Predigt am 10.11.2024 in der EMK Adliswil
Liebe Gemeinde,
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe!“ Die Jahreslosung mag klar und eindeutig klingen. Und sogar methodistisch: Immerhin hat John Wesley immer wieder vom Glauben geredet, der in der Liebe tätig werden müsse.
Doch was heisst denn Liebe in der konkreten Situation? Wenn zum Beispiel einer an meiner Tür klingelt und um Geld bettelt. Er könne sein Bahnbillett sonst nicht bezahlen, erzählt er. Ich sehe ihm aber an, dass er das Geld sofort in Hochprozentiges verflüssigen wird. Wie geht dann Liebe konkret? – Oder wie ich einmal erlebte: Ein untergetauchter Asylbewerber, getrieben von Hunger und Kälte, strandet in der EMK Bülach. Wie verhalte ich mich ihm gegenüber liebevoll? Natürlich gab ich ihm etwas zu Essen und liess ihn sich aufwärmen. Aber nachher? Sollte ich ihn bei den Behörden melden, denen er entwischt ist? Oder sollte ich ihm, wie er sich wünschte, helfen, sich doch noch ganz nach Deutschland durchzuschlagen?
Wie funktioniert die Liebe, von der Jesus spricht? Muss ich womöglich aus Liebe manchmal Regeln brechen? – Genau darüber hat Jesus immer mit seinen jüdischen Zeitgenossen gestritten. Viele hielten nicht aus, wie locker er um der Leibe willen über heilige Gebote hinweg ging.
Es ist kompliziert. Alles in Liebe geschehen zu lassen, heisst: Dem Vorbild Jesu zu folgen. Das kann aber in Konflikte führen, auch in Konflikte damit, was als Gottes Gebote angesehen wird. Beispielhaft dafür steht Jesu Umgang mit dem Sabbatgebot. Ich lese Markus 2,23–3,6 :
Warum war den Juden ausgerechnet das Sabbatgebot so wichtig? Der Sabbat war im babylonischen Exil zum Identitätsmerkmal geworden: Wer in der Verbannung den Sabbat einhielt, gehörte zum Volk Israel. Auch später, zurück in Palästina, blieb das Halten des Sabbats wichtigster Ausdruck der Zugehörigkeit zu Israel. Wegen der Sabbatfrage hatte es Märtyrer gegeben. Und Kriege waren verloren gegangen, weil sich Gläubige weigerten, am Sabbat zu kämpfen.
Die Römer begriffen, wie ernst es den Juden war mit dem Sabbat. Ihr Recht erlaubte: Israel durfte als einziges der unterworfenen Völkern am Sabbat frei machen. Eine einzigartige Errungenschaft für den Gottesglauben. Darum wurde so genau auf darauf geachtet. Und es fiel sofort auf, wenn einer den Sabbat brach, z.B. dass Jesu Jünger an diesem Tag unterwegs Ähren abrissen und die Körner assen. Das war damals am Sabbat verboten.
Die Bedeutung des Sabbatgebots damals zeigen auch weitere Regeln: Ein Pharisäer durfte am Sabbat nicht mehr als 2‘000 Schritte gehen. In der Gruppe in Qumran gab es zeitweilig sogar ein Verbot, am Sabbat die Toilette zu benützen. Und man stritt sich ernsthaft darüber, ob man ein Ei essen dürfe, das am Sabbat gelegt worden war. Am Sabbat durfte man nichts, was irgendwie mit Arbeit in Verbindung stand. Ärzte durften auch nur akut lebensbedrohliche Krankheiten behandeln. Manche Schriftgelehrten wollten selbst das unterbinden und argumentierten: Wenn einer am Sabbat sterbe, sei es eben der Wille Gottes. Jemand, der in einen Brunnen gefallen war, durfte am Sabbat nur gerettet werden, wenn er sonst ertrank.
Aus heutiger Sicht wirkt das alles total übertrieben. Eigentlich ist es ziemlich normal. Jede religiöse Gruppierung pflegt doch ihre Lieblingsgebote. Dabei merkt man merkt kaum, wo und das Ganze ins Absurde zu kippen beginnt.
Dass Jesus den Sabbat nicht so wichtig zu nehmen schien, provozierte viele ernsthaft Gläubigen. Um die Provokation zu verstehen, müssen wir vielleicht über Gebote nachdenken, die uns näher liegen. Die Frage ist: Ab wann ist für uns ein bestimmtes Gebot gebrochen? Was geht gar nicht?
