Men­sch leben? Wie kann der Men­sch glück­lich wer­den? Was ist der Tod? Kön­nen wir die Wahrheit erkennen?

Selt­sam war nur: Je mehr ich las und je länger ich nach­dachte, desto ver­wirrter wurde ich. Die griechis­chen Philosophen rede­ten so anders über Gott als Mose und die Propheten Israels. Dabei waren sie sich alles andere als einig. Es gab unter­schiedliche philosophis­che Schulen. Die konkur­ren­zierten sich bei der Suche nach Wahrheit. Wer hat denn recht? Warum find­en Men­schen aus­gerech­net bei den grossen Fra­gen des Lebens nicht ein­deutige Antworten?

Auf lange Sicht half mir nicht, was ich alles gele­sen, gehört und studiert hat­te. Im Gegen­teil: Die Philosophen überzeugten mich nicht mehr. Ihre For­mulierun­gen klan­gen zwar wun­der­schön. Aber sie fühlten sich hohl an. Weit weg vom Leben. Ähn­lich ging es mir aber auch mit Mose und den Propheten. So viele Fra­gen blieben offen! Und erst die Wun­der, von denen die alten Schriften erzählten: Kon­nte das denn stim­men? — Alles schien so weit weg von meinem Leben.

Schliesslich nahm ich nur noch ernst, was sich sozusagen auf­drängte: Die Math­e­matik z.B. Sie war logisch und tolerierte keine Wider­sprüche. Mit dem Ver­stand kon­nte ich sie begreifen. – Dann die Freude am Essen und Trinken und an schö­nen Din­gen. Das war hand­fest, konkret. – Und meine Fre­unde waren wichtig: Mit ihnen kon­nte ich mich vergnü­gen und die Langeweile vertreiben. – Dabei blieb aber das Gefühl, dass etwas fehlte. Ich wollte an etwas glauben kön­nen, das mir Boden unter die Füsse gab. Aber ich wusste nicht, woran und wie.

Dann kam der Moment, als Jesus von Nazareth in die Nähe meines Wohnortes kam. Sehr viele gin­gen hin und hörten ihm zu. Sie erzählten begeis­tert von ihm. – Ich war natür­lich sehr skep­tisch: Ein Rab­bi aus Nazareth, ein klein­er Dorf­predi­ger? Was sollte der mir schon zu sagen haben? Die Leere in mir war aber gross genug, dass ich mich doch auch auf den Weg machte. Nur um auch mitre­den zu kön­nen. Und dann hörte ich Jesus reden.

Von Gottes Herrschaft sprach er. Davon, dass sie hier und jet­zt – mit­ten unter uns — wachse. Seine Ausle­gung des Geset­zes überzeugte. Auch sein Aufruf zu Liebe und Verge­bung. Heuchelei verurteilte er. Er brachte Gottes Liebe zu denen, die nie­mand son­st beachtet. Jesus predigte gegen Leben­sangst und bek­lem­mende Sorge an. — Und wie er erst mit den Men­schen umging! Er nahm alle ernst, die zu ihm kamen. Und staunend sah ich, wie Men­schen, die ihm ver­traut­en, an Leib und Seele gesund wurden.

Jesus war anders als alles, was ich bis dahin kan­nte. Vielle­icht auch deshalb, weil seine Worte von Tat­en begleit­et waren. Seine Tat­en erk­lärten seine Worte, und umgekehrt. Und plöt­zlich wusste ich: Bei ihm finde ich, was ich solange gesucht hat­te. So wurde ich sein Jünger, gehörte zum engen Kreis der Zwölf. Ein­fach war das aber nicht. Mit den anderen Jünger hat­te ich meine Schwierigkeit­en. Ok, mit Johannes kon­nte man reden. Aber die anderen? Einige von ihnen waren Fis­ch­er, die noch nicht ein­mal ihren eige­nen Namen schreiben kon­nten. Andere kamen von den Zeloten und hat­ten einen gewalt­tätigem Hintergrund.

