gehalten am 27.10.2024 in der EMK Adliswil

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Liebe Gemeinde,
wir leben in chaotischen, stürmischen Zeiten. In den Medien jagt eine Hiobsbotschaft die nächste. Es ist schwierig, zuversichtlich oder auch nur einigermassen entspannt zu bleiben, wenn man von Kriegen liest, von Korruption liest oder die Bilder von Überschwemmungen und Stürmen liest.
Vor diesem Hintergrund kann es gut tun, die Geschichte davon, wie Jesus auf dem See Genezareth einen Sturm stillte, zu lesen. Ich gehe heute so an sie heran, dass ich sie wie ein Gleichnis anschaue. Dabei wird die Geschichte zum Bild für unser Unterwegssein im Leben und Glauben: Das Leben gleicht dann einem Boot, unterwegs von einem Ufer zum anderen. Oft kreuzen wir damit Gott sei Dank in ruhigen Gewässern. Dann ist es leicht, darauf zu vertrauen, dass Gott mit uns ist. Doch der See kann rauh und stürmisch werden. Wir haben vielleicht mit Wellen und veritablen Stürmen zu kämpfen. Doch auch dann ist Christus an unserer Seite. Er verliert weder die Übersicht noch das Vertrauen. – Ich lese Markus 4,35–41:
I. Meer und Sturm — Sinnbilder unseres Lebens
Der See Genezareth ist mit 166 km2 fast doppelt so gross wie der Zürichsee. Kein Wunder also, dass er in einer ansonsten wasserarmen Gegend oft als Meer (galiläisches Meer) bezeichnet wurde. Dieses Meer wird in der Geschichte zum Symbol für unsere Lebenssituation. Schliesslich ist das Meer in der Sprache der Bibel oft ein Sinnbild des Chaos, der Bodenlosigkeit und des Hin- und Hergeworfenseins. Auf dem Meer wie im Leben verliert man leicht den Halt. Und wenn dann aber noch ein Sturm hinzukommt, wie sie auf dem See Genezareth aufgrund der speziellen geographischen Lage aus heiterem Himmel losbrechen können … ja dann wird es dramatisch. Der Sturm wirkt in dieser Geschichte ja wie ein Symbol für dramatische ‚äussere Umstände‘, auf die wir im Leben keinen Einfluss haben. Sie gehören einfach dazu und wir müssen schauen, wie wir damit umgehen können. Denn wir haben keine Wahl. Das Wissen um bedrohliche Wellen und Stürme draussen ändert nichts. Wir sind in dieses Leben geworfen. Unser Boot muss über das Meer.
Was also ist zu tun, wenn Wind und Wellen aufkommen? Die Geschichte zeigt: Zunächst sind wir selbst gefragt und herausgefordert. Es gilt, sich zu wehren und den Untergang zu vermeiden. Die Jünger rackern sich mit zunehmenderVerzweiflung ab, kämpfen mit schwindender Hoffnung gegen den Sturm an. Derweil schläft Jesus seelenruhig im Boot. Das irritiert die Jünger nicht nur. Es ärgert sie mehr und mehr. Ich verstehe das sehr gut. Es wäre mir kaum anders gegangen.
Selbst von wachsender Panik geplagt hätte ich auch nicht realisiert, dass es gute Gründe für Jesu Schlaf gibt: Zunächst war Jesus schlicht und einfach müde. Er hatte lange gepredigt und gelehrt, hatte sich in zahllose Begegnungen gegeben und vielen Menschen geholfen. Es lag ein anstrengender Tag hinter ihm. Dann war sein Schlaf mitten im Sturm ein beeindruckendes Zeichen von Jesu grenzenlosem Gottvertrauen. Und schliesslich wirkt es, als hätte Jesu Schlaf auch einen pädagogischen Zweck: Er wollte seine Jüngern damit etwas über den Glauben bzw. über sein unbegrenztes Vertrauen zu Gott lehren.
Was hilft bzw. bewirkt der Glaube im Sturm? – Die Jünger werden auf eine harte Probe gestellt. Sie können sich gegen die aufkommende Panik nicht wehren. Der verbliebene Rest ihres Glaubens bringt sie dahin, dass sie in ihrer Not zu Jesus hingehen, ihn wecken und um Hilfe bitten. D.h. also: Sie beten. Der Sturm soll aufhören, bevor ihr Glaube ganz zerbricht. – Der Glaube Jesu hingegen wirkt ganz anders. Absolutes Vertrauen in seinen himmlischen Vater lässt ihn so ruhig, gelassen, entspannt bleiben, dass er mitten im grössten Sturm seelenruhig schlafen kann. – Da gibt es also einen riesigen Unterschied: Während der Glaube der Jünger darauf zielt, den Sturm irgendwie loszuwerden, zeigt Jesu Vertrauen, dass man mitten im Sturm ganz im Frieden geborgen sein kann.