- Du sollst nicht töten (5. Gebot): Bedeutet eine Abtreibung den Bruch dieses Gebotes? Bricht man es, wenn man Militärdienst leistet in einer Armee, die seit Jahrhunderten keinen Krieg geführt hat? Oder bedeutet gar schon der Verzehr von Fleisch einen Bruch dieses Gebots?
- Du sollst nicht ehebrechen (6.Gebot): Ist damit Scheidung verboten? Oder jedenfalls eine zweite Heirat Geschiedener aus? Was ist mit vorehelicher Sexualität? Geht Ehe nur zwischen Mann und Frau? Etc.
- Du sollst nicht stehlen (7.Gebot): Ist unser Wohlstand gestohlen, auf Kosten der Armen in der sogenannten Dritten Welt?
Das sind sind einerseits biblische Gebote. Andererseits ist ihre Interpretation oft Merkmal einer Gruppenidentität. Wie leicht passiert es sogar, dass ein ‚Lieblingsgebot‘ zum Massstab für wahres und falsches Christentum wird.
So beginne ich zu ahnen, was in den Pharisäern und Schriftgelehrten damals vorging. Und ich merke: Wenn Jesus das in meinen Augen wichtigste Gebot brechen sollte, könnte auch ich leicht zu seinem Gegner werden.
Wie reagiert Jesus auf die Einwände? Interessanterweise greift er ein Beispiel aus der Bibel. Dabei bringt das oft wenig. Wenig ist aussichtsloser als auf einen Punkt fixierten Frommen mit Bibelversen zu konfrontieren, die nicht in ihr Überzeugungssystem passen. Aber vermutlich argumentiert Jesus auch mehr für seine JüngerInnen. Er verweist auf ein Beispiel aus Davids Geschichte. Der hatte sich am heiligen Brot in der Stiftshütte bedient, weil er und seine Jünger Hunger hatten. Jesus zeigt so: Schon das AT lässt Ausnahmen zu bei seinen eigenen Regeln.
Damit sagt er eigentlich: „Wenn ihr schon biblisch sein wollt, dann seid es, bitteschön, richtig! Wenn ihr schon die Bibel zitiert, dann pickt nicht nur heraus, was euch gerade passt, sondern bedenkt die ganze Bandbreite der biblischen Botschaft!“ Sonst sitzt ihr schnell in der typischen Falle für fromme Menschen: Man will ein Leben nach dem Willen Gottes leben und liest deshalb viel in der Bibel … was mehr als nur richtig ist. Dabei trifft man eine Auswahl, gewichtet Themen und Aussagen. Auch das ist nicht falsch, sondern nur normal. Aber man gibt sich keine Rechenschaft darüber, wie man gewichtet hat und verwechselt das eigene Verständnis, die eigene Interpretation mit der vollen biblischen Wahrheit.
Es ist nämlich so. Jeder, der in der Bibel liest, trifft eine Auswahl und nimmt eine Gewichtung vor. Wir alle brauchen dazu bestimmte Filter, geprägt u.a. durch unsere Erziehung, durch die Gemeinde/Kirche, in der wir uns bewegen, etc. So sind wir dann manchen Punkten ausgesprochen ‚biblisch‘, während wir andere Gebote der Heiligen Schrift geflissentlich, vielleicht unbewusst, ignorieren. Ich mache ein paar unverfängliche Beispiele: Niemand käme heute noch auf die Idee, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten, nur weil das eben so in der Bibel steht. Niemand würde heute eine Frau vom Gottesdienst ausschliessen, weil sie gerade ihre Tage hat. Wir halten auch sehr viele biblische Speisegebote nicht mehr ein. Und natürlich kämen wir nie auf die Idee, jemanden zu steinigen, weil er das Sabbatgebot gebrochen hat. Das ist auch alles richtig so. Aber dann können wir die Bücher, in denen das alles steht, auch nicht unbesehen als letzte Autorität zitieren, wenn es um unsere Lieblingsthemen geht.
Jesus weigert sich, selektiv mit der Bibel umzugehen. Er nimmt die ganze Bibel wahr und weist darauf hin (was eigentlich offensichtlich ist, die Schriftgelehrten in ihrer verengten Sicht aber nicht mehr wahrnehmen): Die Bibel selbst kennt Ausnahmen, nicht nur zum Sabbatgebot, sondern auch zu vielen anderen Geboten.