Ich war wohl sehr über­he­blich. Bildete mir viel auf mein Wis­sen, auf meinen Ver­stand, auf meine Urteil­skraft ein. Und so wurde ich ein Aussen­seit­er unter den zwölf Jüngern. Mir schien, die anderen wären viel näher bei Jesus als ich. Sie kon­nten auch bess­er mit Men­schen umge­hen als ich. Wenn Leute zu Jesus kamen und eine Zeit warten mussten, sprachen sie eher mit den anderen als mit mir. «Wer ver­ste­ht mich schon?», dachte ich. Und manch­mal auch: «Worauf habe ich mich ein­ge­lassen? Ist Jesus wirk­lich so anders als alle anderen? Wer ist er eigentlich?» — Die Stimme der Zweifel begleit­ete mich noch immer.

Jesus begeis­terte nicht alle. Es gab auch Geg­n­er, sog­ar Feinde. Darum waren wir Jünger auch alles andere als begeis­tert, als er sagte: «Wir gehen zum Pas­safest nach Jerusalem.» Dort hat­ten näm­lich seine Geg­n­er die Ober­hand. Sie hat­ten Macht und Ein­fluss auf den römis­chen Statthalter.

Aber Jesus liess es sich nicht ausre­den. Viel Merk­würdi­ges sagte er in diesen Tagen. Dinge, die wir Jünger alle nicht ver­standen. Erst im Nach­hinein begrif­f­en wir dann, dass er von seinem Lei­den, Ster­ben und Aufer­ste­hen sprach. Bevor das geschah, waren wir wie Blinde. Und als es passierte, waren wir nicht nur blind, son­dern auch noch gelähmt — vor Angst. Jesus wurde ver­haftet, verurteilt und hin­gerichtet. Für uns bedeutete dies das Ende. Wenig­stens hat­ten wir in einem Haus gast­fre­undliche Auf­nahme gefun­den. Doch in diesem Haus sassen wir nun fest. Alle hat­ten Angst, dass jemand uns ent­deck­en kön­nte. Wenn wir dann als Anhänger Jesu angezeigt wor­den wären: Wer weiss, was mit uns hätte passieren können!

So ver­schlossen wir Türen und Fen­ster und ver­steck­ten uns. Die Tage und Nächte vergin­gen quälend langsam. Am drit­ten Tag, dem Son­ntag war, die Stim­mung war am absoluten Nullpunkt. Einige von den Frauen gin­gen zum Grab, um Jesu Leich­nam zu sal­ben. Unter uns Zurück­bleiben­den war die Atmo­sphäre zum Zer­reis­sen ges­pan­nt. Und irgend­wann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus. Egal, wie gefährlich das sein mochte. Und so ver­liess ich das Haus, irrte ziel­los in den Gassen Jerusalems herum, den ganzen Tag lang. Erst spät am Abend kehrte ich hun­grig und erschöpft zu den anderen Jüngern zurück. Doch es war merk­würdig: In ihren Augen leuchtete wieder Hoff­nung und Zuver­sicht. Der Schleier der Verzwei­flung schien zer­ris­sen … für sie, jedenfalls.

«Wir haben den Her­rn gese­hen!» sagten sie nur. Doch in mir blieb alles tot. So sehr wie in diesem Moment hat­te ich mich noch nie als Aussen­seit­er wahrgenom­men. Jesus sollte aufer­standen sein? Und er sollte die anderen besucht haben? Aus­gerech­net, als ich weg war? – Wie sollte ich das glauben kön­nen? Ich, mit mein­er Bil­dung und meinem Ver­stand, sollte dem Wort von Fis­ch­ern ver­trauen? Wie sollte ich mich in ein­er so wichti­gen Sache auf das Wort ander­er ver­lassen kön­nen? – «Nein», sagte ich darum. «Wenn ich ihn nicht selb­st anfassen kann — seine Wun­den spüren, in seinen Hän­den, an sein­er Seite — dann kann ich das nicht glauben.» Ich wollte Jesus nicht nur sehen. Ich musste ihn anfassen, begreifen. Nur so wäre das Unglaubliche fassbar.