Wenn es so ist, dass Wind und Wellen zum Leben dazugehören (davon gehe ich aus), dann lohnt es sich, Jesu Beispiel als Vorbild zu nehmen. Dann müssen wir nicht lernen, Stürme wegzubeten, sondern das Fundament für inneren Frieden finden, dem kein Sturm etwas anhaben kann.
Darüber haben schon vor Jesus griechische Philosophen nachgedacht. Epikur z.B. meinte: „Nicht die Dinge an sich sind es, die uns beunruhigen, sondern das, was wir über diese Dinge denken.” Damit hat er wohl recht. Auf von aussen über uns hereinbrechende Bedrohungen haben wir keinen Einfluss. Darum ist, was in uns drin vorgeht, umso entscheidender. An unserem Glauben, Kleinglauben (so nennen es die anderen Evangelien) oder Unglauben (so Mk) entscheidet sich, ob und in welchem Ausmass der Sturm nicht nur um uns herum, sondern auch in uns drin tost und tobt. – Man kennt das: Manche Leute geraten aus geringstem Anlass in Panik, andere behalten noch im grössten Tohuwabohu einen kühlen Kopf. Das ist eine Frage der inneren Einstellung. Ein Sturm ist einfach ein Sturm. Wieviel Macht er über uns gewinnt, hängt davon ab, was wir darüber denken. Und ob unser Denken von Vertrauen geprägt ist oder von Angst.
II. Fragen über Fragen
Manchmal kommt man an den Punkt, wo es einen dünkt: „Jetzt reicht’s!“ Genau da waren die Jünger, als sie Jesus weckten. Die Kraft war aufgebraucht, die Hoffnung weg und in ihnen schrie es nur noch: ‚Warum greifst du nicht ein? Sind wir dir eigentlich egal? Warum machst Du nicht, dass es aufhört?‘ Diese Grunderfahrung wird nur wenigen auf ihrem Glaubensweg erspart: Christus ist anwesend und doch irgendwie weg, ein schlafender Passagier im Boot, der uns verzweifelt bis zur Erschöpfung rudern und schöpfen lässt. – Mit etwas Distanz zur Situation, von aussen gesehen, liesse sich wohl sagen: Das ist ein Art Glaubensschule! Aber wenn man mitten drin steckt, fühlt es sich einfach nur schlimm an. Und darum ist das aufgeregte, ja vorwurfsvolle Gebet der Jünger mehr als nur verständlich: «Lehrer! Macht es dir nichts aus, dass wir untergehen?»
Auf dieses Gebet reagiert Jesus dann auch. Das ist tröstlich. Er steht auf, bedroht den Wind und sagt zum Meer: „Schweig und verstumme!“ Und wunderbar: Der Sturm legt sich. – Also: Problem gelöst und alles wieder in Butter?
Naja, nicht ganz. Was im ersten Moment toll klingt, löst auf den zweiten Blick doch auch Fragen aus. Zum Beispiel:
- Was wäre eigentlich passiert, wenn Jesus auf die Bitten der Jünger nicht eingegangen wäre? Wenn er den Sturm nicht gestillt hätte? Wäre dann das Boot mit Jesus an Bord untergegangen? – Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Dazu kommt: Jesu Worte an die Jünger klingen, als hätte er dieses Wunder nur unwillig getan, weil sie ihn mit ihrem Gezeter genervt haben. Demnach wäre das Wunder gar nicht nötig gewesen.
- Wenn diese Überlegung stimmt, stellt sich als zweite Frage: Warum vollbringt Jesus dann das Wunder überhaupt? Warum stillt er den Sturm, obwohl das aus seiner Sicht gar nicht nötig gewesen wäre? – Er hätte die Jünger auch beruhigen können, sie weiter Wasser schöpfen und erleben lassen, dass ein Sturm zu überstehen ist. Das wäre vielleicht sogar die eindrücklichere (bzw. nachhaltiger) Glaubensschule gewesen.
- Schliesslich frage ich mich auch: Warum erleben manche Menschen wie die Jünger im Bibeltext so ein Wunder – und andere nicht? Warum legt sich bei den einen der Sturm, wenn sie beten, während er bei anderen ungebremst weitertobt? Warum erleben manche Menschen Wunder und andere müssen ohne auskommen?