Und dann sagt Jesus etwas ganz Wichtiges. In den Ohren der Schriftgelehrten muss das radikal, revolutionär geklungen haben: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ – Das ist die Bestätigung: Es geht gar nicht um den Sabbat. Es geht überhaupt um den Umgang mit Gottes Geboten.
„Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen!“ Dieser Satz ist so provokativ, dass Mt und Lk ihn schlicht wegliessen, vielleicht aus der Befürchtung: Wo kämen wir denn hin, wenn wir damit ganz ernst machen würden? Das bringt ja alles ins Wanken!
Doch für Jesus ist ganz entscheidend: Gott hat uns Gebote und Regeln nicht gegeben, um uns in Schranken zu weisen. Die Gebote sollen vielmehr eine Hilfe zum Leben sein. Darum, wenn in einer Situation ein Gebot nicht hilft, dürfen wir nicht nur, sondern müssen es vielleicht sogar übertreten. In aller gebotenen Demut Gott gegenüber. Und sicher nicht, weil ein Gebot an sich schlecht wäre. Aber weil es keine Regel gibt, die immer und in allen denkbaren Situationen gut und richtig wäre. In manchen Fällen darf man den Sabbat brechen. Oder: Bei aller gebotenen Ehre Vater und Mutter gegenüber kann es Situationen geben, in denen man ihnen den Gehorsam verweigern muss. In Extremfällen (Notwehr; Widerstand gegen eine Diktatur) mag vielleicht sogar das Tötungsverbot zur Disposition stehen. Darüber hinaus sind viele Situationen im Leben so komplex, dass darin ein Gebot gegen ein anderes stehen kann. Da kommt man dann mit einem einfachen „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ nicht mehr weiter, sondern muss abwägen, was die Liebe fördert.
Um recht verstanden zu werden: Es geht überhaupt nicht um eine generelles Auflösen von Geboten. Wir sind dringend angewiesen auf Regeln, damit unser Leben und Zusammenleben einigermassen gelingen kann. Und die biblischen Gebote sind erfahrungsgemäss in den allermeisten Fällen hilfreich. Regeln und Gebote abzuschaffen wäre dumm. Aber es gibt etwas, das über den Geboten steht: Die Liebe. So lange die Gebote die Liebe fördern, sind sie gut. Wo sie der Liebe im Weg stehen, stossen sie an ihre Grenzen und sind unter Umständen zu übergehen.
Die entscheidende Frage ist dann natürlich: Wer entscheidet, wann ein Gebot einzuhalten ist und wann nicht? Jesus sagt dazu: „Der Menschensohn ist ein Herr auch über den Sabbat!“ – Wenn Jesus vom ‚Menschensohn redet‘ (der Begriff kommt in den Evangelien 82mal vor), dann meint er damit oft sich selbst als Messias. Rein sprachlich kann ‚Menschensohn‘ aber auch einen beliebigen Menschen bezeichnen. – „Der Menschensohn ist ein Herr auch über den Sabbat!“ Das heisst also einerseits, dass Jesus Christus über dem Gesetz steht. Es deutet andererseits aber auch an, dass unter Berufung auf Jesus jeder Mensch autorisiert ist, sich je nach Situation und falls es die Liebe gebietet über ein Gesetz hinwegzusetzen.
Da kommt nun eben unsere Eigenverantwortung ins Spiel und das macht die Sache schwierig und anstrengend. Es gibt keine ausformulierten Regeln, wann allenfalls um der Liebe und um Christi willen ein biblisches Gebot übertreten werden darf oder sogar muss. Wir haben die Verantwortung und die Pflicht, nicht einfach blind nach dem Buchstaben des Gesetzes zu handeln und zu entscheiden. Vielmehr sind wir herausgefordert, in konkreten Situationen zu unterscheiden, ob ein Gebot hilfreich ist und die Liebe fördert oder nicht. Und wir müssen – und können im Vertrauen auf einen gnädigen Herrn – dann auch geradestehen dafür, wie wir entschieden haben.