Wir blieben vor­läu­fig in Jerusalem. Und ich blieb bei den anderen Jüngern. Obwohl ich es kaum aushielt. Das ständi­ge Reden davon, dass er lebe, aufer­standen sei, den Tod besiegt habe. Es wollte keinen Sinn machen für mich. Und doch blieb ich…

Eine Woche später, wieder am Son­ntag, passierte es. Wir waren beieinan­der. Die Türen waren ver­riegelt. Doch plöt­zlich war Jesus bei uns drin. «Friede sei mit euch!» sagte er. Und dann sah er mich an und sagte zu mir: «Leg deinen Fin­ger auf meine Hände, leg deine Hand auf meine Seite. Thomas, fass mich an! Begreife, dass es wahr ist, was du siehst und was du fühlst. Sei nicht ungläu­big, son­dern gläubig.»

Eige­nar­tig! Das musste ich gar nicht. Ich musste ihn nicht anfassen. Ver­mut­lich huschte ein Lächeln über mein Gesicht. In diesem Moment, als ich begriff, wie wenig meine Hände und meine Augen mir die Wahrheit beweisen kön­nen. Und wie wenig mein Ver­stand mich von der Wahrheit überzeu­gen kann.

«Mein Herr und mein Gott!», hörte ich mich sagen. Jet­zt war ich sich­er: Durch Jesus kommt Gottes Wahrheit zu mir. Und noch lange klang Jesus let­zter Satz in meinen Ohren nach: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!»

Das ist mir sei­ther ganz klar: Ich hätte dem Wort der anderen Jünger ver­trauen kön­nen ohne Jesus selb­st gese­hen zu haben. Denn den Glauben machen nicht unsere Augen oder unser Ver­stand. Den Glauben macht Jesus selb­st in uns. Ich hat­te nicht gezweifelt, weil ich nichts gese­hen hat­te, son­dern weil ich mich vor Jesus ver­schlossen hat­te, weil ich meine Bil­dung, meinen Ver­stand als Mass aller Dinge genom­men hat­te. Doch Bil­dung und Ver­stand haben mich nicht froh wer­den lassen. Son­dern der Glaube an Jesus Chris­tus, den Aufer­stande­nen. – Es kommt bis heute vor, dass mich Zweifel angreifen. Aber irgend­wie sind sie auf ver­lore­nen Posten. Denn immer wieder erlebe ich: Jesus weckt den Glauben in mir. Und dann sage ich mir wieder vor: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!» — So weit Thomas.

Jesus weckt Leben. Weckt Hoff­nung. Weckt Glauben. Schenkt neue Anfänge, wo das aus­sicht­los scheint. – Der Aufer­standene ist das per­son­ifizierte Aber auf all unsere Äng­ste, Sor­gen, auf unseren gut begrün­de­ten Pes­simis­mus. Wo es men­schlich gese­hen nicht mehr weit­er geht, hil­ft das Ver­trauen auf die Aufer­ste­hung. Es mag her­aus­fordernd sein. Aber es ist wichtig, ja entschei­dend! Darum: Vergessen wir nicht, in unserem Miteinan­der-Gemeinde-Sein auf die Kraft des Aufer­stande­nen zu bauen und mit ihr zu rech­nen!
Ganz zum Schluss lese ich jet­zt noch den Bibel­text, der dieser Predigt zugrunde liegt: Jh 20,24–29, in der Über­set­zung der Zürcher Bibel: Thomas aber, ein­er der Zwölf, der auch Didy­mus (=Zwill­ing) genan­nt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Her­rn gese­hen. Er aber sagte zu ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Hän­den sehe und nicht meinen Fin­ger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite leg­en kann, werde ich nicht glauben. Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drin­nen, und Thomas war mit ihnen. Jesus kam, obwohl die Türen ver­schlossen waren, und er trat in ihre Mitte und sprach: Friede sei mit euch! Dann sagt er zu Thomas: Leg deinen Fin­ger hier­her und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläu­big, son­dern gläu­big! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagt zu ihm: Du glaub­st, weil du mich gese­hen hast. Selig, die nicht mehr sehen und glauben!                  Amen

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