Nun gut, die letzte Frage muss wohl offen bleiben. Für eine Antwort müssten wir die Prinzipien göttlicher Pädagogik durchschauen. Doch das tun wir nicht. Manchmal habe ich vielleicht den Eindruck, zu glauben wäre einfacher, wenn ich erklären könnte, warum Gott am einen Ort eingreift und am anderen Ort nicht. Doch das dürfte eine Täuschung sein. Es ist wohl ein wesentlicher Aspekt unseres Glaubens, dass wir Gott zutrauen, dass er die besten Gründe für sein Handeln oder Nicht-Handeln hat. Ausserdem wird er auch gute Gründe haben dafür, warum er uns nicht alles erklärt. Es ist einfach so: Manchmal greift Gott ein und manchmal nicht.
In unserer Geschichte geschieht das Wunder: „Und der Wind legte sich, und es entstand eine große Stille.“ Das heisst: Nicht nur der Sturm schweigt. Auch die Jünger schweigen.
III. Beten aus Glauben oder aus Unglauben?
Es ist eigenartig, dass dieses Wunder geschieht. In der Regel gehen wir doch davon aus, dass Glauben mit im Spiel sein müsse, damit so etwas möglich ist. Jesus sagte oft zu einem Geheilten: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und umgekehrt heisst es, dass er in Nazareth kaum Wunder wirken konnte, weil die Leute dort nicht an Jesus glaubten (vgl. Mk 6,5). Aber in dieser Geschichte ist es anders. Zwar macht Jesus seinen Jüngern fehlenden Glauben zum Vorwurf (wörtlich: „Habt ihr keinen Glauben?“). Aber vorher lässt er sich genau von ihrer Panik bzw. ihrem Kleinglauben dazu bringen, den Sturm zu stillen … wenn auch ohne Begeisterung. Ohne den Unglauben der Jünger hätte Jesus seelenruhig weitergeschlafen. Jesus berührt und bewegt offensichtlich auch der Klein- oder Unglaube seiner JüngerInnen. Als ob es denkbar wäre, dass Gott auch einmal ein Wunder wirkt, um dem Glauben seiner Kinder überhaupt erst auf die Sprünge zu helfen.
Eigenartig ist darüber hinaus: Eigentlich tun die Jünger im Sturm auf dem Boot haargenau, was ihnen jeder Christ empfehlen würde: Sie wenden sich in ihrer Not an Jesus. Sie vertrauen nicht auf ihre eigene Kraft, sondern sie beten. Das ist doch vorbildlich! — Aber was macht Jesus? Er schimpft mit ihnen! Er lobt sie nicht dafür, dass sie ihn um Hilfe bitten. Sondern er fragt: „Muss das wirklich sein? Habt ihr noch nicht mehr Glauben?“
Das klingt, als wäre Beten ist nicht immer die beste Lösung. Ein Gebet kann zwar Ausdruck tiefen Glaubens sein. Aber es kann auch Unglaube dahinter stecken. Es muss kein Zeichen besonderer Frömmigkeit sein, bei jedem Anlass die Hände zu falten. Glaube kann auch bedeuten: Ruhig Blut bewahren und besonnen Handeln (® also: weiter Wasser schöpfen, das Ruder nicht loslassen im Sturm…). Im Vertrauen darauf, dass Jesus ja mit im Boot ist.
Damit will ich jetzt natürlich nicht sagen, dass wir womöglich zuviel beten würden. Nein, Jesus selbst hat sich immer wieder lange Zeiten des Gebets genommen. Und er hat seine Jünger gelehrt und angeleitet, das auch zu tun. Nicht die Tatsache, dass die Jünger beten (d.h. Jesus wecken und ihn um Hilfe bitten), ist ein Beweis ihres Unglaubens. Sondern das Problem ist ihre Einstellung. Ihr Gebet im Boot ist nämlich nicht ein Ausdruck des Vertrauens, sondern es entsteht aus panischer Angst. Ihr innerer Zustand ist total abhängig von den äusseren Umständen. Sie haben sich vom Sturm ins Bockshorn jagen lassen. Und das prägt dann auch ihr Gebet.
Dabei sollte es umgekehrt sein, wie Jesus mit seinem eigenen Beispiel zeigt. In der Mitte, im Herzen sollen aus der Beziehung zu Gott heraus Ruhe, Gelassenheit, Frieden dominieren. Dieser Freiraum soll nicht von äusseren Umständen abhängig sein. Unser Gebet soll das geistliche Zentrum sein, das von innen heraus uns selbst und anderes um uns herum prägt.