Den Schriftgelehrten damals ging das alles viel zu weit. Darum beschlossen sie, Jesus zu töten und gingen dafür ein Komplott mit den Herodianern ein. Was für ein Widerspruch! Jesus gegenüber auf den Buchstaben des Gesetzes pochend vergehen sie sich also selbst gegen den Wortlaut eines Gebots (5.Gebot: Du sollst nicht töten) … und das ausgerechnet an einem Sabbat. Was für eine Ironie! Sie werfen Jesus vor, am Sabbat Gutes zu tun und tun selbst Böses. Und nehmen den schreienden Widerspruch selbst nicht einmal wahr. Sie tappen in die Falle vieler Radikaler, Extremisten: Mit einem Finger auf andere zeigend merken sie nicht, das dabei drei Finger sie selbst zurückweisen. – Traurig, aber wahr: Wer Gebote und Regeln über den Menschen, über die Liebe stellt, beschränkt, ja zerstört letztlich immer Leben.
Bemerkenswert ist, dass die religiösen Machthaber ausgerechnet in diesem Moment beschliessen, Jesus zu töten. Das zeigt nämlich: Es war sein Eintreten für unsere Freiheit, die Jesus das Leben gekostet hat. Diese Freiheit ist darum sehr hoch einzuschätzen und darf nicht leichtfertig wieder preisgegeben werden. Sonst wäre der Tod Jesu letztlich sinnlos gewesen. Paulus sagt in 1. Korinther 7,23: „Ihr seid teuer erkauft. Darum werdet nie wieder Knecht von Menschen!“ Und in 2. Kor 3,7 heisst es: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig!“ – So schwierig und anstrengend es in der konkreten Situation auch sein mag: Nicht die Buchstaben der Gebote sollen uns leiten, sondern der Geist der Liebe, aus dem Jesus selbst gelebt hat und an dem er uns durch den Glauben Anteil gibt. Darum hat Jesus von der Liebe geredet, als er nach dem höchsten Gebot gefragt wurde. Und darum schreibt Paulus von Glaube, Hoffnung und Liebe und schliesst mit der Feststellung: „Aber die Liebe ist die grösste von ihnen!“
Abschliessend bin ich Ihnen wohl noch die ‚Auflösung‘ meiner Eingangsbeispiele schuldig. Wobei ‚Auflösung‘ das falsche Worte ist. Ich kann erzählen, wie ich mich in den konkreten Situationen entscheide bzw. entschieden habe, wie ich meine Verantwortung wahrzunehmen versucht habe. Allerdings bin ich alles andere als sicher, ob dabei immer das Richtige herauskommt.
- Wenn es an der Tür klingelt und jemand Geld will … : Mir klingt es in diesen Momenten oft sehr laut in den Ohren: ‚Gebt, so wird euch gegeben werden!‘ oder auch: ‚Was ihr einem von diesen meinen geringsten Geschwistern getan habt‘ das habt ihr mir getan!‘ Mir ist aber auch bewusst, dass Almosen jemanden darin bestärken können, in einer Situation/Haltung zu bleiben, aus der er besser heraus sollte. – Oft gebe ich deshalb nichts. Manchmal gebe ich etwas Kleines, um eine originelle Geschichte zu honorieren. Selten gebe ich etwas mehr unter dem Eindruck, das sei im Moment wirklich nötig. – Ob ich jeweils das Richtige tue, weiss ich nicht und oft bleibt so oder so ein flaues Gefühl im Magen. Und letztlich kann ich dann nur beten und sagen: Herr, ich versuche nach bestem Wissen und Gewissen gut und liebevoll zu reagieren. Mach Du doch bitte das Beste daraus!‘
- Den Asylbewerber habe ich schliesslich den Behörden gemeldet und war dann sehr dankbar, dass ein Polizist kam, der behutsam mit ihm umging und ihn zurück dahin brachte, wo er untergetaucht war. Ob es das Richtige war, weiss ich auch heute nicht sicher. So bleibt mir auch hier schliesslich nur das Gebet: Herr, lass mein Handeln zum Guten dienen.
Ich versuche mich, nach Jesu Vorbild an den Menschen und der Liebe zu ihnen zu orientieren. Dabei helfen mir biblische Regeln sehr oft weiter. Manchmal – selten – stelle ich mich, wie ich meine um der Liebe willen, in Widerspruch dazu (so wie Jesus beim Sabbatgebot). Gerade dann bete ich intensiv darum, dass Gott aus meinem Reden und Tun etwas Gutes werden lässt. Und gerade dann bin ich äusserst dankbar dafür, dass Jesus Christus auch mir selbst gegenüber nach dem Motto handelt ‚Menschen sind wichtiger als Regeln‘, dass ich also auf seine Gnade vertrauen kann. Amen