Wenn es anders herum läuft, so wie bei den Jüngern im Boot, wenn die Dinge um uns herum unser Gebet dominieren, dann läuft etwas schief. Dann sind wir fremdbestimmt und geben den äusseren Umständen den Platz frei, der eigentlich nur Gott gehört. Die Folge: Der Sturm tobt nicht nur um uns herum, sondern auch in uns drin. Es ist also wichtig, dass wir eine enge Verbindung mit Gott pflegen, unser Vertrauen so stärken und von da her beten lernen. Dann kann der Sturm aussen unser Herz nicht erobern, dann wird das Vertrauen nicht verdrängt. Dann bleibt Luft um durchzuatmen, Raum für Gelassenheit und Frieden.
Letztlich ist unsere innere Einstellung immer entweder von Angst oder von Vertrauen geprägt. Angst heisst: Ich lasse die Wellen und Stürme von aussen in mich hinein, und darum wird es in meinem Herzen kalt und eng (vgl. auch Petrus bei seinem vergeblichen Versuch, auf dem Wasser zu gehen; Mt 14,22–33). Vertrauen hingegen heisst: Sturm und Wellen können toben, wie sie wollen. Aber in mein Herz lasse ich sie nicht hinein. Es soll ein freier Raum des Vertrauens, eine Wohnung für Gott, ein Ort der Gelassenheit sein. Denn daraus wächst die Fähigkeit zu vertrauen und besonnen und konsequent zu handeln.
Glauben heisst: Das Menschenmögliche tun und gelassen bleiben, weil in meinem Herzen das Vertrauen lebt. Dieses Vertrauen entsteht und wächst durch das Gebet, durch die lebendige Beziehung zu Gott. So hat Jesus gebetet, wenn er sich morgens in die Berge zurückzog. Dabei hat er erlebt: Es gibt ein Fundament, das trägt und dem nichts, was uns von innen oder von aussen bedroht, etwas anhaben kann. Darum konnte Jesus sogar im Sturm ruhig schlafen. Seine Ruhe darf auch uns ruhig machen. Nicht im Sinne der Untätigkeit, sondern im Sinne der inneren Gelassenheit.
Am Schluss der Geschichte von der Sturmstillung steht im Mk-Ev eine Frage, sozusagen die Leitfrage durch das ganze Evangelium: „Wer ist der? Sogar Wind und Meer sind ihm gehorsam!” Sie fragen also nicht: Was ist da passiert? Oder: Was kann der? — Sie fragen: Wer ist dieser Jesus?
Diese Frage kommt aus ihrem Erschrecken ob dem erlebten Wunder. Vielleicht fällt es uns nicht auf Anhieb leicht, dieses Erschrecken nachzuvollziehen. Aber eigentlich ist es logisch: Wenn ich mich schon vor Wind und Wellen fürchte, dann ja wohl erst recht vor dem der noch stärker ist als Wind und Wellen? – „Wer ist der?” Doch der Schreck kann weichen, wenn wir uns bewusst machen, dass er derjenige ist, der uns den Zugang zur Liebe Gottes öffnet.
Er, der uns liebt, ist stärker als alles, was uns Angst machen kann: „Sogar Wind und Meer sind ihm gehorsam!” Damit haben wir allen Grund zum Vertrauen. Wind und Meer können nicht mehr mit uns tun, als Jesus ihnen erlaubt. – Nur, dieses starke, gelassene Vertrauen fällt uns nicht leicht. Manchmal erlebe und geniesse ich es für kurze Momente. Doch wie schnell schwappen wieder die Wellen in mein Boot. Äussere Umstände beginnen sich in mein Herz zu bohren und ich muss mich gegen aufkommende Panik wehren. Da bin ich den Jüngern im Boot auf dem See Genezareth doch sehr ähnlich.
Im Kopf wäre es mir ja schon klar: Christus ist stärker. Nichts kann mich aus seiner Hand reissen. Ich bin von ihm gehalten, bei ihm geborgen. Aber dass sich das wirklich nachhaltig und fest im Herzen verwurzelt (dass es auch emotional ‚verhebt‘), das schaffe ich nicht aus eigener Kraft. Ich muss deshalb immer wieder darum bitten, dass er mir das nötige Vertrauen schenkt, es hegt, pflegt und in meinem Herzen Wurzeln schlagen lässt. Dass er mir den Frieden schenkt, der Jesus im Sturm sogar ruhig schlafen liess. Ohne seine Hilfe komme ich auch nicht weiter als die Jünger im Boot: Dann wünschte ich mir nur, dass es endlich aufhört, dass Wind und Wellen sich legen. Dabei ist nicht das gar nicht das Entscheidende. Sondern es reicht, dass ich weiss und mich darauf verlasse: Jesus ist mit drin in meinem Boot. Amen